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Generationskonflikt

Während ich noch mit Murray sprach, fingen die Hunde zu bellen an. So schnell ich konnte, öffnete ich die Haustür, aber schon stand Donna Lutas vor ihrer Wohnung, die Hände kampflustig in die Hüften gestemmt.

»Hallo, Donna«, sagte ich. »Sind Sie ein Fan von Lydia Zamir? Singt das Team der Kanzlei Devlin & Wickham auch ›Savage‹, um in Schwung zu kommen, bevor es in den Gerichtssaal ­marschiert?«

Einen Moment lang blickte sie verwirrt, so dass ich dazu kam, Mr. Contreras’ Tür aufzumachen. Die Hunde sprangen mich an und quiekten hysterisch. Hinter mir sagte Lutas irgendwas von Hausverwaltung, aber ich hielt es für die beste Strategie, mich nicht umzudrehen.

Mein Nachbar zog mich nach drinnen. »Die Hunde haben dich draußen mit Ryerson reden gehört. Mitch gefiel das gar nicht. Peppy auch nicht, aber Mitch war schlimmer.«

Ich schmunzelte. Mr. Contreras grollt so ziemlich jedem Mann, der je Teil meines Lebens war, aber aus irgendeinem Grund brachte Murray ihn noch mehr auf die Palme als die meisten anderen.

»Ihr zwei sorgt noch dafür, dass ich zwangsgeräumt werde«, sagte ich und kraulte Mitch hinter den Ohren. Er grinste, sicher, dass wir alle das Richtige taten.

»Was sucht Ryerson überhaupt hier?«, wollte Mr. Contreras wissen. »Du lässt doch wohl seinetwegen nicht diesen Ausgrabungskerl sitzen, oder?«

»Nicht doch. Ich helfe Murray Lydia Zamir suchen.«

»Ach, die kleine Musikantin.« Mr. Contreras’ Zeitung ist die Sun-Times, aber nach Coops wütigem Gastspiel hatte er ­Murrays Story im Herald-Star gelesen. »Sie haben es in den Neun-Uhr-Nachrichten gebracht, wie sie von den Fernseh­kameras gejagt wird. Die hätten sie umbringen können. Typisch Ryerson, nichts im Kopf als seinen Vorteil und seinen Ruhm.«

Ich widersprach ihm nicht, sondern lenkte das Gespräch auf meine vergebliche Suche nach Zamir. Ich schmückte alles aus, was Mr. Contreras interessieren würde, wie dass Lydias Verschwinden im Krankenhaus nicht rechtzeitig bemerkt wurde, um sie aufzuhalten. Ich erzählte ihm auch von Bernies Schwärmerei für Leo und ihre Enttäuschung, dass ihr Prinz ihren Kriegergeist nicht teilte. Für Mr. Contreras war unbesehen klar, dass Leo nicht gut genug für Bernie war. Natürlich hätte auch Prinz Harry seinem Anspruch nicht standgehalten.

Noch einmal kurz mit den Hunden um den Block, dann setzte ich mich an meinen PC, um ein wenig zu recherchieren.

Ich fing mit Larry Nieland an, dem Wirtschaftsnobelpreisträger. Er hatte einen Joint-Appointment-Lehrstuhl an der University of Chicago und der Pontificia Universidad Católica de Chile. Das kam mir erst schräg vor, aber als ich auf der Suche nach mehr Informationen weiterstöberte, sah ich, dass Chicago tatsächlich schon in den 1950 ern die chilenische Wirtschafts­fakultät mit aufgebaut hatte. Es schien eine Menge Austausch zwischen beiden Universitäten stattzufinden, und in den 1960ern und 70ern in Chicago ausgebildete Ökonomen stellten einen Großteil der Politikberater für das Pinochet-Regime.

Nieland hatte auf dem Campus von Santiago eine Postdoc-Stelle gehabt, als Pinochet an die Macht kam. Heute besaß er ein Apartment in den Hügeln über der chilenischen Stadt ­Valparaíso, dazu seine Eigentumswohnung in Chicago.

Wie viele Wirtschaftsprofessoren saß Nieland im Vorstand von etlichen Unternehmen in den USA und Südamerika. Er war Geschäftsführer seiner eigenen Firma, Capital Unleashed, die »Investitionsberatung und -begleitung für eine ausgewählte Liste von Klienten« anbot. Er konnte sich wahrscheinlich ein besseres Shirt leisten, als er bei der Versammlung getragen hatte.

