Gegen neun klingelte es an der Tür. Mich weckte das nicht, wohl aber Bär, der mich aufgeregt winselnd mit den Pfoten bearbeitete. Erst als ich mich aus dem Tiefschlaf ins Halbbewusstsein kämpfte, hörte ich den Dauerton der Klingel, die ein hartnäckiger Finger gedrückt hielt. »Du meinst, das ist dein Knabe, der dich holen kommt? Ich hoffe und bete.«
Ich stolperte zur Wohnungstür und brummte in die Gegensprechanlage. Es war Sergeant Pizzello, eine schwere Enttäuschung sowohl für mich als auch für Bär.
»Bin gleich bei Ihnen«, knurrte ich durch den Lautsprecher.
Ich ließ mir Zeit, stellte die Espressomaschine an, putzte mir die Zähne, duschte kurz. Als ich aus dem Bad kam, stand Pizzello auf die Klingel gelehnt vor meiner Wohnungstür: Jemand hatte sie ins Haus gelassen. Die Sergeantin rief mich gleichzeitig auf dem Handy an. Ein Blick durch den Türspion verriet, dass sie einen Uniformierten dabeihatte. Ein offizieller Besuch also. Oder Verstärkung für den Fall, dass ich meine Superkräfte einsetzte.
»Ich weiß nicht, ob du was von Recht verstehst«, sagte ich zu Bär, »aber kein besonnener Mensch lässt Cops in die Wohnung. Sie können nämlich alles durchsuchen, weißt du, auch ohne Beschluss, wenn du sie erst mal reingebeten hast.«
Ich ging mit ihm hinten über die Küchentreppe nach draußen, ließ ihn sich im Garten erleichtern und umrundete dann das Haus. Bevor ich wieder zu meiner Wohnung hochstieg, klingelte ich bei Donna Lutas.
Sie kam sofort an die Tür, doch ihre eifrige Miene wich Bestürzung, als sie sah, dass ich es war, nicht die Polizei.
»Es ist schon fast zehn, Lutas«, sagte ich. »Erwartet Devlin & Wickham nicht von Subalternen, dass sie um sieben da sind und bis Mitternacht bleiben? Ich möchte doch nicht, dass Sie verschlafen und Ihre Chancen auf Beförderung vermasseln.«
»Dank Ihnen habe ich letzte Nacht kaum geschlafen, genau wie alle anderen hier im Haus. Ich arbeite heute Vormittag im Homeoffice. Einer der Seniorpartner ist mir behilflich, eine formelle Beschwerde über Sie bei der Hausverwaltung einzureichen.« Sie knallte die Tür zu. Und das, wo ich mich auch mal als gute Nachbarin erweisen und ihre Karriere unterstützen wollte.
Hinter Mr. Contreras’ Tür erhoben Mitch und Peppy wilde Forderungen, endlich zu mir zu stoßen. Mein Nachbar ließ sie raus, und sie schossen die Treppe hoch. Bär, eingeschüchtert und verwaist, blieb dicht bei mir und winselte, als mein Duo ihn aus dem Weg zu drängeln versuchte und scharfe Befehle bellte. (Sie gehört uns. Geh zu deinem eigenen Menschen.) Ich hielt mich am Treppengeländer fest, damit sie mich nicht umwarfen.
Sergeant Pizzello trat uns auf dem obersten Treppenabsatz entgegen.
»Sie wissen, ich warte auf Sie, und lassen mich hier zwanzig –«, sie sah auf ihre Uhr, »genau einunddreißig Minuten stehen. Keine Ahnung, wie Sie bei solchen Arbeitszeiten Ihren Lebensunterhalt verdienen, bei mir würden Sie nach zwei Tagen aus der Probezeit fliegen.«
»Sergeant, wenn ich geahnt hätte, dass Sie keinen Tag verstreichen lassen können, ohne mich zu sehen, hätte ich mir den Wecker gestellt. Ich wurde mitten in der Nacht von der Ankunft dieses Kollegen hier rausgehauen.« Ich kraulte Bär hinterm Ohr. Seine Haut war verkrampft, seine Schnauze zu einem starren Fletschen der Besorgnis verzogen.
