Auf dem Heimweg fuhr ich langsam, aufgewühlt von dem Zusammentreffen. Wir in Chicago wissen ja, dass die Politik kein Bällchenwerfen ist, wie Finley Peter Dunne seinen Mr. Martin Dooley einst so schön sagen ließ, aber Taggetts Drohungen waren maßstabslos im Verhältnis zu meiner Frage nach den Karten für das Strandprojekt an der Forty-seventh Street. Manche Menschen müssen immer gleich die Muskeln spielen lassen, nur um zu zeigen, dass sie welche haben. Taggett war nicht frei von solchen Impulsen, aber er war auch ein gewiefter Stratege. Wenn er mich bedrohte, wies das darauf hin, dass ich einen Deal gefährdete, den er bezüglich des Burnham-Biotopkorridors eingegangen war.
Längst ging wieder Geld von Hand zu Hand, wie die Frau aus dem Stadtteil bitter angemerkt hatte. Geldleute waren bei der SLICK-Versammlung aufgetaucht. Larry Nieland verfügte über beachtliche Ressourcen, aber es war dieser Freizeittyp, der bei der Versammlung und bei Taggett zu Hause gewesen war, der nach dem eigentlichen Geldbaum aussah. Der würde sich bei einem lausigen Stadtteiltreffen nicht blicken lassen, wenn er sich nicht an der Ufermeile in naher Zukunft fette Ernte erhoffte.
»Ich kann mir ja vorstellen, dass die Schaffung eines neuen Strandes eine bauliche Herausforderung ist«, bemerkte ich zu Bär, »aber so was würde doch keine internationalen Investoren an die South Side locken.«
Zu Hause schrieb ich die Namen aller Personen auf, mit denen ich im letzten Monat gesprochen hatte, von Lydia Zamir und ihrer Mutter über die SLICK-Führungsriege bis zu Coop, Norman Bolton von Global, Donna Lutas und ihrer Kollegin Rikki Samundar. Leo, Bernie, Taggett, Murray. Elisa Palurdo. Der Freund ihres Mannes, Jesse.
Ich hatte zwei Mordfälle am Wickel, Lensky und Prinz, deren Tod nichts mit Lydia Zamirs Verschwinden zu tun hatte, die einzige Verbindung dazwischen war Coop: Er war der Hauptverdächtige der Cops. Und er hatte sich mit Zamir in Luft aufgelöst.
Ich zeichnete ein Baumdiagramm mit all den Namen, um zu sehen, welche miteinander in Verbindung standen. Die Äste von Coop, SLICK und Zamir waren fest miteinander verknüpft. Norm Bolton war natürlich durch Global mit Murray verbunden, aber das erklärte nicht, wieso er meine Suche nach Lydia filmen wollte.
Es waren tatsächlich die Anwälte, die sich durch die ganze verzweigte Sammlung von Einzelgeschichten zogen wie ein echter Baumstamm, von dem alle Äste austreiben. Ich hatte nie eine Antwort von Murray auf die Frage bekommen, ob Global Entertainment Klient bei Devlin & Wickham war, aber Devlin hatte den Massenmörder vertreten, der Zamirs Gefährten getötet hatte; sie hatten ein Kontaktverbot gegen Lydia erwirkt, und wenn meine Annahme korrekt war, hatten sie meine häuslichen Querelen mit Donna Lutas auch Park-Superintendent Taggett zugetragen – der seinerseits natürlich mit SLICK verbunden war.
Rikki Samundar sagte, Devlin & Wickham habe den Fall Morton übernommen, um für Sea-2-Sea trübe PR-Gewässer zu klären, aber als Grund für einen Pro-bono-Einsatz bei einem Kapitalverbrechen klang mir das recht dünn. Auch Global Entertainment war da irgendwie beteiligt, rief ich mir ins Gedächtnis. Die Äste meines Baums verwickelten sich allmählich unentwirrbar.
Ich hatte noch nicht die Global-Anteilseigner unter die Lupe genommen, um zu prüfen, ob sich dort der wahre Grund dafür fand, dass Norm Bolton filmen wollte, wie ich Lydia Zamir kreuz und quer durch Chicago jagte. Jetzt nahm ich mir die Zeit nachzusehen, wer genug Anteile von Global wie auch von Sea-2-Sea besaß, um bei der Börsenaufsicht die Schwelle zum meldepflichtigen Aktienbesitz zu überschreiten. Niemand von meinem Baumdiagramm tauchte auf der Liste auf, aber ein Unternehmen namens Minas y Puentes besaß einen größeren Anteil von Global.
