39
Bye, bye, Ms. American Pie

Ich holte Bär und ging zu Fuß ins Stadtzentrum. Mein Handy dirigierte mich zu der Bäckerei in der Sixth Street. In einem Schaufenster war auf einem goldenen Flaggentuch eine traditio­nelle vierstöckige Hochzeitstorte präsentiert, in dem anderen standen Tabletts mit Cookies und Minitörtchen und Kuchen. Dahinter sah ich fünfzehn oder zwanzig Mittagsgäste – neben Kelly Kay Mortons preisgekrönten Kuchen bot die Bäckerei auch Sandwichs und Suppen an. Es war fast eins, und offenbar kam der Großteil von Salina zum Lunch hierher.

Ich hatte selbst Hunger. Ich ließ Bär im Schatten einer Markise und ging rein, um mir ein Mittagessen zu bestellen: ­Origins hausgebackenes Roggenbrot mit Cheddar, Limonade, eine Schüssel Wasser für den Hund und ein Stück Blaubeerkuchen.

Draußen gab es weder Stühle noch Bänke, also setzte ich mich neben Bär unter die Markise und gab ihm was von meinem Sandwich und dem Blaubeerkuchen ab. Ich bin nicht sonderlich wild auf Nachtisch, aber falls ich dazu kam, mit Kelly Morton zu sprechen, musste ich ihr ein Kompliment für ihre Backkünste machen.

Vorüberkommende gaben ihre Kommentare ab, einige fanden es niedlich, wie Bär und ich da zusammen saßen, andere erklärten mir scharf, dass Landstreicherei in Salina gegen das Gesetz verstieß.

»Officer Gerber hat doch heute Nachmittag Streifendienst«, sagte ich auf eine solche Kritik hin. »Rufen Sie 911 und sagen Sie, man soll ihn herschicken.«

Ein ersticktes Geräusch, und die Frau ging weiter, murmelte was vor sich hin. Ich versuche immer und überall Sonnenschein zu verbreiten.

Als der Andrang in der Bäckerei nachließ, ging ich wieder rein und sprach die Frau an der Theke an. Ich lobte, was ich gegessen hatte, und fragte, ob ich mit Kelly Kay Morton sprechen könnte.

»Ich kann ihr was ausrichten«, sagte die Frau. »Sie redet nicht mit Reportern.«

»Journalismus ist ein nobler Beruf«, sagte ich, »aber nicht der meine. Chief Corbitt hat ihr wahrscheinlich gesagt, oder vielleicht auch Ihnen, wenn Sie die Eigentümerin hier sind, dass ich komme: V. I. Warshawski, Detektivin aus Chicago.« Ich war müde von der Fahrt, vom Umgang mit Fremden, von der Ungewissheit, was um mich herum eigentlich vorging, und so hatte ich kein wohlfeiles Sprüchlein parat, aber die Erwähnung des Chiefs genügte in diesem Fall: Die Frau verschwand nach hinten. Nach ein paar Minuten kam sie mit einer zweiten Frau zurück, jünger, als ich gedacht hatte, vielleicht Mitte vierzig, das braune Haar mit einem Pferdeschwanz aus dem Gesicht gehalten. Sie war stämmig gebaut und sommersprossig, an ihren Bizepsen spannten sich die Ärmel des lindgrünen Origins-T-Shirts, das sie alle trugen.

»Das hier ist die Detektivin aus Chicago. Soll ich dabeibleiben, wenn du mit ihr sprichst, Schätzchen?«

Mortons runde Schultern sackten nach vorn – Müdigkeit und Depression. »Ich komm klar, Nancy. Schlimmeres, als schon passiert ist, kann mir eh niemand antun.«

Draußen auf dem Gehweg beredeten wir zuerst, wo wir reden sollten – nicht bei ihr zu Hause, nicht im Starbucks um die Ecke, wo ihre Kolleginnen sie sehen konnten. Schließlich einigten wir uns auf die Bücherei, etwa zehn Minuten Fußmarsch entfernt.

Bär ging bei Fuß, als wir loszogen. Ich hatte gehofft, ­Morton würde ausrufen: Den Hund kenne ich doch, aber die beiden beachteten einander gar nicht. Dann fürchtete ich, die Leute in der Bücherei würden verlangen, dass ich den Hund draußen anband, aber sie ließen mich ihn mit reinnehmen, solange wir im Eingangsbereich blieben, fern von anderen Gästen.

Das Gebäude war neu, modern und voll mit Kindern auf irgendeinem Ausflug. Morton und ich ließen uns auf Stühlen in einer Ecke des Foyers nieder, trotzdem beäugten uns die Leute neugierig, oder vielleicht eher Bär: Er war ein großer Hund, und sein gelbbraunes Fell fiel in der modernistischen Vorhalle sehr auf.

