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A Little Help from my Friends?

Bevor ich am nächsten Morgen zur Kanzlei fuhr, rief ich Mona Borsa an, um ihr von meinem vergeblichen Abstecher zur Parkbehörde zu berichten.

»Die sagen, alle Entwürfe sind nur vorläufig und dass nichts von den Planungsskizzen zur öffentlichen Einsicht freigegeben ist, also was haben Sie bei den Versammlungen gezeigt?«

»Man hat uns Skizzen gegeben, wir haben die Skizzen gezeigt.« Ihr Stimme klang müde. Simons Tod hatte sie apathisch werden lassen.

»Warum hält Taggett sie dann jetzt zurück?«

»Keine Ahnung. Vielleicht weil Simons Kopien weggekommen sind, als seine Aktentasche gestohlen wurde. Die müssen wohl sicherstellen, dass sie dasselbe Material benutzen, das sie uns gegeben haben, also gleichen sie ihre Unterlagen ab. Stelle ich mir vor. Warum stört Sie das?«

»Ich versuche herauszufinden, ob die Pläne bei den Morden an ihm und Leo eine Rolle gespielt haben. Leo hat sich doch mit ihm über eine Karte gestritten, erinnern Sie sich?«

»Nein.« Ihr Ton wurde scharf. »Das ist Ihre Auslegung, nicht meine. Ich erinnere mich an überhaupt keinen Streit.« Sie legte auf.

Mit der Parkplatzsuche beim alten Fort Dearborn-Building hatte ich auch an diesem Morgen Glück. Donna Lutas war offenbar auf mich eingestellt – der Wachmann schickte mich gleich rauf zum zehnten Stock. Lutas erwartete mich an den Fahrstühlen mit einer anderen jungen Frau, beide in der Uniform junger Karrieristinnen – Blazer, maßgeschneiderte weiße Bluse, Bleistiftrock. Lutas wollte uns unverzüglich in Richtung Kanzleibüro schieben, aber ich wandte mich ihrer Begleiterin zu, hielt ihr die Hand hin und stellte mich vor.

»Rikki Samundar aus der Zweigstelle Mumbai.« Sie ließ ein Lächeln aufblitzen, sehr weiße Zähne vor dunkler Haut. »Dann wollen wir mal sehen, was unsere drei Hirne leisten können, um diese unglückliche Sängerin zu finden.«

Mit dem Schwenk einer Schlüsselkarte öffnete sie schwere Edelholz-Flügeltüren und hielt mir die eine auf, damit ich die Hauptlobby von Devlin & Wickham betreten konnte. Die klobigen Möbel und dicken Vorhänge erzeugten eher die Atmosphäre eines Bestattungsinstituts als einer modernen Großkanzlei, aber die fast zwei Meter hohe Bronzestatue eines sich aufbäumenden Pferdes demonstrierte das Engagement der Seniorpartner für die bildende Kunst.

»Zweigstelle Mumbai?«, fragte ich Samundar. »Wie ist denn Lydia Zamir auf den Radar von Mumbai geraten?«

Samundar ließ wieder ihr Lächeln blitzen, nicht geteilt von Lutas, die ihre Schultern so steif hielt, dass ich hätte Stücke herausbrechen können.

»Studiert habe ich für eine Zulassung unter britischem und indischem Recht, aber bei Devlin brauchen alle Anwälte praktische Erfahrung mit dem US-amerikanischen Rechtssystem, egal wo wir stationiert sind. Ich gehöre zu den Glücklichen, die ein Referendariat hier in der Zentrale ergattert haben. Und als die Kanzlei die Verteidigung von Arthur Morton übernahm, war ich in dem jungen Rechercheteam.«

Sie blieb stehen, um beim Empfang zu hinterlassen, dass wir in Konferenzraum L gingen und Anrufe für sie und Lutas in der nächsten Stunde dorthin durchgestellt werden sollten. Konferenzraum L bot einen Teewagen mit Kaffee und alkoholfreien Getränken, ein Lautsprechertelefon, einen Wandmonitor, Notiz­blöcke und einen Blick auf die Säulen der Federal Reserve Bank gegenüber.