Ich hatte den Namen auf Nielands Website gesehen – das war eine der Firmen, in deren Vorstand er saß. Das Unternehmen war eine personenbezogene Kapitalgesellschaft und musste daher seine Anteilseigner nicht an die US-Behörden melden; nur weil Nieland es auf seiner persönlichen Homepage aufführte, hatte ich überhaupt davon gehört. Als ich recherchierte, fand ich heraus, dass die Firma von der Familie Aguilar gegründet worden war, die in Chile Kupferminen besaß.
Jacobo Palurdos Vater hatte doch in den Kupferminen von Tocopilla gearbeitet. Das musste irgendwas zu bedeuten haben – aber was?
Ich malte Wurzeln an meinen Baum. Einige lagen in Kansas, andere in Chicago, ein paar in Chile. Nach Chile zu fliegen würde nichts bringen: Ich spreche kein Spanisch, und eine Ermittlerin, die weder die Sprache noch die einheimischen Gepflogenheiten kennt, ist allzu leicht an der Nase herumzuführen. Vielleicht hofften Rikki Samundar und Donna Lutas, dass ich in diese Falle ging – das würde erklären, warum sie mir das Märchen von Hectors bei Devlin in Santiago arbeitender Tante aufgetischt hatten.
Die Hunde hatten sich schon ein paar Minuten gekabbelt, während ich mit meinem Baumdiagramm zugange war. Ich trug den Baum zum See und ließ sie schwimmen gehen, wobei Bär dicht am Ufer blieb.
Auf dem Heimweg klingelte mein Telefon, es gab die dramatischen Akkorde von sich, die ich für meine privaten Kontakte eingestellt habe. Ich fischte es aus der Hosentasche und versuchte alle drei Leinen mit der linken Hand zu halten.
Arlette Fouchard legte los, bevor ich auch nur Hallo sagen konnte. »Es ist schlimm, Victoire. Jemand ist in die Wohnung eingebrochen. Man ’at Angela verletzt, sie bewusstlos geschlagen. Wir sind im Kranken’aus, in der urgence. Ich lasse Bernadine nicht länger in Chicago, nicht eine einzige Nacht.«
Ich band die Leinen an einen Fahrradständer, um mich auf den Anruf zu konzentrieren.
»Ist Bernie was passiert?«
»Nein, nein, wir kommen von Bernadines Training zurück zur Wohnung, wir finden Angela, und die Wohnung der Mädchen, ma foi, es ist ein Desaster. Ich bleibe noch bei Angela, bis ihre Mutter ankommt, und dann – puff – ab nach Quebec mit uns.«
»Du hast doch die Polizei gerufen, oder?«
»Naturellement. Und die sagen, wenn die Mädchen nah beim Campus in einem kaputten alten ’aus wohnen, ist klar, dass jemand einbricht. Die anderen zwei Mädchen konnten ins Studentinnenwohnheim zurück, aber Bernadine, sie kommt mit mir nach Kanada. Das ist endgültig.«
In ihrem Tonfall klirrte Herausforderung, aber ich fand, dass sie recht hatte. Ich eilte mit den Hunden nach Hause und legte Mr. Contreras die Lage dar. Er war erpicht darauf, mit ins Krankenhaus zu kommen, hauptsächlich um sich zu vergewissern, dass es Bernie gut ging. Als ich ihm erklärte, dass Arlette bei ihr und Bernie unversehrt war, fand er sich widerstrebend bereit, zu Hause zu bleiben. Ich versprach, ihm sofort Bescheid zu geben, wenn ihr etwas fehlte. Als ich aufbrach, tigerte er mit Mitch auf den Fersen besorgt im Wohnzimmer auf und ab.
Bis ich beim Krankenhaus ankam, war Angela von der Notaufnahme auf eine normale Station verlegt worden. Als ich sie fand, saß Bernie an ihrem Bett, ihr lebhaftes Gesicht spannte sich über den Wangenknochen.