Einen Teil seines Geldes steckte er ins Segeln. In Chicago hatte er eine Dreißig-Meter-Yacht liegen, die in den 1870ern für einen unserer Räuberbarone gebaut worden war. Er besaß außerdem eine moderne Rennyacht, die er in diversen Hochseeregatten antreten ließ.

Meine geliebte Stadt balancierte dicht am Bankrott. Wie viel mussten sie wohl hinblättern für Nielands handverlesene Ratschläge in Sachen Ufermeile? Ich wünschte, ich könnte Murray einweihen, damit er mir ein paar dieser Fragen beantworten half, aber derzeit traute ich ihm in puncto Diskretion nicht über den Weg.

Jetzt wandte ich mich Lydia Zamirs Verschwinden zu, eine viel dringendere Sorge: Ich musste Leute finden, die sie kannten. Ich überprüfte die Agentin, Hermione Smithson, die ihre Agentur in Boston hatte, unweit des New England Conservatory. Der größte Teil von Smithsons Klientel schien klassisch ausgebildet zu sein. Ich hatte noch nie von ihnen gehört, aber sah mir ihre CD-Verkäufe und Streamingquoten an; nur drei kamen auf nennenswerte Zahlen. Vermutlich bekam Smithson eine Provision auf Konzertbuchungen, aber sie war keine junge Frau mehr, sie war letztes Jahr siebzig geworden. Sollte Lydia Zamirs Karriere wieder zum Leben erwachen, dann dürfte Smithson ein Stück vom Kuchen abhaben wollen.

Am nächsten Morgen hatte Zamirs Verschwinden es in die landesweiten Nachrichten geschafft, und die Aufnahmen von ihr auf den Bahngleisen geisterten durch sämtliche sozialen Medien. Fotos vom Provident Hospital sollten skandalisieren, wie leicht man hier entführt werden konnte, ohne dass es irgendwer mitbekam – jemand hatte ein Bild von einem ­Chicagoer Cop ­gepostet, der über sein Handy gebeugt in einem Krankenhauswartesaal hockte. Unmöglich zu sagen, ob es das Provident oder das Northwestern war, gestern oder vor fünf Jahren.

Nachdem ich alle Berichte über nächtliche Leichenfunde überprüft und die Krankenhäuser der South Side durchtelefoniert hatte, um nach einer halbverhungerten Jane Doe zu fragen, rief ich Zamirs Eltern in Kansas an. Dank eines hilfreichen Nachbarn wussten auch sie von der dramatischen Jagd auf den Gleisen.

»Der nette Reporter hat angerufen, um uns zu sagen, dass sie aus dem Krankenhaus verschwunden ist, aber Lydia hat sich nicht bei uns gemeldet.«

»Das ist bestimmt zermürbend«, murmelte ich.

»Ach, man gewöhnt sich dran.« Sie seufzte. »Rückblickend glaube ich, wir hatten nie so ein inniges Verhältnis wie manche meiner Freundinnen zu ihren Töchtern. Ich habe lange gehofft, sie würde wieder herziehen, eine Familie gründen, aber sie wollte etwas Großes machen, das ihr viel Aufmerksamkeit bringt. Einer ihrer Lehrer hat das als ›ungestümen Geist‹ bezeichnet, aber ich fand, sie benahm sich einfach, also ich sage das wirklich ungern über mein eigenes Kind, aber nun ja, ziemlich hochnäsig. Und als sie sich mit diesem Mexikaner einließ, hat sie ihren Vater und mich noch weniger beachtet.«

»Ich dachte, er war US-Amerikaner«, sagte ich. »Mit einem Vater aus Chile.«

Debbie Zamir ignorierte das. »Er kannte kein anderes Thema als diese Leute, die über die Grenze in unser Land reinwollen. Die hart arbeitenden Menschen, die schon hier sind, waren ihm völlig egal. Das klingt für mich nicht amerikanisch. Und Lydia erging sich nur noch darüber, wie Hector einen Quell der ­Inspiration in ihr entfesselte. Seine Bücher wären das Aufregendste, was sie je gelesen hat. Ich habe sie zu lesen versucht, wirklich, aber mir kam das wie Unfug vor. Lauter Indianer, die als Visionen erscheinen und über Plastik im Trinkwasser ­plappern.