»Eins hat meine Neugier geweckt«, sagte ich. »Wie kommt eine Kanzlei wie Devlin bloß auf einen Farmerjungen aus ­Kansas?«

Samundar lachte sanft. »Die ganze Welt hat doch von diesem Farmerjungen aus Kansas gehört, Ms. Warshawski. Aber tatsächlich haben wir Klienten unter den großen Ranchern im Westen des Staates. Sea-2-Sea hat Arthur Mortons Familie die Farm abgekauft, als sein Vater aufgeben musste. Die Einheimischen nahmen das übel, man fand, Sea-2-Sea habe den Jungen in die Verzweiflung getrieben und damit zu dem Mord. Dadurch, dass wir den Fall pro bono übernahmen und Sea-2-Sea die anfallenden Nebenkosten trug, konnten wir ein wenig die Wogen glätten.«

»Klingt ja höchst nobel«, sagte ich trocken.

»In einem großen Agrarstaat wie Kansas gibt es riesige Flächen mit viel Vieh und wenig Menschen.« Samundar breitete die Arme aus, um die Weiten des Westens anzudeuten. »Die Leute von Sea-2-Sea fanden Gift in ihren Brunnen, von fremden Weiden gestohlenes Vieh in ihren Herden. Es war wichtig, das Wohlwollen der Einheimischen zurückzugewinnen.«

Lutas beobachtete mich scharf, als prüfte sie, wie viel von dieser Geschichte ich schluckte. Ich lächelte liebenswürdig: Na klar, ich ziehe mit, ich folge eurer Version.

»Natürlich war Lydia Zamir durch den Mord an ihrem Gefährten hochgradig verstört«, sagte ich. »Die Goodwill-Geste von Sea-2-Sea kam bei ihr nicht gut an.«

»Rein persönlich war ich zutiefst bestürzt über ihren Zusammenbruch nach dem Prozess. Mein gesamter Freundeskreis liebte ihr Album Continental Requiem, besonders ›Savage‹.«

»Aber rein beruflich haben Sie das Kontaktverbot befürwortet.«

Samundar hob die Hände, Handflächen nach oben, die Geste der Hilflosigkeit. »Was sollten wir tun? Sie hat tatsächlich versucht, Clarence Gorbeck – unseren prozessführenden Verteidiger – tätlich anzugreifen, nicht nur im Gericht, sondern auch hier auf der LaSalle Street.«

»Und wie, meinen Sie, können Sie nun dabei helfen, sie zu finden?«, fragte ich.

»Ihr Freund war doch aus Chile.« Donna Lutas meldete sich erstmals zu Wort.

»Hector Palurdo war US-Amerikaner«, sagte ich scharf. »Er war in Chicago geboren als Sohn zweier US-Amerikaner.«

Lutas wedelte ungeduldig mit der Hand. »Sein Vater war aus Chile, das läuft doch aufs Gleiche hinaus. Wir haben unsere Zweigstellen in Santiago kontaktiert, um nach Zamir zu forschen. Wie es aussieht, hatte Hector Palurdo eine Tante, die vor langer Zeit dort gearbeitet hat. Die Zamir könnte da hingefahren sein, um seine Familie aufzusuchen.«

»Filomena Palurdo hat in Chile für Devlin gearbeitet?« Ich war so verblüfft, dass ich ihr die Ignoranz durchgehen ließ, Jacobos chilenische Herkunft mache Hector zwangsläufig zum Chilenen.

Jacobo hatte seiner Frau gesagt, seine Schwester sei ermordet worden. Oder zumindest hatte Elisa mir erzählt, dass Jacobo das gesagt hatte. Ich hatte keine Ahnung, welcher Version der Geschehnisse in dieser Geschichte ich überhaupt trauen konnte.

»Wann hat seine Tante denn für Sie gearbeitet?«, forschte ich.

»Vor sehr langer Zeit. Damals war es noch nicht Devlin«, sagte Lutas, »sondern eine Kanzlei, die wir erst 2013 übernommen haben. Und ihr Name –«

»Wurde auf viele verschiedene Weisen buchstabiert«, fiel ihr Samundar glatt ins Wort.