»Vic!« Sie warf sich an meine Brust. »Das ist alles – es ist zu furchtbar. Was ist hier los? Warum hat jemand Angela attackiert?«
»Weil ich da war.« Angela schlug blinzelnd die Augen auf. »Ich hab ein Schläfchen gemacht und dann hörte ich sie die Küchentür aufbrechen. Sie waren zu zweit. Ich hab versucht, vorne rauszulaufen, aber einer hat mich erwischt. Er hat mich umgehauen, aber nicht für lange – ich hab schon mal so einen Schlag abgekriegt, bei einem sehr harten Spiel. Als ich aufgewacht bin, habe ich sie noch in der Wohnung gehört, also hab ich stillgehalten, bis sie weg waren. Ich wollte an mein Handy, um 911 zu rufen, aber sie haben es geklaut.«
Arlette hatte darauf bestanden, mit ihr ins Krankenhaus zu fahren. Sie hatte in den Jahren als Eishockeyspielergefährtin zu viele Hirnschäden mitangesehen, um ein Schädeltrauma auf die leichte Schulter zu nehmen.
»Sie haben diesen ’irnscan gemacht«, sagte Arlette. »Es gibt keine inneren Blutungen, aber sie muss über Nacht bleiben. Ihre Mama wird bald hier sein, bis da’in kümmern wir uns um sie.«
»Mein Onkel fährt sie her«, murmelte Angela mit schwerer Zunge. »Kann früher Morgen werden. Shreveport is’ weit weg.«
Angelas Monitore hatten im Stationszimmer gepiept, und eine Pflegerin kam uns aus dem Zimmer scheuchen.
»Arlette, ich fahre Bernie zur Wohnung, damit sie eure Sachen packen kann. Du buchst euch schon mal den Flug. Sobald wir zurück sind, könnt ihr zum Flughafen aufbrechen, ich bleibe dann bei Angela, bis ihre Mutter da ist.«
Das alte viktorianische Haus einen Block von der Uni war in mehrere Wohnungen aufgeteilt; Angela und Bernie hatten sich mit den beiden jungen Frauen, die jetzt zurück ins Wohnheim gezogen waren, im zweiten Stock eingemietet. Als wir hinkamen, stieg ich zuerst die Hintertreppe hoch, um mir die aufgebrochene Tür anzusehen. Die Einbrecher hatten den ersten und dritten Stock unberührt gelassen: Das war eine gezielte Aktion gewesen.
»Vic –« Bernies Stimme zitterte leicht. »Die waren hinter mir her, oder?«
»Schätzchen, die denken, du weißt was oder hast was beobachtet oder besitzt was, das mit Leo zusammenhängt. Du meintest doch, er wollte nach der Versammlung FOIA-Anträge aufsetzen. Hat er sonst noch was gesagt? Dir irgendwas gezeigt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Und die FOIA-Gesuche? Was hat er darüber gesagt?«
»Ich hab nicht richtig hingehört«, sagte sie. »Ich hab es dir doch erklärt, wir haben uns darüber gezofft, wie er diesen Coop angehen sollte. Dieser Feuer-Kram, da wollte er etwas über die Karte wissen, die er gesehen hat, mehr weiß ich nicht.«
»Hat er gesagt, was auf der Karte zu sehen war?«
»Nein. Er meinte, Simon hat ihm das Papier so schnell weggenommen, dass er nur ein Stück davon sehen konnte.«
»Dann war es also keine Karte von dem geplanten Strand«, dachte ich laut. »Das hätte ihn auch nicht aus der Ruhe gebracht, darüber wusste er ja Bescheid. Das Papier war ziemlich groß, mindestens achtzehn mal vierundzwanzig Zoll, wenn nicht noch größer. So was steckt man nicht mal eben in ein Rucksackfach.«
»Was redest du denn da? Soll Leo was gestohlen haben?« Ein Schimmer von Bernies Temperament blitzte auf.
»Nein, Schätzchen, ich versuch nur zu erraten, was diese Schläger eigentlich suchen. Hol mir den Koffer deiner Mutter, ich packe ihre Sachen. Du kümmerst dich um deine.«
Arlette hatte auf einem Klappsofa im Wohnzimmer geschlafen. Ihre Toilettensachen – darunter eine Reihe Pflegeprodukte mit Namen wie »Luminescence Recovery« – waren ordentlich in einem Reisenecessaire verstaut. Ihre Kleidung hatte sie in den Flurschrank gehängt. Ich faltete alles, was ich fand, in ihren Koffer, legte das Reisenecessaire zuoberst, damit sie am Flughafen leicht drankam.
