31
Alle jagen mit

Beim Essen berichtete ich Peter, wie ich Simon Lenskys Leiche gefunden hatte, redete mir etwas von dem Schrecken über den Mord von der Seele. Ich erzählte ihm auch von dem Foto, das Elisa Palurdo aus Lydias Wohnung mitgenommen hatte.

»Und dann ist da noch diese bizarre Nummer mit Donna Lutas – du weißt schon, die Nachbarin, die unten wohnt –, jetzt hat sie Anweisung, mir bei der Suche nach Lydia Zamir zu ­helfen.«

Peter hörte interessiert zu, konnte dem Ganzen aber auch nicht mehr Sinn abgewinnen als ich. »Ich kann dir nur das Mantra des Archäologen anbieten: Grab weiter, du weißt nie, wie tief manche Knochen unter der Erde liegen.«

Am Morgen sagten Peter und ich uns auf Wiedersehen. Er brach am Abend nach Ankara auf, und wir beide hassten Flugplatzabschiede.

»Lass niemanden mit einem Holzhammer in deine Nähe«, murmelte er in meine Haare. »Ich mag deinen Kopf so, wie er ist. Manchmal denk ich, ich wäre sogar im Sudan oder in Syrien sicherer als du in Chicago.«

Ich versuchte irgendwas Unbekümmertes zu sagen, aber es klang sogar für meine Ohren flach. Hoffentlich war ich nicht im Begriff, alt zu werden, das Risiko zu fürchten, Trost in den Armen eines Geliebten zu brauchen, doch es fiel mir schwer, ihn loszulassen.

Als er weg war, nahm ich die Hunde mit auf einen langen Spaziergang, alle drei, und versuchte die Beklommenheit abzuschütteln, die der Abschied von Peter hinterlassen hatte. Auch Bär litt an Melancholie. Er trottete neben mir her und weigerte sich, mit Mitch anzubandeln, der ihn piesackte.

Als wir nach Hause kamen, rief ich einen Hundeausführservice an und machte Termine für Mitch und Peppy. Ihren und Bärs Auslauf in meinen Zeitplan zu quetschen brachte mich hart an den Kipppunkt – den Punkt, an dem ich umkippte und nicht mehr hochkam.

Sobald das erledigt war, fuhr ich ins Büro und nahm Bär mit, nicht nur, damit Mr. Contreras Mitch nicht ständig davon abhalten musste, ihn zu triezen, sondern auch, falls ich eine Spur zu Coop fand, um ihm seinen Hund so schnell wie möglich aufs Auge zu drücken.

Wir machten es uns gemütlich, die eine mit einem Cortado, der andere mit einem Kauknochen unterm Schreibtisch, und ich rief Mona Borsa von SLICK an. Als sie sich meldete, erkannte ich ihre Stimme kaum, so sehr hatte sie sich im Schock über den Tod ihres Mitstreiters verändert.

Sie und Simon Lensky hatten sich seit dreißig Jahren gekannt, erzählte sie mir mit ihrer zittrigen neuen Stimme. Sie hatten sich bei gemeinsamer Stadtteilarbeit kennengelernt, waren in dieselbe Kirche gegangen und hatten dann in den letzten elf Jahren mit Curtis Murchison zusammen das alte Stadtteil­gremium SLICK wieder auf die Beine gebracht.

Ich lauschte eine Weile ihren Erinnerungen und ihrer Trauer. Als ich den Eindruck hatte, dass sie bereit war, über Lenskys Tod zu reden, fragte ich, ob sie wusste, warum er zu Coop in die Wohnung gegangen war. »Die Polizei weiß es nicht«, erklärte ich.

»Ich begreife das einfach nicht.« Sie weinte. »Coop – wir alle hatten die Nase voll von Coop. Immer störte er unsere Versammlungen. Wir machen regelmäßige Aufräumtage im Park, Sie haben es ja gesehen. Wir pflanzen Bäume, wir versuchen die Strände von Scherben und gebrauchten Windeln frei zu halten, aber egal was wir taten, Coop wusste prompt, dass es falsch war.