Es war, als hätte Hector Lydia hypnotisiert. Sie fing an, Lieder über Barbaren zu schreiben, und die Texte waren wüst, nicht wie die schönen Stücke, die sie bei ihren Klavierabenden spielte. Wenn ich versuchte, etwas dazu zu sagen, wurde sie böse und sagte: ›Du musst mal der Wahrheit ins Gesicht sehen.‹ Tja, die Wahrheit, die sie nicht sehen wollte, war: All diese politische Agitation hat sie bloß in den Dunstkreis der Gewalt gebracht.«

Ich grub mir die Nägel in die Handflächen, um Zamirs Mutter nicht anzubrüllen. »Jemanden – irgendwen – sterben zu sehen ist schon grauenhaft. Und mitzuerleben, wie der Liebste erschossen wird – unerträglich. Sie brauchte Hilfe.«

»Wir haben nach der Schießerei versucht, uns um Lydia zu kümmern. Unser Arzt hat sie an einen sehr guten Psychiater in Kansas City überwiesen, der ihr Haldol und Lorazepam verschrieb. Sie hat die Tabletten weggeschmissen. Sie sagte, die würden sie davon abhalten, sich an Hector zu erinnern.«

Um das Thema zu wechseln, fragte ich nach Lydias Freundeskreis in Kansas, aber Debbie Zamir konnte mir keine Namen nennen. Lydia war vor zwanzig Jahren zu ihrer Ausbildung am Konservatorium weggegangen und hatte keinen Kontakt zu Kindheitsfreunden gehalten.

»Wo ist sie hin, als sie Sie nach dem Massaker verließ?«, fragte ich schließlich.

»Sie wollte nach Chicago und bei Hectors Mutter einziehen. Wir konnten es nicht glauben, als wir in den Nachrichten sahen, dass sie auf der Straße lebte. Ich war sicher, dass sie bei der Mutter ist.«

Ich fragte Ms. Zamir, ob Lydia Arthur Morton, den Killer, vor dem Massaker gekannt hatte.

»Was meinen Sie damit, ob sie ihn kannte?«

»Hat sie mal seinen Namen erwähnt? Sich vielleicht gesorgt, weil er sie gestalkt hat?«

»Ich habe es Ihnen doch schon gesagt: Nachdem sie an die Ostküste gezogen ist, hat sie mich nie mehr in ihre Geheimnisse eingeweiht. Und schon gar nicht in den paar Wochen, die sie nach der Schießerei hier verbracht hat. Sie war zu kaputt, um über irgendwas zu reden. Wenn sie den Jungen kannte, der geschossen hat, weiß ich nichts davon.«

Mein Kopf tat weh von der Anstrengung, mit ihr umzugehen, mit ihrer Mischung aus Trotz, Kränkung und Wut über die Weigerung ihrer Tochter, sich anzupassen. »Was ist mit einem Mann namens Coop? Er hat auf Ihre Tochter aufgepasst, als sie unter den Gleisen hauste.«

»Coop? Wie das Wort für Hühnerstall? Einen Jungen mit so einem Namen gab es nicht auf ihrer Schule, jedenfalls hab ich nie davon gehört.«

»Vielleicht war er beim Prozess?«, schlug ich vor.

Sie zögerte einen Augenblick. »Da war ich nicht. Ja, vielleicht hätte ich hingehen sollen, vielleicht hätte Lydia sich dann nicht so aufgeregt. Ich fand, dieser Einwanderer, dieser Hector, war ein schlechter Einfluss für mein Mädchen, und – und es hat mir nicht das Herz gebrochen, dass er tot war.«

Die Worte waren aggressiv, aber da war ein Unterton von Reue, der mich davon abhielt, sie zur Schnecke zu machen. Es musste doch etwas geben, was ich fragen konnte, etwas, das Lydias Mutter mir sagen konnte, aber ihre Gekränktheit und ihre willkürlichen Schuldzuweisungen machten mir das Denken schwer. Ich gab ihr meine Telefonnummer und E-Mail-Adresse, legte auf und massierte mir die schmerzenden ­Schläfen.