»Es heißt, Sie sind die Tochter eines Cops. Da sollten Sie es besser wissen, als Spielchen mit mir zu spielen. Wenn es nicht dringend wäre, hätte ich Ihnen eine SMS geschickt.«
»Geht es um Lydia Zamir?«, fragte ich voller verspäteter Befürchtungen: Bilder von Lydias ausgemergelter Leiche unter einem Busch im Wildnisstreifen huschten durch meinen Kopf.
»Es geht um den Mann namens Coop«, sagte Pizzello schmallippig. »Soweit ich weiß, ist er letzte Nacht hier gewesen. In den frühen Morgenstunden.«
»Stimmt. Hab ich doch eben gesagt – er hat seinen Hund hier abgesetzt. Woher wissen Sie davon? Ich hab es nicht gemeldet.«
Pizzello bleckte die Zähne als Parodie eines Lächelns. »Material aus den Meldungen von heute früh. Die Polizei ist vielleicht nicht ganz so clever wie eine Privatschnüfflerin, aber beharrlich Hinweis um Hinweis nachzugehen bringt uns gemeinhin ans Ziel.«
Ich dachte kurz nach. »Aha. Meine Nachbarin Donna Lutas hat sich in Bürgerinnenpflicht ergangen und beim hiesigen Revier angerufen, wo man von ihren Beschwerden über meine Hunde die Nase voll hat, weshalb niemand gekommen ist. Aber Sie haben beim Durchgucken der gesamtstädtischen Meldungen gestutzt, weil irgendwas in der Formulierung Sie an Coop und Zamir denken ließ.«
Pizzello nickte langsam. »Wir haben über ein paar unserer geheimen Informanten verbreiten lassen, dass wir vielleicht eine Spur zu dem Hammer haben, der wir heute folgen wollen. Alle meine Streifen kennen Coop oder zumindest den Hund Bär. Also haben wir das Loch überwacht in der Annahme, wenn Coop davon hört, kommt er hin, um den Hammer zu holen. Er hat sich nicht blicken lassen, aber als ich die Meldung sah, dass mitten in der Nacht ein Hund aufgetaucht ist und die Bewohner einer Adresse aus dem Schlaf gerissen wurden, die ich als Ihre kenne, schloss ich auf Coop. Und jetzt will ich reingehen und mit ihm reden.«
»Er ist nicht hier, Sergeant.« Ich sah ihr fest in die Augen. »Aber wenn Sie einen richterlichen Beschluss haben?«
Ihre Miene verfinsterte sich. »Wie wäre es, wenn Sie sich mal fünf Minuten in Bürgerinnenpflicht ergehen, Warshawski? Warum schützen Sie ihn?«
»Tu ich nicht. Ich weiß nicht, wo er steckt. Er hat bei mir geklingelt. Ich bin runter und fand seinen Hund draußen angebunden vor, dazu einen Zettel, dass ich mich um ihn kümmern soll. Als ich das las, war Coop schon spurlos verschwunden.«
Ich trommelte mit den Fingern auf dem Geländer, rang mit mir. »Mein Anwalt zieht mir die Haut ab, wenn er davon erfährt, aber hier ist mein Angebot: Sie schwören, dass Sie kein Stück Papier anfassen und kein elektronisches Gerät, nicht mal meine Kaffeemaschine, auch kein Möbelstück, dann lasse ich Sie in allen Schränken und unter meinem Bett nachsehen, ob Sie auch nur eine Spur von Coop finden.«
Ich nahm mit dem Handy auf, wie sie meinen Bedingungen zustimmte, unter dem Vorbehalt, dass sie Coops Zettel bekam. Dann gestattete ich ihr Zutritt, ließ ihren Gefolgsmann aber mit allen drei Hunden im Treppenhaus. Keinem der vier passte das.