Er hat einen unserer Freiwilligen angegriffen, nur weil er auf den Laufwegen Roundup eingesetzt hat. Ich meine tätlich angegriffen, mit den Fäusten. Er sagte, wir würden damit Hunde und Eichhörnchen umbringen, wahrscheinlich sogar Ratten, die an den Pflanzen nagen. Wenn man Coop tot in der Badewanne gefunden hätte, wäre das plausibel, er hat so viele Leute gegen sich aufgebracht. Aber Simon? Er war überhaupt nicht der Typ, der Streit sucht. Nach dem Tod seiner Frau, das war vor acht – nein, es ist schon neun Jahre her –, da hat er sich in die Geschichte Chicagos vergraben. Er liebte seine Sammlung alter Geschichts­bücher, er liebte das Seeufer. Er schrieb an einer Geschichte des Sees von La Salle bis Lightfoot. Was für einen Grund hatte dieser Irre, ihn zu töten, außer dass er ein Irrer ist?«

»Wissen Sie, ob Coop Simon in die Wohnung bestellt hat?«

»Ja.« Mona schniefte. »Er hat eine Textnachricht bekommen, dass Coop ihm etwas zu den Strandplänen zeigen muss.«

Das ergab keinen Sinn: Coop mied das Netz und alles Digitale. Er verwendete keine Geräte, mit denen man ihn tracken konnte. Wenn er ein Telefon benutzte, dann kein Smartphone. Vielleicht hatte er ein Wegwerfhandy, aber ein altmodisches Münztelefon schien am ehesten sein Stil.

»Sind Sie sicher, dass die Nachricht von Coop kam?«

»Sein Name stand darunter. Simon hat sie mir geschickt, ich hab sie selbst gesehen.«

Ich überredete sie, mir die SMS weiterzuleiten, aber sie schickte mir nur den rauskopierten Text ohne die Absendernummer:

 

Sie werden bei dem Strandprojekt als Bauernopfer missbraucht. Kommen Sie heute Abend um sieben zu mir, ich zeige Ihnen die echten Pläne. Coop.

 

Die Nachricht schloss mit der Adresse von Lydias Wohnung in Ingleside.

»Warum ist er allein hin, wo er doch wusste, dass Coop oft von jetzt auf gleich durch die Decke geht?«, fragte ich.

»Ich weiß. Ich hab ihm gesagt, er soll es sein lassen, aber er meinte, um die Tageszeit wäre es ja noch hell und jede Menge Leute unterwegs …« Ihre Stimme versiegte in einem neuen Tränenausbruch.

»Erzählen Sie mir mehr über den Entwicklungsplan für das Seeufer«, sagte ich, als sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte. »Leo Prinz hat auch daran gearbeitet. Leo ging die Karten und Dokumente durch, die Mr. Lensky vorbereitete. Gab es bei den Plänen irgendwelche Kontroversen?«

»Bei Veränderungen gibt es immer Kontroversen. Manche Leute hassen Veränderung – Coop war so einer, und diese Nashita Lyndes, die immer all unsere Vorschläge zerpflückt, ist auch so eine. Die Stelle, wo sie den neuen Strand planen, ist doch jetzt völlig unbenutzbar, sofern man nicht über Felsen und Geröll klettern möchte. Es wäre ein solches Geschenk für die South Side. Nie kriegen wir die Stadt dazu, unseren Bedürfnissen mal Rechnung zu tragen, und dann versuchen die beiden unser Projekt zu torpedieren, noch bevor es in Gang kommt.«

»Bei der letzten SLICK-Versammlung, wo Leo Prinz sprach, gab es zwischen ihm und Mr. Lensky Unstimmigkeiten über die eine Karte oder Grafik«, sagte ich.

»Das war nichts«, sagte sie. »Ich habe Simon anschließend danach gefragt, weil Leo so einen Aufstand gemacht hat. Simon sagte, es ging um eine alte Karte aus den Dreißigern, die er für sein Buch brauchte, bloß war sie ihm in das Strandprojekt geraten. So etwas passierte ihm ständig, er war so ein – also kein richtiger Messie, nur Papiere, aber da hortete er jedes Dokument, das ihm in die Hände fiel.«

»Ich würde mir Simons Papiere gern mal ansehen. Wann kann ich im SLICK-Büro vorbeikommen?«

»Oh, das können Sie nicht«, rief sie. »Er hat sie nie bei uns gelassen, auch nicht sonst irgendwo, nur in seiner Wohnung. Und dann wurde er doch nach der letzten Versammlung überfallen. Jemand hat seinen Aktenkoffer geschnappt – so einen großen, wie ihn Architekten benutzen. Da waren all seine alten Karten vom Seeufer drin und auch die neuen, die Mr. Taggett uns gegeben hat. Darum wollte er sich ja mit Coop treffen. Er dachte, er könnte mit Coop reden und dass der ihn überfallen hätte, um an die Pläne zu kommen. Simon wollte ihn über­zeugen, sie zurückzugeben. Er hat die alle nie kopiert – Leo sollte ihm dabei helfen, aber sie waren noch nicht dazu ­gekommen.«

