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Rechtliche Grundlage

In nüchterner Stimmung schloss ich die Tür zu meinem Büro auf. Wenn Global so genau verfolgen wollte, was ich aufspürte, mussten sie dort irgendein eigennütziges Interesse an Palurdos Mörder haben, oder an Lydia, oder an Hector Palurdo selbst.

Ich versuchte herauszufinden, ob irgendwer von den Führungskräften bei Global mit Arthur Morton verbandelt war. Das stärkste Bindeglied, das ich aufstöbern konnte, war jemand im Vorstand, der auch im Vorstand von Sea-2-Sea saß, dem großen Agrarkonzern. Allerdings lebte der Mann in Los Angeles. Es war unglaubwürdig, dass er den Nöten kleiner Farmer wie den Mortons auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Trotzdem, nur um nichts auszulassen, trug ich seinen Namen in die Zamir-Falldatei ein.

Ich überprüfte die Mädchennamen von Mortons Mutter und beiden Großmüttern. Keinerlei Übereinstimmung mit Managern und hohen Tieren bei Global. Ich glich alle Namen mit meinen aktuellen Klientenlisten ab und bekam kein Ergebnis.

Mein erster Anlauf bei der Devlin-Kanzlei war nicht besonders geschickt gewesen. Mal sehen, ob mich persönliches Auftreten weiterbrachte. Genauer gesagt, mal sehen, ob Jane ­Cardozo, Leiterin von Devlins Schreibbüro, mir verriet, weshalb sie Lydia Zamir gegenüber ein Kontaktverbot brauchte.

Ich fand auf einer Social-Media-Seite ein Bild von Jane ­Cardozo und speicherte es auf meinem Handy ab. Sie war eine Frau um die fünfzig mit dunklem, kurz geschnittenem Haar und einem humorvollen Funkeln in den Augen. Bestimmt brauchte es eine starke Persönlichkeit, um den Partnern dieser großen Kanzlei den gebührenden Respekt abzunötigen. Vielleicht sah sie in mir ja eine Art Gleichgesinnte und keine übergriffige Fremde. Das war zumindest meine Hoffnung.

Ich druckte eine Nachricht an Cardozo aus. Nur die Eck­daten – ich war Ermittlerin, mein Auftrag die Suche nach Lydia Zamir. Ich machte mir Sorgen, ob Zamir vielleicht ­Cardozo oder einen der Partner zur Rede zu stellen versucht hatte und verhaftet worden war. Ich wartete in der Lobby – konnte ­Cardozo mir fünf Minuten schenken?

Ich ging zu Fuß zum Polonia Triangle, um die L zum Loop zu nehmen. Elton lehnte am Brunnen und trank was aus einer Papiertüte. Ich winkte, aber er wandte sich ab. Hoffentlich war das kein böses Omen.

Devlin & Wickham nahm im Gebäude der Fort Dearborn Bank an der LaSalle Street acht Stockwerke ein. Es war die Art Gebäude, wo man sich erhaben fühlen kann, weil man den Mammon anbetet – Blattgold und Marmorsäulen in der Empfangshalle, auf den Böden steinerne Mosaike und ein Wächter hinter einer Barriere aus einem Material, bei dem man denkt, dass Petrus es wahrscheinlich für die Himmelspforte ausgesucht hätte.

Als ich ihm sagte, ich hätte eine Nachricht für jemanden bei Devlin, fühlte es sich wie Frevel an, lauter zu sprechen als im Flüsterton. Der Wächter kredenzte einen Metallkorb, ich legte mein Gabenopfer hinein, der Wächter telefonierte nach oben.

Ich ließ mich zum Warten auf einer Bank in der Empfangshalle nieder. Beim Podium des Wächters kamen und gingen unablässig Leute. Sie hatten Termine und zeigten Ausweise vor, sie ließen Päckchen da, sie kamen aus dem Innern der heiligen Hallen und holten die Päckchen ab. Schließlich nahm eine Frau meinen Brief und kehrte zu den Fahrstühlen zurück.

Ich meldete mich kurz bei Bernie. Sie hatte mit ihren Kids einen guten Tag gehabt und wollte mit Angela und ihren anderen Mitbewohnerinnen ausgehen; Arlette blieb noch ein paar Tage da, war aber klug genug, die jungen Frauen unter sich sein zu lassen. Ich hatte mein Laptop bei mir und versuchte ein wenig zu arbeiten, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Es wurde fünf, dann halb sechs.

Donna Lutas tauchte auf, die junge Frau aus meinem Haus, die sich ständig über mich und meine Hunde beschwerte. Sie schien mich nicht zu bemerken, als sie vorbeikam, in einer Hand ihr Telefon, mit der anderen nahm sie ihren Firmenausweis ab. Sie steckte die Karte in ein Fach ihrer Aktentasche. Ich war kurz in Versuchung, sie zu mausen und mich damit hineinzuschmuggeln, aber das hob ich mir dann doch für den echten Notfall auf.

