Ich begann meine Laufbahn als Ermittlerin gleich nach meinem dreißigsten Geburtstag. Davor war ich fünf Jahre Pflichtverteidigerin gewesen. Ich hatte mein Quantum an Deals mit der Anklage hinter mich gebracht und zahllose Male versucht, die jämmerlichen Ärsche von jämmerlichen Tunichtguten zu retten. Ich hatte auch oft genug erlebt, wie haltlose Fälle von Polizei und Staatsanwaltschaft durchgepeitscht wurden: Der Staat Illinois vergütet den Gerichten hohe Verurteilungsraten, nicht etwa hohe Aufklärungsraten. Oft genug war ich die winzige Nagelschere gewesen, die an einer längst geknüpften Schlinge herumschnippelte.
Es machte mich damals rasend, dass der Makro-Abschaum fast immer ungeschoren davonkam, die Macher in der Politik, die guten alten Seilschaften, die Broker und die Banker. Gelang es tatsächlich mal, einen davon anzuklagen, dann verfügten sie über bodenlose Geldreserven für Anwälte und Ermittler. Meine Klienten hingegen mussten sich meine Aufmerksamkeit in ein und derselben Anhörung mit mindestens zwanzig anderen teilen.
Ich stellte mir vor, als Einzelkämpferin ohne einen Boss mit politischen Ambitionen, der mir vorschrieb, wer zu retten und wer zu verurteilen war, könnte ich die wahren Schädlinge zutage fördern, die sich im Schatten versteckten. Als ich meine ersten Geschäftskarten zu sehen bekam, war ich so aufgeregt, dass ich sie an Passanten auf der Wabash Avenue verteilte: Ja! V. I. Warshawski, Privatdetektivin, würde dafür sorgen, dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nahm wie ein reißender Strom!
Ab und an klappte das sogar, aber meistens fühlte ich mich wie ein Kind, das mit einem Teelöffel Wasser in die Wüste trägt.
Ich würde Murray beispringen, weil wir alte Freunde mit einer langen Vorgeschichte waren. Ich würde ihm helfen, denn Lydia Zamirs Schicksal war eine nur allzu geläufige amerikanische Tragödie: Sie hatte einen Massenmord überlebt, aber sie war davon grässlich versehrt.
Ich würde ihm unabhängig von Geld und etwaigen Folgen auch deshalb helfen, weil ich mich der unbehaglichen Einsicht stellen musste – ein Schlingern in meiner Magengrube –, dass ich für das Desaster von heute früh mitverantwortlich war. Ich war es, die Murray von Zamir erzählt hatte. Und ich war selbstgerecht gewesen, als ich ihm von meinem hohen Ross aus vorhielt, sich schnöde verkauft zu haben. Im Grunde hatte ich ihn dazu angestachelt, seine große Enthüllungsstory zu schreiben.
Ich würde tun, was ich konnte, um sie aufzuspüren und ihr zu helfen, aber eins ging mir extrem gegen den Strich: Wenn ich erfolgreich war, würden die Bosse von Global sich damit beweihräuchern, als hätten sie was mächtig Nobles getan, und am großen Ganzen änderte sich rein gar nichts. Die halbautomatischen Schusswaffen würden nicht von den Straßen verschwinden, und nichts würde dafür sorgen, dass Lydia und Tausende andere Anschlaggeschädigte die Letzten waren, die solch irrwitzige Gewalt miterleben mussten. Unterm Strich waren und blieben sie nichts als Päckchen auf einem Fließband des Todes.
Meine Mitpächterin Tessa Reynolds kam in unser gemeinsames Bad spaziert, als ich mit gerunzelter Stirn in den Spiegel starrte.
»Warshawski, wenn du mich so angucken würdest, würde ich auf der Stelle gestehen.«
Ich versuchte zu grinsen, doch stattdessen erzählte ich ihr, was mir durch den Kopf ging.
Tessa schaute mich nüchtern an. »Sieh es mal so, Vic: Vielleicht bist du nur ein Tropfen in einem Fass – oder ein Teelöffel in der Wüste –, aber da sind ein paar zarte Pflänzchen, die sterben, wenn dein Teelöffel fehlt. Geh ins La Llorona und gönn dir eine Schüssel Tortillasuppe, und dann mach dich wieder ans Löffeln und Begießen. Ach, und schließ die Badezimmertür ab, wenn du deine Ruhe haben willst.«
Diesmal grinste ich. Und ging die Straße runter ins La Llorona. Tessa und ich hatten unser Lagerhaus bezogen, als auf diesem Abschnitt der Milwaukee Avenue noch vorwiegend Latinos lebten, ein altes Arbeiterviertel. La Llorona gehörte zu den wenigen Überlebenden der Invasion aus Boutiquen, Loft-Apartments und schicken Restaurants. Es war ein gemütlicher oller Laden, wie die Diner meiner Kindheit, wo alle Stammgäste sich mit Namen kannten. Mrs. Aguilar brachte mir Suppe und ein Glas von ihrer selbstgemachten Limo. Wir plauderten über unsere Familien und gemeinsame Bekannte.