Sie sprach noch ein paar Minuten darüber, wie unersetzlich Simon war. Die Karten und die Zeichnungen vom geplanten neuen Strand hatten sie alle von der Parkbehörde bekommen, aber Simons Analyse, seine Kostenschätzungen, bei alldem mussten sie ganz von vorn anfangen. »Und ohne Leos Hilfe – ich weiß gar nicht, wie wir das schaffen ­sollen.«

»Achten Sie vor allem auf Ihre eigene Sicherheit, Mona«, sagte ich. »Leo und Simon, beide ermordet, das klingt mir nicht nach Zufall. Sie und Ihr Freund Curtis müssen vorsichtig sein.«

»Sergeant Pizzello sagt, sie lassen Streifen bei unseren Häusern Patrouille gehen, aber es hängt alles daran, wie schnell sie Coop fassen können«, sagte sie. »Der Hund, den er dabeihat, tötet wahrscheinlich auf sein Kommando, darum trage ich jetzt einen Halsschutz, wenn ich abends rausgehe.«

Als sie aufgelegt hatte, sah ich Bär an. »Coop springt vielleicht Leuten an die Gurgel, aber du kommst mir eher vor wie der mäßigende Einfluss in eurer Beziehung.«

Er sah mich traurig an – die Verantwortung, Coop unter Kontrolle zu halten, lastete schwer auf ihm.

Ich lehnte mich in meinem Schreibtischstuhl zurück und starrte an die Decke. Zwei der Akustikfliesen hatten sich ­gelockert, die anderen waren verdreckt oder voller Spinnweben oder beides. Da hochsteigen, sie säubern und reparieren, das kam als Nummer 713 auf meine Aufgabenliste.

Ich schloss die Augen. Ohne Zufälligkeiten würden die Romane von Dickens nicht aufgehen, daher wusste ich, dass es welche gab. Aber Leo und Simon tot, Simon überfallen und seine Papiere gestohlen, Leos Computer weg – das war sogar für Bleak House zu viel des Zufalls.

Mona nahm es als gegeben, dass Coop der Mörder war. Leo war mit dem Holzhammer von SLICK erschlagen worden, somit müsste Coop ihn stibitzt, dann Leo in den Park gelockt und ihn umgebracht haben. Ich wusste nicht, was für eine Waffe bei Simon verwendet worden war, aber es war ebenso ein im Voraus geplanter Mord.

Coops Jähzorn konnte ihn sicherlich an den Punkt bringen, wo er massiv handgreiflich wurde – so wie bei der Person, die Roundup in den Park gekippt hatte –, aber würde er sich hinsetzen und vorsätzlich eine Tötung planen? Er wirkte so gar nicht wie jemand, der vorausdachte, aber als er seinen Hund bei mir ließ und verschwand – da war er ganz klar vor jemandem geflohen oder zumindest irgendwohin abgehauen.

»Wo ist er hin? Warum ist er weg?«, fragte ich Bär. »Hat es was mit Lydia zu tun? Und wo ist sie?«

Wenn sie im Park gestorben wäre, hätte bestimmt inzwischen jemand ihre Leiche entdeckt. Ich hoffte, Coop war derjenige, der Lydia gefunden hatte. Ich hoffte, er hatte sie irgendwo in Sicherheit gebracht.

Coop, Lydia. Coop, Elisa Palurdo. Coop, Leo Prinz und Simon Lensky. War er wirklich der Dreh- und Angelpunkt, von dem die Ereignisse um all diese Leute ausgingen?

Ich rief in meiner Datenbank Debbie Zamir auf, Lydias Mutter, und wählte ihre Nummer.