Nach diesem Gespräch war ich nicht in der Verfassung, weitere Fremde zu befragen, aber es war wichtig, die Liste von ­Leuten abzuarbeiten, die Lydia gekannt hatten. Ich rief ­Hermione Smithson an, die Agentin.

Smithsons Telefonperson sagte, »Madame« sei nicht daran interessiert, mit Detektivinnen zu sprechen. Ich erläuterte meine Mission; nach ein paar Minuten in der Warteschleife wurde ich zu Madame durchgestellt.

Als ich erklärte, dass ich nach Zamir suchte, fragte Smithson, was mich dazu antrieb.

»Ich habe den Auftrag, sie zu finden.«

»Von wem?«

»Meine Klienten schätzen meine Diskretion, Ma’am. Sie wissen, dass sie verschwunden ist, oder? Ich hoffte, Sie hätten von ihr gehört.«

»Gestern rief schon ein Journalist an und fragte mich nach ihr. Wenn Sie den Medien helfen wollen, sich um die Verantwortung für ihr Verschwinden zu drücken, sehe ich keinen Grund, mit Ihnen zu sprechen.«

»Ich will niemandem helfen, sich um die Verantwortung für egal was zu drücken«, sagte ich. »Ms. Zamirs Verschwinden ist groß in den Nachrichten. Das belebt das Interesse an ihrer Arbeit neu, oder?«

»Sie bekommt ein wenig längst überfällige Aufmerksamkeit«, sagte Smithson vorsichtig.

»Halten Sie es für möglich, dass eine skrupellose Person sie in Geiselhaft hält, um ihre kommerzielle Verwertbarkeit zu steigern?«, fragte ich.

Es gab ein längeres Schweigen, dann sagte Smithson: »Ich bin mit verschiedenen Musiklabels im Gespräch. Wenn sie verschwunden ist, sinkt ihr Wert – denn dann kann ein Label zwar ihre alten Rechte kriegen, aber kein neues Material.«

»Haben Sie sie in letzter Zeit mal gesehen oder gesprochen? Sie ist nicht in der Verfassung für neues Material.«

»Sind Sie nicht nur Detektivin, sondern auch Psychiaterin und Musikerin?«, spottete Smithson. »Ein paar Monate in einer Rehaklinik mit den richtigen Medikamenten und den richtigen Therapeuten können da ganz schnell einiges bewirken. Ich habe schon erlebt, wie Musiker es aus tieferen Abstürzen zurückgeschafft haben.«

»Sie würden sie also nicht versteckt halten, um die Gebote von Spinning Earth oder Deutsche Grammophon in die Höhe zu treiben?«

»Wie können Sie es wagen? Das ist eine bodenlose Unverschämtheit. Wie auch immer Sie heißen, rufen Sie ja nicht wieder an.« Sie legte auf.

Bodenlose Unverschämtheit? Mag sein, aber undenkbar war es nicht.

Ich stöberte den Klavierlehrer auf, mit dem Murray gesprochen hatte, einen Professor Szydanski, Gershon Szydanski. Natürlich hatte er die Meldungen über Lydia gesehen. Er war auch fasziniert von ihrem Erfolg als Songwriterin.

Anscheinend hatte sie im Studium wenig Interesse an Komposition gezeigt. Szydanski hatte sich ihre Unterlagen im Archiv rausgesucht; ihr Examen hatte sie mit Klavier gemacht, dazu als Nebenfach Gesang, sie hatte ein paar Kurse in Komposition belegt, da jedoch nichts Unvergessliches erschaffen.

»Die meisten unserer Studierenden sind wie Lydia«, fügte er hinzu. »Sie sind begabt, sie schaffen eine ordentliche Karriere als Bühnenkünstler oder Lehrende, aber in der Musikpresse sehen wir ihre Namen nicht oft. Wenn sie landesweit oder gar international Anerkennung erfahren, ist das für uns ganz schön aufregend.«

Er machte noch ein paar Minuten in diesem Stil weiter; schließlich unterbrach ich ihn, um zu fragen, ob er wusste, wo sie war, oder ob er mir Namen von Studierenden am New England geben konnte, die sie gut gekannt hatte und die weiterhelfen könnten.

