Lydias Schmerz mit anzusehen hatte meine letzten Energiereserven erschöpft. Ich dachte an die unbekümmerte Ansage ihrer Agentin, die richtigen Pillen und die richtige Reha würden Lydia im Nu wiederherstellen. Mit diesem rohen, krächzenden Auflachen im Ohr konnte ich mir eine Rückkehr zu so was wie Normalität kaum vorstellen, ganz zu schweigen von kreativer Arbeit.
Halb rutschte, halb kletterte ich den steilen Abhang zum Biotopkorridor runter. Am Schauplatz des Mordes blieb ich stehen. Die Mauerreste und Bäume verbargen Lydias Versteck zur Gänze. Wenn sie nicht gerade oberhalb der Mauer herumgestöbert hatte, war sie höchstwahrscheinlich unsichtbar gewesen. Damit versuchte ich mich zu beruhigen, aber ich ließ sie sehr ungern dort allein, leichte Beute für alle Geschöpfe der Nacht.
Auf dem Weg nach draußen kam ich an einem Mann auf einer Bank vorbei, der laut mit einem Zuhörer diskutierte, den nur er allein wahrnahm. Er schien schon länger Platte zu machen, wenn man vom Zustand seiner Stiefel und seinen aufgequollenen Tränensäcken ausging. Falls er Leo erschlagen hatte, dann in einem Moment wütenden Kontrollverlusts. Und sollte er oder jemand in ähnlicher Zwangslage Leo umgebracht haben, dann hätte er sich auch nicht groß nach möglichen Zeugen umgesehen. Hoffte ich.
Die Polizei hatte den Parkplatz immer noch abgesperrt. Es war leicht, die eiserne Umzäunung zu umgehen und zur Straße zu gelangen – und schwer zu sagen, was sie durch die Sperrung des Parkplatzes eigentlich bewirken wollten.
Einer der Männer im Streifenwagen rief mir etwas zu, aber ich ging weiter. Statt nordwärts in Richtung meines Wagens zu zuckeln, überquerte ich die Fußgängerbrücke zum Lake Michigan, zog mich bis auf die Unterwäsche aus und glitt ins Wasser. Ich ließ mich treiben, paddelte herum und beobachtete die Möwen. Sie mögen Müllsammler und Räuber sein, aber sie fliegen mit großer Grazie – wie Lydias Arme, die über unsichtbaren Tasten in der Luft schwebten. Oberhalb der Möwen sah ich die Kondensstreifen von Flugzeugen, die zum O’Hare strebten wie ein stetiger Strom von Riesenvögeln. In scheinbar endloser Abfolge tauchten sie am östlichen Horizont auf. Passagiere, die hinter ihren Fenstern nach Landmarken Ausschau hielten, würden mich nicht bemerken, nur ein winziger Punkt unten im Wasser.
Ein zweimastiges Segelboot trieb in der Nähe vor Anker. Möglicherweise Larry Nielands antike Yacht? Die hieß Abundance, hatte ich auf seiner Webseite gelesen – Wohlstand im Übermaß, so getauft von dem Räuberbaron, dem sie ursprünglich gehört hatte, nicht minder passend für einen Mann des einundzwanzigsten Jahrhunderts mit einem Unternehmen namens Capital Unleashed.
Warum war Leo zuerst in den Park gegangen, statt sich wie geplant mit Bernie zum Essen zu treffen? Und warum hatte er Bernie nicht Bescheid gesagt? War sein Handy gestohlen worden, bevor er ihr eine Nachricht schicken konnte?
Ich schloss die Augen und ließ mich von den Wellen tragen. Das Wasser hier war so klar und sauber, widerlich dagegen die Vorstellung eines künstlichen Sandstrands samt den damit einhergehenden vollgeschissenen Windeln, benutzten Kondomen, zerbrochenen Schnapsflaschen – all das, was Chicagos Seeufer im Sommer abstoßend machte. Vielleicht tat ich mich mit Coop zusammen und bekämpfte jeden, der hier Land aufschütten wollte.