»Hector Palurdo war selbst in Chile, um seine Familie zu suchen, und konnte keine Spur von ihr finden. Wie haben Sie von seiner Tante erfahren?«

»Er war nur eine Person und auf sich gestellt, wir hingegen haben deutlich mehr Ressourcen.« Wieder Samundar, die geschmeidige Hälfte des Duos.

»Haben Sie denn die Info über Palurdos Tante zu Lydia Zamir durchsickern lassen?«, fragte ich. »Sie ist so gebrechlich, mental wie körperlich, die einzige Art, wie sie nach Santiago kommen könnte, wäre, dass jemand sie auf eine Trage schnallt und hinbringt.«

»Das ist so tragisch«, sagte Samundar. »Wir lassen auf jeden Fall unser Santiago-Team die Krankenhäuser abklappern, nur für den Fall, dass sie es doch bis da runter geschafft hat.«

Ich presste mir die Fingerspitzen gegen die Stirn, versuchte zu denken. Mir wurde hier ein selbstgestricktes Märchen über Jacobo Palurdos Schwester aufgetischt, aber warum?

»Ist Hectors Tante noch am Leben?«, fragte ich. »Wenn Sie Lydia wissen lassen, dass Sie die südamerikanische Familie ihres Gefährten gefunden haben, würde sie sie bestimmt aufsuchen, sofern sie die Kraft dazu hat.«

»Leider nein«, sagte Samundar. Nach kurzer Pause fügte sie »ein Autounfall« hinzu, und gleichzeitig sagte Lutas »Brustkrebs«.

»Vielleicht hatte sie ja Brustkrebs, starb aber bei einem Autounfall?«, schlug ich mit sonnigem Lächeln vor.

»Vielleicht täusche ich mich auch«, sagte Samundar. »Der Verkehr in Mumbai ist so schlimm, dass ich bei vorzeitigem Tod immer gleich an Verkehrsunfälle denke.«

»Sie sind aber sicher, dass es Krebs und ein Unfall war, kein Mord«, sagte ich.

»Sie meinen, sie war politisch aktiv?«, fragte Samundar. »Was wissen Sie denn über sie?«

»Ich habe keine Ahnung, ob sie politisch aktiv war. Ich weiß nur, was mir ihre Schwägerin erzählt hat – dass der Mord an ihr Jacobo Palurdo veranlasste, aus Chile wegzugehen, was bedeutet, dass sie vor mehr als vierzig Jahren starb.«

Samundar verlor kurz ihre Fassung und biss sich auf die Lippen. »Mir stehen nur etwas bruchstückhafte Informationen zur Verfügung, die von Ermittlern aus Chile kommen. Wir verlassen uns auf die internen Übersetzerdienste hier bei Devlin, und natürlich sind unsere Spanischübersetzer Muttersprachler, doch es ist trotzdem nicht dasselbe wie ein Bericht aus erster Hand. Aber wir sind sicher, dass Filomena tot ist.«

Lutas nickte ernst, wie es sich bei der Erwähnung des Todes gehörte.

Ich lenkte das Gespräch wieder auf Lydia. »Was ist mit Ihren Zweigstellen in Kansas? Suchen die auch nach Zamir?«

»In Kansas haben wir keine Zweigstellen, aber wir haben die Polizei dort gebeten, die Passagierlisten am Flugplatz zu überprüfen, und es gibt keinen Hinweis, dass sie da eingetroffen ist«, sagte Lutas.

»Dasselbe gilt für die Züge. Wenn sie natürlich mit dem Bus oder Auto gefahren ist –« Samundar hob wieder ihre Handflächen – ausgeschlossen, allen Autoverkehr zu verfolgen. »Aber die State Police hält auf jeden Fall die Augen offen. Und selbstverständlich bitten wir auch dort darum, die Krankenhäuser zu überprüfen.«

»Und Leichenschauhäuser«, sagte ich, aber sonst fiel mir nichts ein, was ich laut hätte aussprechen können. Zum Beispiel: Warum gewährt die Polizei dort euch Einblick in Passagierlisten? Oder: Wie viele Märchen soll ich euch noch glauben? Oder: Ihr wollt also, dass ich nach Santiago fliege, während ihr hier weiß der Teufel was anstellt?