»Tut mir leid, Ms. Warshawski, aber sie hat vor über fünfzehn Jahren ihren Abschluss gemacht. Außerdem mischen wir uns nicht gern allzu sehr ins Privatleben unserer Studierenden ein.«

Bevor ich auflegte, fragte ich, ob er Hermione Smithson kannte. Er lachte. »Die gehört hier fest zum Inventar, im Grunde genau wie wir alle. Sie wirft ihr Schleppnetz aus und guckt, welche Studis sie sich rausfischen kann. Wobei, das ist vielleicht zu ungnädig. Hermione überschreitet weder gesetzliche noch ethische Grenzen, aber sie greift bei unerfahrenen Künstlern Rechte ab, die sie sich besser vorbehalten sollten.«

»Lydias Verkaufswert ist etwa um dreihundert Prozent gestiegen, seit die Fernsehteams sie auf die Gleise gescheucht haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Smithson in ihr Verschwinden verwickelt ist – das wäre logistisch zu schwierig –, aber jedenfalls profitiert sie von dem Drama.«

»Ach du meine Güte, ich habe Ihnen wohl einen völlig falschen Eindruck von Hermione vermittelt, wenn Sie so was denken.« Szydanski war entsetzt. »Sie ist Neuengländerin durch und durch, Sie wissen schon, alte Schule, ein Muster an Moral und Rechtschaffenheit und so weiter. Sie würde sich nie an einer Entführung beteiligen.«

Damit beendeten wir das Gespräch.

Ich hatte es so lange wie möglich vor mir hergeschoben, ­Hector Palurdos Mutter zu kontaktieren, aber sonst war niemand mehr übrig. Ich fing damit an, dass ich Hintergrundinfos über die Familie suchte.

Die allgemeineren Angaben waren leicht zu finden, sie standen in Hectors Wikipediaeintrag: Palurdos Vater Jacobo war in den 1970ern aus Chile nach Chicago geflüchtet, etwa ein Jahr nach Pinochets Putsch. Seine Mutter Elisa unterrichtete Englisch als Zweitsprache an einem Stadtteil-College. Jacobo hatte Unterricht bei ihr. Eins führte zum anderen. Sie heirateten. Hector war ihr einziges Kind.

Elisa war immer noch als Fakultätsmitglied am selben College geführt, wo sie Jacobo unterrichtete hatte, aber im Sekretariat der Abteilung teilte man mir mit, dass sie ein Sabbatical habe. Nein, man werde mir auf keinen Fall eine Telefonnummer von Ms. Palurdo geben. Ich konnte dem Sekretariat eine E-Mail schicken, und sie würden sie weiterleiten.

Ich versuchte sie über andere Zugänge aufzuspüren. Nach dem Mord an ihrem Sohn hatte Elisa einen Blog namens ›Spuren des Todes‹ gestartet. Vor einem Jahr hatte sie die entstandenen Essays als Buch herausgebracht, aber den Blog betrieb sie weiterhin. Ich überflog die Inhaltsangabe auf einer Bücher-Website.

Zuerst hatte Elisa über Massenmorde in den USA geschrieben, die Waffen zurückverfolgt, wo sie konnte, die Namen der Toten aufgeführt, die der Hinterbliebenen. Angefangen hatte sie mit dem Tod ihres Sohns und den Leben der anderen betroffenen Familien. Nach etwa einem Jahr erweiterte sie ihre Berichterstattung auf beide Amerikas, dann begann sie tote Kinder in Syrien zu zählen, im Jemen und im Sudan.

Sie wurde prompt zur Zielscheibe jener Hassgemeinschaft, die Enthüllungen von Schusswaffengewalt zutiefst bedrohlich findet. Das hätte mich wohl nicht überraschen sollen, aber es war gründlich deprimierend. Es erklärte außerdem, warum es so schwer war, ihre Adresse oder eine Telefonnummer zu fassen zu kriegen. Es kostete mich zwei Stunden und eine Unmenge Gebühren für spezielle Suchmaschinen, aber im Zeitalter von Google und Apple ist man immer aufspürbar, es sei denn, man nutzt überhaupt keine Kreditkarte und kein Bankkonto. Elisa Palurdo wohnte an der Edgebrook Terrace im Stadtteil Forest Glen am Nordwestrand der Stadt.