Als ich fertig war, stand Bernie ratlos in dem Zimmer, das sie sich mit Angela teilte, und kam nicht klar. Eine Leinentasche und ihr Rucksack standen offen auf dem Fußboden, und sie hatte ein paar T-Shirts und ihren Eishockeyschläger in die Tasche geworfen, aber dann offenbar nicht weitergewusst.
Der Rucksack war himmelblau mit dem Logo des Canadiens-Eishockeyteams in der unteren rechten Ecke. Ich starrte ihn stirnrunzelnd an – genauso einen hatte ich kürzlich gesehen – wo noch mal?
»Bernie, hast du Leo einen Canadiens-Rucksack geschenkt?«
»Was? Nein, wir haben uns nie was geschenkt. Wieso?«
»Ich dachte, ich hätte in seiner Wohnung einen gesehen.«
»Seiner hat die gleiche Farbe, aber nicht unser Logo. Ich – ich habe ihm angeboten, den Aufnäher für ihn zu besorgen, aber er fand, er kann kein Logo von einem Team tragen, das ihn gar nicht interessiert.« Ihr Lächeln geriet wackelig. »Jetzt verstehe ich kaum noch, wieso ich ihn für etwas Besonderes hielt.« Sie fing an, Unterwäsche und Jeans in die Reisetasche zu stopfen.
»Hattest du den Rucksack heute bei dir?«
»Aber natürlich, Vic, da habe ich doch alles drin, was ich brauche, meine Notizen zu den Schülerinnen, mein Laptop, die Wasserflasche. Tout!«
Mit offenem Mund sah sie zu, wie ich ihn aufhob und aufs Bett leerte. Ihr Laptop, ein Notizbuch, Haarbürste, Sonnencreme, ein Taschenbuch (Ayesha at Last von Uzma Jalaluddin), ein Fahrradschloss, ein Eishockeypuck mit dem Logo des kanadischen Frauen-Nationalteams. In einer Falte unten am Boden, eingeklemmt zwischen ein paar Tampons und einem Energieriegel, steckte ein USB-Stick.
»Ist das deiner?«
Sie zuckte mit einer Schulter. »Ich weiß nicht mehr genau, aber muss wohl, oder?«
»Werfen wir einen Blick drauf, ja?«
Ich fühlte mich, als würde ich auf rohen Eiern laufen, aber Bernie klappte ihr Laptop auf und führte den Stick ein.
Leo hatte fünf Fotos von dem Dokument gemacht, sehr schnell, mit seinem Handy. Vermutlich, als er und Simon sich darum kabbelten. Die Auflösung war mies. Alles, was ich sagen konnte, war, dass es das Chicagoer Seeufer um die Forty-seventh Street darstellte, mit dem geplanten neuen Strand als gepunktete Linie. Weitere gepunktete Linien zeigten an, wo durch Aufschüttung eine Landzunge entstehen sollte, die gut eine Viertelmeile weit in den See hinausragte.
Als ich die Fotos nebeneinander auf dem Bildschirm anordnete, fiel mir auf, dass auf jedem etwas andere Einzelheiten zu sehen waren – auf der Landzunge stand 17. Loch, The Money Shot. Also wollte die Parkbehörde am Seeufer einen Golfplatz anlegen? Das würde aber enormen Einfallsreichtum erfordern – es gab da doch gar nicht so viel Platz. Ich sah noch mal genauer hin, und plötzlich wurde mir klar, dass der Lakeshore Drive fehlte. Die wollten den Lakeshore Drive wegreißen und einen Golfplatz hintun? Das ergab absolut keinen Sinn.
Bernie rüttelte mich an der Schulter. »Ich muss los, Vic. Mama hat schon eine Nachricht geschickt und sorgt sich, dass wir überfallen wurden. Wir müssen zurück zum Krankenhaus.«
»Tschuldige, Schätzchen. Diese Bilder hier – das ist Dynamit. Ich sorge dafür, dass die Parkbehörde erfährt, dass ich sie habe, damit solltest du in Sicherheit sein. Aber fahrt ihr ruhig nach Quebec. Ich rede morgen mit deiner Programmdirektorin und kläre das mit deinem Job.«