Ich hatte gerade entschieden, dass ich Zeit vergeudete, die ich besser mit Laufen, Schwimmen oder Essen verbracht hätte, da endlich erschien Cardozo. Sie hatte einen Mann bei sich, der mir entfernt bekannt vorkam. Ich packte mein Laptop ein und folgte ihnen aus dem Gebäude. Sie standen noch ein paar Minuten an der Ecke Jackson und Clark herum und besprachen etwas, dann stieg der Mann in einen schwarzen Wagen. Ich fürchtete, Cardozo könnte auf ein Lyft- oder Uber-Auto warten, aber sie ging zu Fuß die Jackson entlang nach Westen. Ich holte sie an der nächsten Ampel ein.

»Ms. Cardozo?«

Sie drehte sich überrascht um, keine Spur von dem humorvollen Funkeln im Blick.

»Ich bin V. I. Warshawski. Entschuldigen Sie, dass ich Sie auf dem Heimweg belästige, aber ich muss dringend mit Ihnen über Lydia Zamir sprechen.«

»Ja. Ich habe Ihre Nachricht gesehen. Sie wissen, wir haben ein Kontaktverbot gegen Zamir erwirkt; gleich morgen früh gehen wir zum Richter und erweitern es um Ihren Namen, da Sie ihre Erfüllungsgehilfin sind.«

»Moment mal!«, sagte ich. »Immer langsam mit den jungen Pferden. Anwälte und deren Erfüllungsgehilfinnen können sich überstürzte Schlussfolgerungen nicht leisten. Ich suche nach Ms. Zamir. Wie meine Nachricht besagt, ist sie verschwunden. Ihre Familie möchte sie dringend finden. Da es in der Vergangenheit Reibereien mit Ihnen und einigen der Anwälte gab, will ich nur sichergehen, dass sie nicht bei Devlin aufgekreuzt ist und Krach geschlagen hat.«

Cardozo zog einen Flunsch – nicht verärgert, sondern unentschieden. »Na, meinetwegen. Aber ich nehme unser Gespräch auf.«

West Jackson am Fluss bietet wenig gemütliche Eckchen für eine Unterhaltung. Wir gingen in einen Donutladen und setzten uns mit übel zerkochtem Kaffee an einen möglichst weit vom Fenster entfernten Tisch. Cardozo sagte es nicht ausdrücklich, aber sie wollte vermutlich ungern, dass irgendwelche Mitarbeitenden sie mit mir reden sahen.

Wir legten beide unsere Smartphones auf den Tisch und stellten sie demonstrativ auf Aufnahme.

»Niemand kann mir erklären, warum Zamir Sie nach dem Prozess aufs Korn genommen hat«, sagte ich.

»Sie nahm der Kanzlei den Urteilsspruch übel, das müssen Sie doch wissen.«

»Aber dabei haben Sie doch nun gar keine Rolle gespielt«, sagte ich. »Oder habe ich Ihre Stellung in der Firma falsch verstanden? Sind Sie Kanzleipartnerin?«

»Nö. Keine Anwältin. Bloß Rechtsanwaltssekretärin mit einem Händchen für Betriebsführung.«

Ich spielte ihr ein paar Ego-Bälle zu, fragte nach ihrer ­Karriere: vom Aufbau des Schreibbüros, während sie Privatsekretärin beim alten Mr. Devlin war – »einer der härtesten Prozess­anwälte der Stadt, aber ein echter Gentleman« – bis zur Leitung der Abteilung, nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte.

»Haben Sie zum Zeitpunkt des Morton-Prozesses noch für Mr. Devlin gearbeitet?«

»Er ist in den Ruhestand gegangen, lange bevor Hector Palurdo erschossen wurde. Und war beim Prozess schon tot. Zamir wollte mich nötigen, ihr Zugang zu vertraulichen internen E-Mails zu verschaffen. Sie wurde sehr hässlich bei ihren Anschuldigungen.«

»Sie wollte wohl wissen, wessen Entscheidung es war, Mortons Verteidigung zu übernehmen? Da bin ich nämlich selbst neugierig.«

»Es war eine interne Entscheidung der Seniorpartner. Das geht mich nichts an, Lydia Zamir auch nicht, und ganz bestimmt nicht Sie«, sagte Cardozo frostig.

»Zamir ging es schon was an«, wandte ich ein. »Ihr Gefährte war ermordet worden. Alles, was mit Arthur Morton zu tun hatte, betraf sie, auch der Prozess.«

»Sie hatte ein emotionales Interesse«, erwiderte Cardozo scharf, »kein rechtliches.«

»Hatte sie es deshalb auf Sie abgesehen?«, fragte ich in unschuldigem Ton. »Fand sie, als Frau müssten Sie mit ihrem Schmerz mitfühlen?«

»Damit hatte das nichts zu tun«, sagte Cardozo. »Sie behauptete, Palurdo hätte uns angeschrieben, ein paar Tage vor dem Konzert oder was das nun war, und sie wollte wissen, was er geschrieben hatte.«