»Ich spreche nicht mit Reportern.«

»Ich bin keine Reporterin, Ma’am. Ich bin Ermittlerin. Wir haben kürzlich schon mal miteinander gesprochen, aber ich rufe erneut an, weil ich Ihre Tochter vor vier Tagen dem Tode nahe in einem Chicagoer Park gefunden habe. Sie ist wieder verschwunden, und ich hoffe und bete, sie ist irgendwo, wo sie sich erholen und wieder zu Kräften kommen kann.«

Zamir war kurz still. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme sanfter. »Glauben Sie, dass sie tot ist? Ich hatte heute Anrufe von einem halben Dutzend Reportern, sogar jemand aus New York, aber keiner von ihnen hat das erwähnt.«

»Ich weiß nicht, wie lange sie ohne Nahrung und anständige medizinische Versorgung noch überlebt. Und einen Ort, wo sie ungestört die Nacht durchschlafen kann. Ihr Freund Coop ist auch verschwunden. Ich brauche irgendeinen Faden, dem ich folgen kann, eine Idee, wo sie sein könnten.«

»Ich weiß es nicht.« Jetzt klang sie besorgt um ihre Tochter, endlich, die Streitlust war aus ihrem Ton verschwunden. »Es ist so lange her, dass wir uns gesprochen haben. Ich weiß von keinem Faden.«

»Coop ist ein Mann um die vierzig mit einem großen gelbbraunen Hund. Haben Sie den noch nie gesehen?«

Sie zögerte eine Sekunde zu lange. »Eine Menge Leute sind nach dem Massaker hier gewesen. Lydia war in der Highschool nicht so beliebt, aber ihre Musik hat alle mögliche Aufmerksamkeit erregt. Dazu noch die traurige Berühmtheit einer großen Schießerei – da sind jede Menge seltsame Männer angerückt. Die haben Blumen und Räucherstäbchen mitgebracht, als wäre das hier ein Friedhof. Junge Frauen sind auch gekommen, mit Indianerkostümen verkleidet, und haben dieses Lied von ihr gesungen, das alle so mochten. Wir mussten den Sheriff rufen, um sie von unserem Land zu verjagen, und dann haben sie einfach auf der anderen Seite vom Fluss gelagert mit ihren Kerzen. Manche von denen hatten Hunde, aber die habe ich mir nicht gemerkt.«

»Als diese Leute kamen, mit welchen davon hat Lydia gesprochen?«

»Sie hat mit keinem von ihnen gesprochen«, sagte Zamir.

»Sie ist nie ans Fenster gegangen, um zu sehen, wie die jungen Frauen ›Savage‹ sangen?«

»Ich war ihre Mutter und nicht ihre Gefängniswärterin. Was weiß ich, was sie in ihrem Schlafzimmer gemacht hat.« Jetzt klang sie scharf.

»Besitzen Sie eine E-Mail-Adresse? Wenn ich Ihnen ein Bild von dem Hund schicke, könnte das Ihrer Erinnerung auf die Sprünge helfen. Ich versuche verzweifelt, Ihre Tochter zu finden, und Coop, der Mann mit dem Hund, er ist meine einzige Spur.«

»Denken Sie denn, ich bin nicht verzweifelt? Mein einziges Kind? Aber sie hat sich schon vor so langer Zeit so unendlich weit von mir entfernt, wie also glauben Sie sie zurückbringen zu können?«

Sie schwieg, wartete darauf, dass ich mit der richtigen Antwort kam, aber mir fiel nicht ein, wie die lauten könnte. Schließlich legte sie auf.

Ich starrte noch eine lange Minute meine schmutzige Zim­merdecke an, bevor ich nochmals Murray Ryerson anrief. »Du hast Konkurrenz bei der Zamir-Story, Murray. Jede Menge Reporter belästigen Debbie Zamir. Lydias Geschichte hat sogar jemand von östlich des Hudson River auf den Plan gerufen. Warst du persönlich in Kansas?«

»Nicht, dass dich das was angeht, aber ich stehe gerade auf dem Flughafen von Kansas City, Warshawski. Diesmal habe ich es bei den Zamirs nicht über die Schwelle geschafft, was mir sagt, dass da wohl jemand schneller war als ich. Hat sie dir verraten, wer ihr für die Story mehr geboten hat?«

»Du warst da und hast ihr Geld angeboten?« Ich schrie fast vor Entrüstung. »Debbie Zamir fürchtet um das Leben ihrer Tochter, und du wolltest sie bezahlen, damit sie darüber spricht?«

Er fing an, sich zu rechtfertigen, aber ich legte auf und schickte Donna Lutas bei Devlin & Wickham eine Textnachricht:

 

Ich bin dankbar für das Angebot Ihrer Mitarbeitenden, mir bei der Suche nach Lydia Zamir zu helfen. Können wir morgen anfangen?