Pizzello schritt durch meine Räume, überprüfte das Bad, die Wanne hinter dem Duschvorhang, den begehbaren Schrank im Flur, meinen Schlafzimmerschrank mit dem Safe, wo ich meine Waffe aufbewahre. Ich öffnete ihn sogar für sie. Sie wollte meine Lizenz sehen. Ich zeigte sie vor. Sie spähte in alle Küchenschränke und überprüfte dann die Hintertreppe.
»Sie hätten ihn natürlich leicht rausschmuggeln können. Echt blöd von mir, hier hinten keinen Posten aufzustellen.«
»Sergeant, er war nie in meiner Wohnung. Ich will auch die Verantwortung für seinen Hund nicht. Ich such ihn selber, ich will wissen, was er mit Lydia Zamir gemacht hat, die meines Wissens halb tot ist vor Unterernährung und Verwahrlosung.«
»Woher wissen Sie, dass er Zamir hat?«
»Ich weiß es gar nicht. Reine Hoffnung, schätze ich, Hoffnung, dass sie noch am Leben ist, noch gerettet werden kann. Coop ist dem Hörensagen nach der einzige Mensch, den sie in den letzten Monaten in ihrer Nähe geduldet hat. Da ihr sie nicht im Biotopkorridor gefunden habt, kann ich nur hoffen, Coop hat sie sich geschnappt und ihr ein Bett, ein Bad und was zu essen besorgt.«
Auf einmal fühlte ich mich furchtbar ermattet, das ging über die rein körperliche Müdigkeit meiner kurzen Nacht hinaus, und sackte auf den Klavierhocker. Nun kann ich nicht in der Nähe des Klaviers sein, ohne an meine Mutter zu denken, meine hitzköpfige musikliebende Mutter, die im Krieg fast nicht überlebt hätte und später hinter einem Labyrinth aus Schläuchen krepierte. Sie hätte zu Hause sein sollen, bei meinem Vater und mir, hätte in unseren Armen sterben sollen. Warum hatten wir dem großen medizinischen Schlund erlaubt, ihre letzten Tage zu verschlucken?
Ich schlug auf der Klaviatur einzelne Töne an und sprach, ohne der Sergeantin ins Gesicht zu sehen. »Wir reden heutzutage so gern von Resilienz. Resilienz und was immer das Gegenteil davon ist. Vielleicht Zusammenbruch. Als könnte man Resilienz lehren oder lernen. Das ist doch im Grunde wieder nur eine Art, Menschen abzuwerten, die zusammenbrechen. Die es nicht aushalten, nicht resilient genug sind. Immer wenn in diesem Land ein Massenmord durch Amoklauf stattfindet, wird ein Team von Trauma-Experten hingekarrt, die vom Absorbieren so viel unaushaltbaren Leids bestimmt selbst ein Trauma kriegen. Lange nach Parkland, lange nach Newtown bringen Überlebende sich immer noch um. Aber Lydia Zamir hat aus dem Leid so was wie Performancekunst geschaffen.«
Pizzello starrte mich an. »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen. Dass ihre Verwirrtheit geschauspielert war?«
Ich merkte, dass ich Didos Klage klimperte: Remember me, remember me. »Nein. Sondern dass es die einzige Möglichkeit war, wie sie einen Alptraum ausdrücken konnte, der nicht ausdrückbar ist. Aber egal, ich kann gar nicht für sie sprechen. Ich versuch mir nur die Hölle in ihrem Kopf vorzustellen.«
Ich ging in die Küche, um Kaffee zu machen. Ich bereitete zwei Espressi und gab die eine Tasse Pizzello, die meinen Kühlschrank öffnete.
»Coop ist nicht da drin«, sagte ich.
»Ich suche Milch«, sagte sie.
