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Auswärts essen

Ein abgehetztes Belegschaftsmitglied wies mich an, mir irgendeinen Platz zu suchen. Nur ein Tisch war frei, und ich hatte Glück, ihn zu ergattern.

Als ich dasaß und diskret die Speisen der Leute um mich herum beäugte, die schon aßen, merkte ich, dass neben mir am Ecktisch das Trio saß, das die vorige SLICK-Versammlung geleitet hatte. Ihr Tisch war komplett mit Papieren bedeckt, und als eine Kellnerin mit ihrem Essen kam, gestikulierte die Frau ungeduldig, sie solle alles auf meinem Tisch abstellen.

»Verzeihung – ich glaube nicht, dass Sie vorhatten, mir ein Abendessen zu spendieren«, sagte ich, was sie verdattert aufblicken ließ. Tatsächlich wiederholte sich das Szenario aus der Versammlung, denn nur der Mann, der mit dem Richterhammer geklopft hatte, und die Frau sahen mich an – der Typ, der sich neulich über seine Notizen gebeugt hatte, brütete weiter über einigen Karten des Seeufers.

»Mona, richtig?«, sagte ich. »Ich war auf der letzten SLICK-Versammlung. Glauben Sie, heute Abend wird es auch so aufregend?«

Der Hammermann blies die Backen auf und knurrte: »Besser nicht«, aber Mona sagte: »Sind Sie neu in der Nachbarschaft? Ich erinnere mich nicht, Ihnen hier schon begegnet zu sein.«

»Ich bin einfach bloß gern am See«, sagte ich. »Eigentlich versuche ich, den Mann namens Coop zu finden, deshalb wollte ich heute Abend kommen. Wissen Sie, wie man ihn erreicht?«

»Arbeiten Sie mit ihm zusammen?«, fragte Mona scharf.

»Dann wüsste ich doch wohl, wie ich ihn erreiche. Haben Sie vielleicht seinen Nachnamen oder eine Telefonnummer?«

»Worum geht’s hier?«, fragte der Hammermann.

Ich nahm ein Stückchen frittiertes Irgendwas aus einer ihrer Schüsseln vor mir. Normalerweise binde ich Leuten meine Absichten nicht auf die Nase, aber ich war mehr auf Hilfe aus als auf Feindseligkeiten.

»Die Obdachlose in der Unterführung, Lydia Zamir. Bestimmt haben Sie die Nachrichten über sie gesehen.«

Die Äderchen in Monas fleckigem Gesicht nahmen ein tieferes Rot an. »Ich habe mich seit fast einem Jahr bei der Gemeindeverwaltung und bei der Bahnaufsicht über sie beschwert. Es gibt Ratten und Waschbären in dem Wildnis-Streifen am Ufer. Dass sie da mit unverpackten Lebensmitteln herumsaß, war eine ständige Einladung für die Viecher, mehr zu fressen und noch mehr Nachwuchs zu werfen. Aber jedes Mal, wenn man sie ins Krankenhaus oder in eine Anstalt gebracht hat, ist sie abgehauen und prompt hierher zurückgekommen. Unterstützt von diesem Widerling Coop.«

Das frittierte Irgendwas war würzig, was ich mochte, aber pappig, was mir missfiel. Ich probierte einen Löffel vom Krautsalat, schön knackig mit einem angenehmen Beigeschmack von Erdnuss. Ich wollte eben einen ganzen gegrillten Fisch anschneiden, als es dem Hammermann auffiel.

»Sie essen ja unser Essen!«

»Es steht auf meinem Tisch rum und wird kalt«, sagte ich. »Ich dachte, Sie wollen es nicht mehr.«

Der Notizenmacher blickte endlich auf, als seine Kollegen sich das Essen schnappten und es auf ihren Tisch knallten. »Passt doch auf, ihr spritzt ja Soße auf die Karte. Das ist die, die Taggett mir gegeben hat – ich hatte keine Zeit mehr, eine Kopie zu machen!«

Er tupfte besorgt auf dem Dokument herum. Reflexionen der Deckenbeleuchtung machten es mir schwer, etwas zu sehen, aber ich konnte erkennen, dass es die Ufermeile abbildete. Eine dicke schwarze Line zeigte den jetzigen Küstenverlauf, gepunktete Linien ein Stück weiter rechts, der Zwischenraum orange und grün schraffiert, markierten wahrscheinlich die geplante Landgewinnung.

Mona sah mich gucken. »Das ist vertraulich! Simon, pack die Papiere weg, damit wir essen können. Taggett kommt ja heut Abend – wir können das doch nach der Versammlung mit ihm durchgehen.«

Gifford Taggett war Superindentent der Chicagoer Park­behörde. Wie in jeder städtischen oder Bezirksbehörde zählte bei solchen Posten, wen man kannte, und nicht, was man konnte. Taggett hatte als Mann der Demokraten im Stadtteilkomitee gedient, bei Deals um Straßenbauprojekte den Strohmann gegeben, Gegner der Mülldeponien in den Marschen der äußeren South Side aufgemischt. Als treuer Parteisoldat war er mit dem reichlich Vetternwirtschaft ermöglichenden Posten des obersten Park­aufsehers ansehnlich belohnt worden.