»Der Sheriff und die anderen sagen, Sie wollen Dreck über meinen Jungen ausgraben.«

Ich wich dem Vorwurf aus. »Ich wüsste gern mehr über die Anwälte. Clarence Gorbeck und Rikki Samundar. Sind die nach dem Tod Ihres Sohnes mit Ihnen in Kontakt geblieben?«

»Brauchen Sie Hilfe, um die zu finden?« Sie klang spöttisch. »Sie sind aus Chicago, die sind in Chicago.«

»In Chicago sind sie leicht zu finden«, pflichtete ich ihr bei. »Nicht ganz so leicht von Salina aus. Aber soweit ich weiß, sind die zu Ihnen gekommen, nicht andersrum.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, für sie so unerwartet wie für mich, und sie bearbeitete energisch ihre Finger, pulte Mehl unter den Nägeln heraus. »Wir hatten einen Pflichtverteidiger, ein netter Junge, er hat hart für Artie gearbeitet, aber diese Chicagoer Anwälte sagten, sie glaubten – sie hätten all die Erfahrung, die der Pflichtverteidiger nicht hatte, und sie sagten, sie könnten es besser. Sie sagten, die Firma, die unsere Farm gekauft hat, würde die Kosten übernehmen.

Ich war verzweifelt auf der Suche nach jemandem, der sich Arties Sicht der Dinge anhörte, also hab ich ja gesagt. Aber am Ende haben sie nur die Jury dazu gebracht, Artie schuldig zu sprechen. Sie sagten, sie würden ihm die Todesstrafe ersparen, aber dann war er trotzdem tot.«

»In der Zeitung von Wichita stand, er sei an zu vielen Nikotinpflastern gestorben?«

»Das stimmt, aber ich hab keine Ahnung, wo er die Pflaster herhatte. Der Arzt meinte, es waren acht Stück, alle auf seinem Rücken. Wie er die überhaupt angeklebt haben sollte, das konnte der Wärter im Gefängnis nicht erklären. Oder wollte es nicht.« Sie bearbeitete ihren linken Daumen so heftig, dass ein kleines Rinnsal Blut auf ihre Jeans trielte.

»Hat Ihnen irgendwer mal erklärt, wo die Rezepte für diese Pflaster herkamen?«, fragte ich.

»Der Arzt meinte, es wär das Beste, die – ich weiß den genauen Wortlaut nicht mehr, so was wie die Vergangenheit hinter sich zu lassen, aber bei ihm klang es ein bisschen nach diesen Hütchen mit Spitze vorne dran, die meine Mutter und ihre Freundinnen zum Kirchgang trugen.«

»Den Schleier des Vergessens darüber breiten?«

Sie sah mich erschrocken an. »Waren Sie dabei? Hat der Arzt mit Ihnen geredet?«

»Nein, Ma’am«, sagte ich. »Ich hab weder den Arzt je getroffen noch die Wärter oder sonst jemanden. Es ist bloß eine Formulierung, die ich in ähnlichem Zusammenhang schon mal gehört habe.«

Sie beäugte mich weiterhin argwöhnisch. »Die großen Anwälte aus Chicago ließen Artie nicht seine Sicht der Dinge vortragen. Sie meinten, es wär ein Fehler, ihn aussagen zu lassen, das würde in Mordprozessen immer nach hinten ­losgehen.«

»Wie lautete denn Arties Sicht der Dinge?«, fragte ich.

»Na, dass diese anderen Leute ihm aufgetragen haben, er soll das machen. Die haben ihm übers Internet solche Botschaften geschickt, auf den Websites, die er sich ansah, und haben ihn angewiesen, diese Sache im Horsethief Canyon durchzuziehen. Er hatte ja noch nie von dieser Veranstaltung gehört, Tallgrass-Forum, was ist denn das überhaupt für eine Art von Beschäftigung für erwachsene Menschen? Songs über Mexikaner und Indianer, Proteste gegen ihre Behandlung, wenn Leute wie ich und Arties Dad alles verlieren, und niemand zuckt auch nur mit der Wimper?«

Ich betrachtete ihre kaputten Hände und ihr schmerzverzerrtes Gesicht und empfand schreckliches Mitleid. »Haben Sie diese Botschaften mal gesehen?«

»Artie hat mir davon erzählt, aber dann kamen natürlich die Behörden und holten seinen Computer ab, und als ich herkam, um hier auf dem Rechner diese Internetseiten zu suchen –«, sie zeigte ins Innere der Bücherei, »da waren die Botschaften verschwunden. Die Bibliothekarin hat ihr Bestes getan, und sie versteht richtig viel von Computern, aber nicht mal sie konnte sie wiederfinden.«

Ich versuchte das zu verarbeiten. Es war so ein seltsames Plädoyer, ähnlich der Behauptung, jemand habe Stimmen gehört, die ihn zur Gewalt getrieben hätten. Ich fand es schwer zu glauben.