Ja, Coop. Dieser Jähzorn, der in ihm brodelte wie Lava. Falls er Leo begegnet war, hätte er sich spontan in einen wilden Kampf gestürzt?
Leo gehörte nicht zu SLICK – er war bloß eine Hilfskraft für den Sommer. Ob Coop das klar war? Er hatte Leo anscheinend für das Vorgehen von SLICK verantwortlich gemacht. Dabei hatte auch SLICK gar keine Macht, keine echten Befugnisse. Sie konnten die Entscheidungen der Parkbehörde nicht lenken, selbst wenn sie es gewollt hätten. Gegen Mona und ihre Kameraden zu wettern war völlig sinnlos.
Alle diese Spekulationen rund um Zorn – meinen eigenen, den von Coop, den von hypothetischen Obdachlosen – zerstörten meine friedliche Stimmung. Ich drehte mich um und kraulte zum Ufer zurück.
Als ich aus dem Wasser stieg, war eine Familie angekommen, ein Baby im Kinderwagen, sechs ältere Kinder, fünf Erwachsene einschließlich einer Großmutter. Sie hatten eine riesige Kühlbox dabei, die auf eine Sackkarre montiert war. Während meine Haut und mein BH trockneten, beobachtete ich die Familiendynamik; alle gingen sehr liebevoll miteinander um, auch wenn zwischendurch Uneinigkeit entstand. Sie sprachen Polnisch, die Sprache meiner Warshawski-Großeltern, aber ich hatte nie mehr gelernt als ›hallo‹ und ›danke‹.
Mit Anfang dreißig hatte ich viel darüber nachgedacht, ob ich ein Kind haben sollte. Es kam mir nicht richtig vor bei dem Leben, das ich führte, der Arbeit, die ich machte, meinem rastlosen Liebesleben. Aber gelegentlich verspüre ich einen Hauch von Melancholie, wenn ich eine Familie wie diese vor mir habe. Heute Abend hatte ich Sehnsucht nach der Wärme einer Großfamilie, zu der ich heimkehren könnte.
Die Großmutter sah mich gucken und bot mir einen gebratenen Maiskolben an, den ich dankbar verspeiste. Schließlich streifte ich meine verdreckten Klamotten über und brach nach Norden auf, diesmal blieb ich auf dem bequemen gepflasterten Gehweg zwischen Ufer und Drive. Ich wollte eben die Eisentreppe zu der rostigen Überführung an der Forty-first Street hochsteigen, da sah ich Coop und Bär von weiter nördlich kommen.
Der Hund begrüßte mich erfreut und beschnüffelte meine Hosenbeine, um die schimmelnden Blätter zu schnuppern. Vielleicht roch Bär auch Lydia Zamir. Coop war deutlich weniger begeistert. Ich unterbrach seine säuerliche Begrüßung, um ihm zu sagen, dass ich Lydia gefunden hatte.
»Wem haben Sie davon erzählt?«, fragte er als Erstes.
»Wie wär’s mit ›Wo ist sie, wie geht es ihr‹? Oder heißt das, Sie wissen längst, wo sie ist?«
Er reagierte verdattert. »Nein. Nein, das weiß ich nicht. Wo ist sie? Geht es ihr gut?«
»Gut nicht, aber das wissen Sie ja. Es geht ihr schlechter, weil sie sich völlig verausgabt hat, als sie aus dem Krankenhaus geflüchtet ist. Auch der Mord an Leo Prinz hat sie gestresst: Selbst wenn sie den eigentlichen Mord nicht mitangesehen hat, muss ihr die Betriebsamkeit der Cops bedrohlich erschienen sein. Sie hat erstaunliche Tatkraft aufgebracht, als sie sich ungesehen aus dem Provident absetzte, aber das hat ihre körperliche Verfassung an die Grenze gebracht.«
Er fing wieder damit an, dass ihre gegenwärtige Lage meine Schuld sei, aber ich schnitt ihm das Wort ab. »Selbst wenn das wahr wäre, ist es belanglos. Sie braucht unverzüglich Hilfe. Sie sind die einzige Person, die sie an sich ranlässt, aber Sie interessieren sich offenbar mehr für Ihre moralische Entrüstung als dafür, ihr zu helfen.«
»Sie wissen einen Scheiß über sie oder mich!«, brüllte er los, dass die Sehnen an seinem Hals hervortraten.