Anschließend sprühte ich zwar nicht gleich vor Jagdeifer, aber ich war wieder bereit, der Welt ins Gesicht zu sehen. Ich setzte mich auf eine Bank vor dem Café und telefonierte die Krankenhäuser an der South Side durch. In der Rolle der besorgten Schwester fragte ich erst namentlich nach Lydia und dann nach eingelieferten Unbekannten. Nicht mal das Provident gab an, heute eine ›Jane Doe‹, eine Namenlose reinbekommen zu haben. Wenn Lydia verschwunden war, ohne behandelt zu werden, mochte das nachvollziehbar sein, aber Sorgen machte es mir trotzdem.
Die Frühschicht würde noch eine Stunde im Dienst sein. Ich joggte die Straße rauf zu meinem Wagen. Der Verkehr war vorhersehbar dicht, aber ich schaffte es zum Krankenhaus mit 25 Minuten verbleibender Zeit.
Ich ließ den Haupteingang links liegen und begab mich direkt zur Notaufnahme, die an einem Nachmittag unter der Woche gerammelt voll war, weil das US-Gesundheitssystem es so vorgibt: Wenn du arm bist, kannst du in die Notaufnahme gehen, aber nicht zum Arzt.
Die Frau am Aufnahmeschalter war erfahren, aber abgekämpft. So viele Leute waren heute durch ihre Hände gegangen, so viele rissen sich jetzt noch um ihre Aufmerksamkeit – darunter auch ich –, dass sie Mühe hatte, ihr Gedächtnis zurück zu den Katastrophen des Morgens zu lenken. Sie rief einen der Notfallsanitäter, der von hinten angeschlurft kam, genauso fertig wie sie.
Ich hatte mir die Fotos aus Murrays Story heruntergeladen, die ich dem Sanitäter jetzt zeigte. Er war auf der Hut, fand, er sollte besser seine Vorgesetzte holen.
»Bitte glauben Sie mir, ich bin absolut nicht auf einen Prozess aus«, beteuerte ich. »Lydia quält sich seit Jahren mit einem psychischen Trauma. Wir kriegen sie nicht dazu, Hilfe anzunehmen, aber solange wir wussten, wo sie ist, konnten wir wenigstens ein Auge auf sie haben, dafür sorgen, dass sie es im Winter warm hatte und Unterstützung in Anspruch nehmen konnte, falls ihr danach war. Jetzt hingegen – die Stadtreinigung hat ihren Unterschlupf beseitigt, und wir wissen nicht, wo sie steckt. Bitte – wenn sie hier war, wenn sie weggegangen ist –«
Ich spreizte die Hände, flehend, verzweifelt.
Der Sanitäter und die Aufnahmeschwester tauschten einen Blick, ein kaum merkliches Nicken. Der Sani rief Lydias Eintrag auf seinem Tablet auf. Jane Doe, um 08:03 Uhr mit dem Rettungswagen reingekommen. Auf den älteren Bildern konnten sie sie nicht erkennen, aber die Obdachlose aus der Unterführung war definitiv die Patientin. Sie hatte nicht gesprochen, hatte die Fragen nach ihrem Namen, ihrem Alter oder dem Wochentag nicht beantwortet, aber es gab keine sichtbaren Anzeichen einer Verletzung oder eines Schädeltraumas.
»Wir wollten sie zur MRT ins Stroger schicken – wir haben ja hier keine Radiologie –, also wurde ihre Rolltrage zum Transport in den Korridor gebracht, aber als wir nach rund einer Stunde wiederkamen, war sie weg.«
Stroger war das Zentralkrankenhaus von Cook County.
»Wissen Sie, was sie anhatte?«, fragte ich.
»Einen Krankenhauskittel, als wir sie zuletzt sahen. Ihre Kleidung stank, wir haben sie weggeworfen und ihr eine Tüte mit Jeans und einem T-Shirt aus unserem Spendenfundus unten in die Rolltrage gelegt, aber ich kann Ihnen nicht sagen, wie das T-Shirt genau aussieht. Sie hatte Läsionen an den Hüften, Blutergüsse am ganzen Körper. Eine Krankenpflegehelferin hat sie gewaschen und Salbe auf die Stellen getan.«
»Haben Sie eine Ahnung, wer sie holen gekommen ist?«, fragte ich. »Ich dachte, vielleicht mein Bruder – aber er sagt nein.«
Die beiden schüttelten die Köpfe. »Eine Patientin, die auch auf einen Transport gewartet hat, meinte, Ihre Schwester wäre aufgestanden und in Richtung Hauptgebäude gegangen, aber dann hätte sie eigentlich jemand aufhalten müssen. Jedenfalls, wenn sie sich nicht vorher angezogen hat. Irgendwer anders hat erzählt, ein Mann wäre reingekommen und hätte sie auf den Armen rausgetragen. Tut mir leid – aber wir sind so unterbesetzt und überfüllt …« Sie zeigte in Richtung Warteraum.