»Das Ähnlichste, was ich dahabe, ist Kefir«, sagte ich. »Das war gerade wie ein Sinnbild für Ihre Vorgehensweise, oder? Das Überrumpelungsmanöver in der Hoffnung, mich bei irgendwas zu erwischen, dabei bräuchten Sie bloß zu fragen, um Klarheit zu haben. Und wo wir gerade vom Fragen reden, kann dieser Typ von SLICK, der Hammerschwinger, den Richterhammer vorweisen, mit dem er so gern klopft? Er ist Securitymann in einer Bücherei. Ich wette, in seiner Uniform kann er kommen und gehen, wie er will, und keinem fällt was auf.«
»Guter Punkt. Wir haben die Forensik gebeten, dem Hammer oberste Priorität zu geben, aber Sie wissen ja, wie es in einem unterfinanzierten Revier zugeht. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob Fingerabdrücke am Griff sind oder Spuren von Leo Prinz am Schlagkopf.«
»Das war nicht meine Frage«, sagte ich.
»Das ist meine Antwort.« Sie stellte ihren Espresso ab, ungetrunken. »Das Zeug ist widerlich ohne Milch.«
»Was macht Sie so sicher, dass Coop der Mörder ist?«, fragte ich.
»Meine Streife hat mir erzählt, wie wütend er bei der SLICK-Versammlung auf den Prinz-Jungen war. Es stand in keinem Verhältnis zu dem, was Prinz gesagt oder getan hat.«
»Er war nicht der einzige Anwesende, der sich danebenbenahm«, sagte ich. »Der SLICK-Mann, der den Papierkram macht, Simon Lensky, hat sich mit Leo angelegt. Von da, wo ich saß, sah es aus, als hätte Leo etwas gesehen, was sie gedeckelt halten wollten; Leo und Simon schienen darüber in Streit zu geraten. Und dann griff Taggett ein, geschmeidig wie ein alter Scotch, und lenkte die Aufmerksamkeit von der Bühne weg. Ach übrigens, wissen Sie, dass Simon nach der Versammlung überfallen wurde? Und jetzt ist er verschwunden. Seine Chefin hat keine Ahnung, wo er steckt.«
Pizzello sagte: »Wenn Sie glauben, der Park-Superintendent ist in den Mord an Leo Prinz verwickelt, sind Sie verrückter als Lydia Zamir.«
»Mag sein«, stimmte ich zu. »Ich will nur sagen, dass es da im Versammlungssaal rund um Leo diverse Reibereien gab. Die keineswegs alle von Coop ausgingen. Ich wüsste gern, warum er der Einzige ist, für den Sie sich interessieren.«
Sie presste die Lippen zu einer sturen Linie zusammen. »Er ist abgehauen. Sobald ihm jemand gesteckt hat, dass wir ihn suchen, ist er abgehauen. Alle anderen sind da, wo wir jederzeit mit ihnen sprechen können.«
Ich lächelte ausdruckslos. »Großartig. Das heißt, auch wenn Sie Mona Borsa oder Curtis Murchison nicht befragen wollen, kann ich es tun.«
Sie fuhr auf, aber sie konnte mir keine ernsthafte Warnung mehr verpassen, ihre Zeugen in Ruhe zu lassen, ohne sich vollends lächerlich zu machen.
»Ach, noch was«, sagte ich, als ich sie zur Tür brachte, »wissen Sie inzwischen, wo Coop wohnt? Es ist doch unglaublich, dass ihr euch in der Hoffnung, ihn zu fassen zu kriegen, an den Bahngleisen auf die Lauer legen müsst.«
»Sollte man meinen«, bestätigte sie bitter. »Alle sehen ihn ständig, aber keiner weiß, wo er wohnt. Die Obdachlosen unter der Darrowbrücke im Jackson Park sagen, er ist oft mitten in der Nacht im Park unterwegs. Ihnen ist er an der Ufermeile begegnet. Andere Leute haben ihn bei Lebensmittelläden in Hyde Park gesehen. Niemand weiß, ob Coop sein Vor- oder Nachname ist. Aber es gibt ja bloß vier- oder fünftausend Leute namens Coop in Illinois. Meine Technik-Nerds versichern mir, dass wahrscheinlich keiner davon unser Mann ist. Er könnte genauso gut ein Vampir sein, der irgendwo in einer Höhle haust. Nur dass meine Streifenjungs mir sagen, dass er nicht obdachlos aussieht.«
»Ein Vampir in einer Höhle?«, echote ich höhnisch. »Und Sie nennen mich verrückt?«