»Dann ist da noch dieser Mann, Coop, ich hörte, er sei auch verschwunden?«, fragte Samundar.

»Ja. Wie Ms. Lutas Ihnen sicher mitgeteilt hat, vermutlich wortreich, hat er vor drei Nächten seinen Hund vor unserem Haus abgesetzt.«

Lutas rang sich etwas ab, das ein Lächeln sein sollte. »Was sagt er denn, wann er den Hund wieder abholt?«

»Wenn ich wüsste, wo er ist, Ms. Lutas, glauben Sie mir, ich würde ihm seinen Hund mit Lichtgeschwindigkeit übergeben. Ich hoffe, meine Unwissenheit veranlasst Sie nicht, Ihre Räumungsbemühungen bei der Hausverwaltung wieder aufzunehmen.«

Lutas lächelte noch ein falsches Lächeln, aber in ihren Augen stand keine Liebe. »Natürlich nicht. Ich weiß ja jetzt, dass Sie den Hund gar nicht wollten. Aber wir stecken mitten in einem großen Fall, was bedeutet, dass wir nicht viel Schlaf bekommen und ich nicht immer ganz ausgeglichen bin. Bestimmt kennen Sie das noch aus Ihrer Zeit als Anwältin.«

Das musste ich zugeben – Schlafmangel ist meine vorherrschende Erinnerung an die Jahre bei Gericht. Das und der Geruch von zu vielen ungewaschenen Leibern in dem Konferenzkabuff, wo auf alle Pflichtverteidiger Klientenlisten warteten, die viel zu lang waren, um von einer Person bearbeitet zu werden. Kein bisschen wie Konferenzraum L mit seinem glattpolierten Tagungstisch, in den weder Gang-Tags noch Todesdrohungen eingeritzt waren.

»Wie lautet Coops ganzer Name?«, fragte Samundar.

»Ich hoffte, Sie könnten mir das sagen«, sagte ich. »Nicht mal die Streifencops, die ihn schon öfter von Ruhestörungen abhalten mussten, scheinen es zu wissen. Aber Sie haben doch die Ressourcen, den Krebs von Jacobo Palurdos Schwester aufzuspüren, also wenn es kein Autounfall war. Da finden Sie doch bestimmt auch einen US-Bürger, der schon eine Weile in dieser Stadt lebt.«

»Wer entschlossen ist, sich nicht finden zu lassen, kann schwer aufzuspüren sein«, sagte Samundar. »Aber niemand kann für immer vom Radar verschwinden. Bitte lassen Sie es uns wissen, sobald Sie von ihm hören.«

Das war als Schlusssatz gedacht – beide Frauen standen auf –, aber ich blieb auf meinem Hintern sitzen.

»Bevor wir auseinandergehen, Ms. Samundar, Sie waren doch Junior-Anwältin bei Arthur Mortons Prozess?«

Sie nickte vorsichtig.

»Dann waren Sie bestimmt die Person, der Mr. Gorbeck auftrug, Arthur Morton Nikotinpflaster ins Gefängnis zu bringen, richtig?«

»Das wird mich immer verfolgen«, sagte sie. »Wenn ich gewusst hätte, dass ich ihm die Mittel verschaffe, sich das Leben zu nehmen –«

»Haben Sie sie selbst gekauft?«

Sie zeigte ihr geübtes Lächeln. »Ich habe fast das Gefühl, Sie nehmen mich ins Kreuzverhör, Ms. Warshawski.«

»Das Gefühl habe ich auch fast. Hat Mr. Gorbeck Ihnen die Pflaster gegeben? Oder hat er Ihnen aufgetragen, sie zu kaufen?«

»Wenn es bei Ihrer Frage nur um mich ginge, würde ich sie Ihnen mit Freuden beantworten, aber ich kann nicht für Mr. Gorbeck sprechen. Und jetzt gibt es andere Angelegenheiten, um die wir uns kümmern müssen, aber geben Sie Donna Bescheid, sobald Sie von Coop hören.«

»Ich bringe ihr Bär für einen persönlichen Abschiedskuss vorbei«, versprach ich.