»Wenn die Karte der Parkbehörde gehört, ist sie sehr wohl zur öffentlichen Einsicht gedacht«, sagte ich. »Ich bin Steuerzahlerin hier in Cook County, also habe ich ein berechtigtes Interesse.«

»Das sind nur vorläufige Skizzen.« Nach einem letzten sorgenvollen Tupfen mit seiner Serviette rollte Simon die Karte rasch zusammen.

»Das sind also nicht die, die Ihr kleiner Leo bei der letzten Versammlung gezeigt hat?«

»Es ist ein iterativer Prozess«, sagte Simon steif. »Ein schrittweises Annähern von Bauzielen an die machbare Umsetzung. Nach dem heutigen Abend sollten wir einen Eindruck davon haben, in welche Richtung sich die öffentliche Meinung neigt.« Von einer ungeduldigen Mona unterstützt, schob er die anderen Papiere zu einem unordentlichen Stapel zusammen und legte ihn neben sich auf die Sitzbank.

Die gehetzte Kellnerin kam meine Bestellung aufnehmen. Ich deutete auf den knackigen Krautsalat und den gegrillten Fisch auf dem Tisch meiner Nachbarn, und sie eilte davon.

»Ach übrigens«, sagte ich, »Sie haben mir gar nicht gesagt, ob Sie nun gesehen haben, was heute Morgen mit Lydia Zamir passiert ist.«

Simon nickte. »Das war im Büro den ganzen Tag Thema Nummer eins. Die Metra-Verwaltung muss das Gelände einzäunen, damit nicht noch jemand auf die Gleise gerät.«

»Dann wissen Sie schon, dass sie vermisst wird?«

»Davon weiß ich nichts«, schnaufte der Hammermann.

»Ich habe die Stadtreinigung angerufen, und die sind mit einem Dampfstrahler angerückt, um endlich mal den Durchgang zu säubern«, sagte Mona. »Sollte sie da je wieder aufkreuzen, werde ich zu härteren Mitteln greifen.«

»Na klar«, sagte ich. »Die Ratten und so. Kannten Sie ihren Namen schon, bevor sie es heute in die Nachrichten geschafft hat?«

Alle drei schüttelten den Kopf, aber Mona fügte hinzu: »Selbst wenn wir gewusst hätten, dass sie eine Art Sängerin war, gibt ihr das nicht das Recht, so müllig unter den Schienen zu hausen. Dieser Krach, den sie gemacht hat – wir versuchen hier Touristen und Geschäftsleute anzuziehen. Eine stinkende laute Obdachlose, selbst wenn sie Musikerin ist, vertreibt die Leute. Früher schlief sie auf dem Campus der Universität, aber die haben es geschafft, sie nachhaltig zu vertreiben. SLICK verfügt leider nicht über diese Art Macht.«

»Ich denke, wir in Amerika sind doch an Obdachlose gewöhnt«, sagte ich. »Ich sehe immer welche vor Neiman ­Marcus, wenn ich die North Michigan langkomme, aber das hält die Leute nicht davon ab, das Kaufhaus zu betreten. Was glauben Sie, warum ist Coop so um sie besorgt?«

Monas dünne rote Lippen pressten sich aufeinander. »Um uns das Leben schwer zu machen. Wenn wir X wollen, fordert er prompt Y, einfach nur um sich querzulegen.«

»Also glauben Sie nicht, dass er aufrichtiges Interesse an ihrem Wohlergehen hat?«

»Macht es Ihnen etwas aus, uns Ihren Namen zu sagen und warum Sie das interessiert?« Der Blick des Hammermanns glühte vor Argwohn.

»V. I. Warshawski.« Ich teilte Karten aus.

»Ermittlerin?«, knurrte der Hammermann. »Was bedeutet das?«

»Eine Person, die Nachforschungen zu den Gründen oder Hintergründen von Ereignissen anstellt.« Ich lächelte strahlend.

»Hat Coop Sie beauftragt, uns nachzustellen?«, fragte Mona spitz.

»Lustigerweise denkt Coop, Sie hätten mich beauftragt, ihm nachzustellen. Leider haben meine Fährtenlesefähigkeiten in der Online-Ära etwas nachgelassen. Ich hab keine Ahnung, wo er ist. Das hatte ich von Ihnen zu erfahren gehofft – seinen Nachnamen, eine Telefonnummer, eine Adresse.«

»Er hat sich bei keiner SLICK-Versammlung richtig eingetragen«, beschwerte sich der Hammermann. »Er taucht nur auf, wenn er Ärger machen will.«

»Was bedeutet, dass er heute Abend wahrscheinlich da ist«, fügte Simon hinzu.

»Er hat Probleme mit seiner Impulskontrolle«, sagte Mona. »Die Leute sagen, er hält keinen Job lange durch, weil er auf den Chef oder die Kollegen losgeht, wenn sie ihn gegen den Strich bürsten.«

Sie konnte mir nicht sagen, wer ihr das erzählt hatte – Leute eben.

Die drei beendeten ihr Mahl, als mein Essen kam. Sie zahlten rasch, hatten aber Mühe, sich vom Tisch zu lösen – mehrfach glitten Tabellen und Karten zu Boden, doch der Hammermann schob seine beachtliche Plauze zwischen mich und ihren Tisch, um jede Handreichung meinerseits zu vereiteln.