»Und?«

»Und nichts. Wenn Palurdo mit der Kanzlei kommuniziert hat, dann nicht über meine Abteilung. Und selbst wenn ich etwas darüber wüsste, wäre das vertraulich. Sie war nicht mit ihm verheiratet. Sie hatte keinerlei rechtliche Grundlage für Einsicht in vertrauliche E-Mails.«

Ich trank einen Schluck Kaffee, ohne zu bedenken, wie bitter er war, und würgte. »Arthur Mortons Selbstmord muss doch ein Schock gewesen sein.«

Sie nickte. »Ich glaube, niemandem war das Ausmaß seiner Verzweiflung bewusst. Sein Vater war tot, die Farm war futsch, und seine ganze Aktion hatte nichts zur Lösung seiner Pro­bleme beigetragen. Vielleicht war es ein Fehler, dass wir versucht haben, ihm die Todesstrafe zu ersparen – seine Zukunft war ein dunkler Tunnel aus vielen einsamen Jahren.«

Das war ein unerwartet poetisches Bild, ergab aber durchaus Sinn. »Haben seine Anwälte ihm die Nikotinpflaster gebracht?«

Ihre Miene erstarrte, das kurze Wohlwollen verflog. »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.«

»Pardon. Neugier ist einfach das unverbesserliche Laster jeder Detektivin.« Ich bemühte mich um ein entschuldigendes Lächeln. »Was mir wirklich ungewöhnlich vorkommt, ist, an wie viele Einzelheiten Sie sich erinnern. Eine Großkanzlei wie Devlin hat so viele Verfahren laufen, das muss in Ihrem Kopf doch alles irgendwann verschwimmen. Mir jedenfalls würde es so gehen.«

Cardozo wirkte immer noch unnahbar. »Es ging in der Kanzlei rum, dass Sie Fragen stellen – Sie haben letzte Woche schon angerufen, oder? Wir alle haben die Fallakten noch mal durchgesehen und auf lose Enden abgeklopft.«

»Was haben Sie gefunden?«

»Es gibt ja immer lose Enden«, sagte Cardozo. »Aber beim Prozess haben wir uns strikt ans Protokoll gehalten, bis aufs letzte i-Tüpfelchen. Es gibt keinerlei Anlass für Sie oder sonst wen, Devlins Handhabung des Falles infrage zu stellen.«

»Das will ich ja gar nicht.« Ich versuchte so unschuldig dreinzuschauen wie ein Golden Retriever. »Bei meinen Fragen ging es immer nur um Lydia Zamirs Geschichte mit der Kanzlei. Warum Sie ein Kontaktverbot brauchten oder jedenfalls zu brauchen glaubten. Und ob sie noch mal bei Ihnen aufgetaucht ist, nachdem sie verschwand.«

»Sie wird doch erst seit, wie war das, nicht mal einer Woche vermisst?«

»Ms. Cardozo, wir wissen beide, dass Sie eine vorsichtige Frau sind und klug obendrein. Großkanzleien wie Devlin sind für Frauen ein Kriegsgebiet, und Sie haben sich sehr gut geschlagen. Also erzählen Sie mir bitte keine Märchen vom Überprüfen der Akte Morton, nur um sicherzugehen, dass es keine losen Enden gibt. Erzählen Sie mir lieber von den losen Enden, deren mögliche Enthüllung durch Zamirs aktuelle Lebenskrise Ihnen solche Sorgen macht.«

Sie quetschte ihren Pappbecher so heftig, dass der Kaffee über den Tisch schwappte und auf ihre Kleidung spritzte. Rasch betupfte sie ihren Blazer mit Papierservietten, aber die hinterließen Fusseln auf ihrem Revers.

»Das ist mein Stichwort zum Gehen – das hier muss in die Reinigung, bevor die Kaffeeflecken sich festsetzen.« Sie erhob sich gebieterisch, ganz die kompetente Schreibbürochefin, doch als sie zur Tür eilte, warf sie mir einen Blick zu, der an Panik grenzte.

Zu Hause schlug ich die Partner bei Devlin nach. Ihre Bilder prangten auf der Website der Großkanzlei. Ich fand den Mann, mit dem Cardozo gesprochen hatte, als sie Feierabend machte, einen Clarence Gorbeck, Seniorpartner. Ich betrachtete sein Gesicht, schmal, dunkle Augen, ein breiter dünner Mund, wie geschaffen dafür, Zeugen der Gegenseite den Kopf abzubeißen.

Als ich vom Laufen mit den Hunden zurückkam, rief ich Murray an und erzählte ihm, dass die Polizei einen Richterhammer gefunden hatte, der vielleicht die Tatwaffe beim Mord an Leo Prinz sein konnte. Er ließ prompt ein Trommelfeuer von Fragen los, die er, wie ich ihm erklärte, Sergeant Pizzello stellen musste; ich könne ihm nur sagen, was sie mir berichtet hatte – dass der Hammer in der Nähe der Bahnstation Forty-seventh Street aufgetaucht war.

Und am folgenden Morgen um vier Uhr früh setzte Coop Bär bei mir ab und versetzte das ganze Haus in Aufruhr.