»Hat irgendwer mal versucht, mit Ihnen über diese Botschaften zu sprechen? Ich meine, außer der Polizei und den Anwälten?«

Sie verzog angewidert den Mund. »Ist das Ihr Ernst? Von überall in der Welt haben Leute angerufen. Erst das FBI und die hiesigen Cops und dann Reporter und dann Leute, die bloß rumschnüffeln wollten. Die wollten über Artie reden – also, die nahmen es als gegeben, dass Artie all diese Morde begangen hatte – und wollten so was wissen wie, wie hat er es gemacht, hat er vorher geübt, hat er das Gelände erkundet? Leute wollten Souvenirs. Die wollten sein Gewehr oder Kleidung von ihm, einer wollte sogar die Kleidung, die er anhatte, als er – als er von uns gegangen ist.«

Sie atmete schwer, überwältigt von den Erinnerungen. »Die haben ihn – haben mich behandelt, als wären wir so ’ne Art Statisten beim Karneval. Ich – wir waren in einem Trailerpark außerhalb der Stadt untergekommen, aber auch da kamen die Leute hin, sogar total verrückte Mädels auf Motorrädern, die schrieben Liebesbriefe an Artie, als würde er nicht um sein Leben kämpfen! Ich musste da wegziehen. Bis der Prozess vorbei war, haben sie mich in einem Zimmer drüben in Manhattan einquartiert.«

Ich dachte an die Leute, die beim Haus der Zamirs aufgetaucht waren und ein Stück von Lydia gewollt hatten. Auf so was kommst du nicht, wenn du dir die Nachwehen eines ­Massakers vorzustellen versuchst, du denkst nicht an diese Ghule, die sich über die Knochen des Lebens von Beteiligten her­machen.

»Das klingt unerträglich«, sagte ich. »Und ich stell mir vor, in all dem Chaos konnte Ihnen kaum noch auffallen, ob jemand nun besonders daran interessiert war, was Artie auf seinem Computer gesehen hat.«

Sie verfiel in ein Schweigen, welches so lang anhielt, dass ich schon dachte, sie hätte beschlossen, das Gespräch sei vorbei. Ich wickelte Bärs Leine um meine Hand und machte mich bereit aufzustehen, da sagte sie: »Es gab einen Mann, der kam eines Abends an und wollte den Computer und alles. Es muss jemand Bedeutendes von den Behörden gewesen sein – der sprach nicht mal selber, er hatte einen anderen Mann dabei, wie ein Leibwächter, wie der Secret Service, wissen Sie. Ich hab ihm gesagt, dass die Behörden schon alle von Arties Sachen haben, seinen Computer, sogar seine alten Highschoolhefte – er hat ja nie viel geschrieben, aber die von den Behörden, die wollten ein Tagebuch.« Sie lächelte schief. »Ihn zum Hausaufgabenmachen zu kriegen, das war fast so viel Arbeit wie Kochen und Putzen. Die Vorstellung, er könnte ein Tagebuch führen! Jedenfalls, dieses hohe Tier, dieser Mann, der zahlte mir fünfzig Dollar, damit ich ihn Arties Sachen durchgehen lasse, aber natürlich war da nichts zu finden.«

Ich versuchte ihr mehr Einzelheiten zu dem seltsamen Behördenmann zu entlocken – wie er aussah, was für ein Auto, hatte er überhaupt was gesagt? Natürlich war es vier Jahre her, und wie es sich anhörte, hatte die halbe Aryan Nation ihr den Trailer eingerannt. Kein Wunder, dass sie sich nur wegen des Leibwächters an ihn erinnerte.

Ja, sagte sie ungeduldig, als ich nachfragte, sie war sicher, dass es ein Leibwächter war. »Der sah aus wie aus einem Film. Man konnte die Waffe unter seinem Jackett erkennen, wenn er den Arm bewegte. Der Mann war angezogen wie alle hier – Hemd und Jeans, aber solche Hemden wie seins kauft man nicht in Salina. Ich nähe viel, ich hab früher unsere Sachen selbst genäht, meine und die von Big Artie. Solchen Stoff hab ich noch nie gesehen. Am liebsten hätte ich ihn angefasst.«

Bei ihrer Beschreibung musste ich an die Männer denken, die mit Taggett zu der SLICK-Versammlung gekommen waren. Natürlich war es komplett absurd, irgendeine Verbindung zwischen Chicagos Parks und einem Killer in Kansas herzustellen, trotzdem rief ich auf meinem Handy Larry Nielands Homepage auf und zeigte Morton ein Bild von ihm.

Sie sah es sich apathisch an. »Der war es nicht. Und außerdem hatte ich anderes im Kopf, als groß auf einen Mann zu achten, der sich seltsam benahm. Die Welt ist voll von denen.«

Sie stellte unmissverständlich klar, dass sie nicht noch mehr Zeit mit mir verbringen wollte. Als ich aufstand, fragte ich, ob sie den Computer nach dem Tod ihres Sohnes zurückbekommen hatte.

Kelly Kay zog den Mund schief. »Was soll ich denn mit seinem alten Computer – ihn den ganzen Tag anstarren, als ob er ein Feld wär und auf ihm etwas sprießen und wachsen könnte? Sie wollten mir die Sachen geben, die er anhatte, als er starb, und ich dachte nur, ihr seid ja genauso ekelhaft wie diese Motorradmädels, wenn ihr glaubt, dass ich sie haben will. Schätze, ich hätte sie an die Motorradmädels verkaufen können, aber was soll ich denn mit Geld? Die Farm ist eh futsch. Artie ist auch futsch. Sein Daddy ist futsch. Was ich mit Kuchen­backen verdiene, reicht für die Miete. Mehr brauch ich nicht.«