Die Schicht wechselte, die Ablösung musste eingewiesen werden, die grimmigen und ängstlichen Massen von Patienten verlangten Aufmerksamkeit. Höchste Zeit, dass ich ihnen dankte und ging.
Zwei verschiedene Versionen von Lydias Abgang. Ich persönlich tippte auf den Mann, der ihren zerbrechlichen Körper von der Rolltrage gehoben hatte. Dürfte sich um Coop handeln. Er hatte mich aufgesucht, seine Wut rausgelassen, dann war er zurück zur South Side gebraust. Er musste ein Auto haben, um mit seinem großen Hund durch die Stadt zu kommen.
Ich fuhr rüber zur Unterführung an der Forty-seventh Street, um zu sehen, ob Zamir vielleicht zurückgekommen war. Aber Murray hatte recht – sie war spurlos verschwunden. Die Stadtreinigung hatte bei der Beseitigung ihres Nests ganze Arbeit geleistet, Wände und Gehweg mit einem Druckstrahler abgespritzt. Sogar die Graffiti waren weg. Das Einzige, was an Lydia erinnerte, waren drei kleine Blumensträußchen, die dort lagen, wo sie gespielt hatte.
Auf den Gleisen hatte die abendliche Stoßzeit eingesetzt. Die meisten Züge rasten vorbei, unterwegs zu den südlichen Vorstädten. Jedes Mal, wenn einer hielt, befragte ich die Aussteigenden, ob jemand die morgendlichen Ereignisse mitangesehen hatte. Von denen, die sich die Mühe machten, mit mir zu reden, war niemand bei dem Drama zugegen gewesen, aber alle hatten es im Laufe des Tages auf ihren Endgeräten gesehen.
Ich blieb noch eine Stunde auf dem Bahnsteig, um Pendler auf dem Heimweg abzufangen. Sie alle kannten Lydia vom Sehen, weil sie mindestens ein Jahr lang an ihr vorbeigekommen waren. Die Berichterstattung sorgte für deutliche Meinungsäußerungen zu ihrer Flucht auf die Gleise, zur Zerstörung ihres Zufluchtsorts durch die Behörden und zum kläglichen Versagen der Metra-Bahngesellschaft in Sachen Fahrgastsicherheit.
Ein paar Leute waren ganz auf ihr Gerät oder ihren Heimweg konzentriert, doch die meisten hörten mir bereitwillig zu, sobald klar wurde, dass ich etwas wusste, was nicht in den Nachrichten gewesen war, nämlich dass Lydia das Krankenhaus verlassen hatte.
Viele kannten Coop, mehr oder weniger, gut genug, um hallo zu sagen, wenn sie auf der Ufermeile an ihm vorbeiradelten oder -liefen. Aber niemand konnte mir seinen Nachnamen nennen oder sagen, wo er wohnte. Es klang fast, als wäre er ein Dschinn – immer wenn Lydia an ihrem Piano rieb, sprang er aus der Klaviatur.
Zwischen den Zügen setzte ich mich in den Wartebereich, raus aus der sengenden Sonne, beantwortete E-Mails und arbeitete halbherzig an meinen laufenden Aufträgen. Die Wände waren bedeckt mit den üblichen Graffiti sowie mit Kleinanzeigen für Altenpflege, Kinderhüten, Nachhilfeunterricht und Änderungsschneidereien.
Es gab auch einen Aushang von SLICK, der die nächste Stadtteilversammlung zum Landgewinnungsplan am Seeufer ankündigte. Die Schrift war allerdings so klein, dass eine argwöhnische Person glatt auf die Idee kommen konnte, sie wollten die Öffentlichkeit lieber nichts davon wissen lassen.
Bernie hatte mich hinbestellt, um Leo unterstützen zu helfen, und mir den Termin gesimst, aber ich hatte keine Lust gehabt und ihn gleich wieder vergessen. Zufällig fand die Versammlung heute Abend statt. Ich würde also doch hingehen – immerhin war ich schon hier. Und es war denkbar, dass Coop sich einfand.
Ich trottete die Forty-seventh Street entlang in Richtung des einstigen Bankgebäudes. Ich war schon wieder hungrig – die Tortillasuppe hatte nicht lange vorgehalten. Eins der neuen Restaurants in der Straße, African Fusion, war hell, sauber und voll. Einen besseren Leumund gab es ja wohl nicht.