»Ja, woher kennen Sie sie überhaupt? Sie sind nicht ihr Bruder. Hatten Sie was mit ihr, bevor sie Hector Palurdo kennenlernte?«
»Ich hatte nie was mit Zamir.« Er presste die Lippen zusammen.
»Kennen Sie sie aus Kansas? Von früher, vor Palurdo?«
»Selbst wenn, ist das belanglos«, ahmte er mich giftig nach. »Sagen Sie mir, wo sie ist.«
»Wo waren Sie gestern Abend, als Leo Prinz ermordet wurde?«, fragte ich stattdessen.
»Sie denken, ich hab ihn umgebracht?« Er schnappte nach Luft.
»Haben Sie das?«, fragte ich. »Ich hab bei den SLICK-Versammlungen zweimal gesehen, wie Sie auf ihn losgehen wollten. Mangelnde Aggressionsbewältigung könnte als Motto über Ihrer Akte stehen.«
»Haben Sie etwa in meinem Leben rumgeschnüffelt?«, fragte er so hitzig, dass sein Hund sich gegen seine Beine presste, sei es, um ihn zu beschützen oder zu besänftigen. »Wie –«
»Ich kenne ja nicht mal Ihren Nachnamen oder Ihre Adresse. Mona Borsa von SLICK meint, Sie wären bei diversen Jobs rausgeflogen, weil Sie Ihren Jähzorn nicht im Griff haben, aber sie kennt Ihren Nachnamen auch nicht, zumindest hat sie ihn mir nicht gesagt.«
»Die Leute glauben, in einer Großstadt wären sie anonym, dabei schnüffeln alle ständig im Privatleben anderer rum«, murrte er. »Egal, ich hab Leo Prinz nicht umgebracht. Ich hätte ihn auch bei den SLICK-Versammlungen nicht so angehen sollen. Prinz war bloß ein naives Sprachrohr für Leute mit Geld. Die gehören massakriert, nicht so ein ahnungsloser Jungspund.«
»Wer sind diese Geldleute?«
»Es sind immer dieselben. Die, die glauben, Land und Wasser sei ihr Eigentum, obwohl sie nichts dazu beigetragen haben, es zu erschaffen oder sich darum zu kümmern.«
»Nein, die Geldleute in diesem speziellen Fall«, sagte ich ungeduldig. »Der Kerl, auf den sich Taggett bei der SLICK-Versammlung berufen hat – Larry Nieland, dieser Ökonom – gehört der massakriert?«
Coop sah mich eigentümlich an, sagte dann: »Wenn’s nach mir ginge, gehören alle Ökonomen massakriert. Jetzt sagen Sie mir, wie ich Lydia finde.«
Ich ließ die Schultern sinken und lehnte mich ans rostige Treppengeländer. »Ich sag’s Ihnen nur, weil mir nichts Besseres einfällt. Ich hoffe, das ist kein Fehler.«
Ich beschrieb ihm, wie er zu ihrem Versteck kam. »Wenn sie Ihnen wirklich was bedeutet, bringen Sie sie irgendwohin, wo sie anständig ärztlich versorgt wird. Ich hab ihr ein Handy dagelassen, darauf ist meine Nummer eingespeichert, zusammen mit der Nummer der besten Ärztin von Chicago, oder eigentlich der Welt. Charlotte Herschel ist eine Holocaust-Überlebende. Sie hat mit Folteropfern gearbeitet. Sie kann Lydia helfen, und sie würde Diskretion wahren.«
Ich holte eine meiner Visitenkarten aus dem Rucksack und schrieb Lottys Adresse auf die Rückseite.
»Es wäre eine große Hilfe, wenn Sie mir Ihren Namen und Ihre Telefonnummer geben. Dann müsste ich mich nicht blind auf mein Glück verlassen, wenn ich Sie suche, weil Ihre Freundin Sie braucht. Ich hab ihr Essen und Wasser gebracht, aber wenn sie überleben soll, braucht sie ein Bett und ein Bad und richtige Aufbaukost.«
»Sie brauchen meine Telefonnummer nicht und auch keinen Namen außer Coop. Ich kümmere mich schon um Lydia.«
Meine alte Straßenkämpferinnenwut stieg in mir hoch, aber was nützte es schon, wenn ich ihm die Nase brach – selbst wenn mir gerade danach war? Ich atmete tief durch. Mit schleppenden Füßen stieg ich die rostigen Stufen der alten eisernen Fußgängerbrücke hoch und ging zu meinem Wagen.
Zu Hause wusch ich mir die Haare und stopfte meine verdreckten Sachen in die Waschmaschine. Der Gang die vier Treppen runter zur Waschküche im Keller und dann wieder rauf fühlte sich an wie der Gipfelsturm zum Mount Everest, so ausgelaugt waren meine Muskeln.
Ich legte mich flach auf den Wohnzimmerboden, um mein Rückgrat zu strecken und die Knoten in meinem Nacken zu lösen. Während ich dalag, rief ich Bernie an, um mich zu vergewissern, dass sie klarkam. Zu meiner Erleichterung war Arlette aus Quebec hergeflogen, um sich um ihre Tochter zu kümmern.
»Victoire, welche Gefahr gibt es für Bernadine?«, fragte sie mich. »Werden die sie ver’aften?«
»Das glaube ich nicht«, sagte ich. »Ich muss vorerst davon ausgehen, dass jemand von den Obdachlosen, die im Park schlafen, Leo erschlagen hat. Vielleicht um ihn auszurauben, vielleicht, weil er oder sie dachte, dass er in ihr Revier einbrach. Die Polizei hat Bernie noch wegen eines früheren Zusammenstoßes auf dem Kieker.«
Arlette hatte mit meinem Strafrechtsanwalt Freeman Carter gesprochen, er würde Bernies Vertretung übernehmen, falls sie verhaftet wurde. »Das Ganze ist ein Schock, naturellement. Mr. Carter, er hat eine Therapeutin empfohlen, eine Psychiaterin, aber für jemand wie Bernadine ist Bewegung die beste Therapie. Sie soll morgen zu ihrem Coach-Job gehen und mit ihren kleinen Athletinnen in der ’eißen Sonne ’erumrennen. Das wird sie wieder aufbauen.«
»Es gibt etwas, das ich noch mit ihr besprechen muss«, sagte ich. »Bernie sagt, sie ist in den Park gegangen, um Leo zu suchen, weil sie dachte, vielleicht hat sie den Treffpunkt falsch verstanden. Und er hat nicht auf ihre Textnachrichten geantwortet – vielleicht war sein Handy da schon gestohlen. Aber ich hab das Gefühl, es gibt da noch was, was sie mir nicht sagt?« Es wäre nicht klug, sie der Lüge zu bezichtigen – nicht vor Arlette. »Es sieht Bernie nicht ähnlich, tatenlos auf einen saumseligen Liebhaber zu warten.«
»Saum-see-liegen? Quoi?«
»Jemand, der dich warten lässt.«
»Ah, ja. Ich frage sie danach, und glaub mir, sie wird mir die Wahrheit sagen, keine Angst. Und ich bleibe ein paar Tage ’ier. Diese Mädchen, die leben aus Plastikpackungen, als ob es in Chicago keinen richtigen Käse gibt.«
Das brachte mich zum Lachen, aber als wir auflegten, lastete meine Bedrücktheit immer noch schwer auf mir. Für mich war in der heißen Sonne herumrennen nicht die beste Therapie, jedenfalls nicht das Herumrennen, das ich heute praktiziert hatte.