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Schwimmen in flüssigem Blei

Wie festgefroren saß ich da und starrte das Bild an. Also war doch ein zweibeiniges Tier oberhalb von Arthur Mortons Höhle zugange gewesen, und zwar eins, das sicherstellen wollte, dass mindestens eine bestimmte Person an diesem Tag starb.

Wie hatten sie das bloß arrangiert? Einfach im Netz gefischt, jemanden gesucht, der aufgebracht und leicht zu manipulieren war? Warum hatten sie sich die Mühe einer derartig ausgefuchsten Scharade gemacht? Es ist in den USA doch so leicht, an eine Waffe zu kommen, so leicht, jemanden abzuknallen. Aber was, wenn eine wohlbekannte, im Fokus der Öffentlichkeit stehende Person es auf jemanden abgesehen hatte und jede Möglichkeit eliminieren wollte, dass es zu ihm oder ihr zurückverfolgbar war? Trotzdem, eine solche Vorgehensweise schien voller Fallstricke.

Ich hatte mich schon mehrmals gefragt, wer von den siebzehn Toten das planmäßige Opfer war, aber vielleicht war der Täter auch ein Soziopath, der wissen wollte, womit er unentdeckt durchkam. Vielleicht hatte jemand Arthur Morton zum Massenmord manipuliert, um das perverse Vergnügen zu genießen, dabei zuzusehen. Die Vorstellung war so dermaßen abartig, dass ich merkte, wie ich innerlich vor den Menschen um mich herum zurückwich – warst du das etwa? Oder du? Was für eine Psychose mochte in der Weite der Prärie herangezüchtet worden sein? Hatte so etwas die Person über Arthur ­Mortons Höhle umgetrieben?

Diese Ermittlung war für eine Solodetektivin von Anfang an eine Nummer zu groß gewesen, jetzt wuchs sie mir vollends über den Kopf. Kein Wunder, dass Gabe Ramirez froh gewesen war, das Verfahren an eine große Kanzlei abzugeben. Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, was ich allein überhaupt noch ausrichten konnte. Und eine dringliche Aufgabe war jetzt, mein Wissen zu teilen.

Der Kreis der Leute, denen die Anwesenheit einer weiteren Person über Arthur Mortons Höhle bekannt war, war klein. Ich wollte nicht die Einzige außerhalb dieses Kreises sein, die davon wusste. Ich speicherte die Höhlenbilder auf meiner Festplatte. Ich mailte sie an meinen Anwalt mit einer Notiz, wo sie aufgenommen waren und auf wessen Social Media-Präsenzen ich sie gefunden hatte.

Ich schickte sie außerdem ans Cheviot Labor. Ich glaubte nicht, dass ich mir das nur einbildete, aber ich hatte immerhin zwei Stunden lang Fotos angestarrt, und ich hatte das Zielfernrohr – sofern es denn eins war – nicht mal gesehen, ehe ich eine ganze Weile auf das Bild geblickt hatte. In der Begleitmail an Cheviot und an meinen Anwalt schrieb ich deshalb: »Das ist eine Art Rohrschachtest. Alles beschreiben, was zu sehen ist. Und bitte unbedingt diese Datei gut verwahren.«

Um auf Nummer sicher zu gehen, schickte ich die Datei auf den Drucker und zahlte fünf Dollar an die Bücherei für fünf Ausdrucke. Schließlich hatte Gabriel Ramirez diese an Arthur gerichteten Botschaften auf den Darknet-Seiten selbst gesehen. Und dann war ein elektronischer Taschendieb in den Rechner eingestiegen und hatte sie alle entfernt. Die Hand, die so etwas vermochte, könnte leicht auch einen Finger in mein Smartphone stecken und meine Textnachrichten entfernen, und dann auch noch Facebook und Instagram durchkämmen und die Dateien dort manipulieren.

Ich packte zusammen, schob noch einen Zehndollarschein in die Unterstützt die Bücherei-Dose und ging den armen Bär befreien. Ich hatte ihn im Auto lassen müssen, und auch wenn ich im Schatten geparkt und ihm Wasser hingestellt hatte, war das nicht gut.

Draußen war es noch ganz hell, der Sonnenuntergang jetzt mitten im Sommer noch eine gute Stunde hin. Ich fuhr wieder an den Fluss. Hier picknickten Familien, Teenager zischten auf Jetskis durch die Gegend, andere spielten Fußball oder Baseball. Ich fand ein ruhiges Plätzchen, wo das Wasser seicht war, abseits vom Treiben der Boote, da konnte der Hund herumplanschen und ich versuchen, meine Entdeckungen seit unserer Ankunft in Kansas zu verarbeiten.

Ich habe es im Laufe der Jahre mit vielen richtig üblen Leuten zu tun bekommen, und fast alle waren erfüllt vom Gefühl ihrer grandiosen Überlegenheit, die sie von allen anderen auf diesem Planeten abhob und zu allem Möglichen berechtigte. Aber einen verstörten, haltlosen Mann dazu zu treiben, dass er stellvertretend Massenmord beging, brachte diesen Killer schon in die Kriegsverbrecher-Kategorie.

Bär kam aus dem Fluss, über und über mit Matsch bedeckt, den er so geschickt abschüttelte, dass meine Jeans und mein T-Shirt voll damit waren. Verglichen mit den Menschen, über die ich gerade brütete, war ein schlammiger Hund irgendwie mächtig heilsam. Ich schlang ihm die Arme um den dicken Hals und drückte ihn an mich.

Je mehr ich über das altruistische Sea-2-Sea-Vorstandsmitglied nachdachte, das sich erboten hatte, Devlin & Wickham für die Verteidigung zu bezahlen, desto weniger gefiel mir die Geschichte. Das Ganze war so dermaßen dünn, da hätte der böse Wolf nur ein einziges Mal husten müssen, um alles zum Einsturz zu bringen, er hätte nicht mal zu pusten brauchen. Und ich war drauf reingefallen.

Doch eine Großkanzlei wie Devlin & Wickham ist abhängig von ihrem Ruf. Den würden sie nicht riskieren, indem sie sich an einer Verschwörung zum Mord beteiligten. Oder?

Wieder dachte ich an die Nikotinpflaster auf Arthur Mortons Rücken. Rikki Samundar hatte mehr oder weniger durch­blicken lassen, dass sie sie ins Gefängnis eingeschleust hatte. Es war ja sehr hilfsbereit von ihm, sich umzubringen und damit die Möglichkeit einer Berufung zu vereiteln, bei der Gabe Ramirez womöglich erneut die Frage nach einem zweiten Schützen aufwarf, den die Staatsanwaltschaft übersehen hatte.

Mir kam noch ein besorgniserregender Gedanke. Devlin & Wickham waren nach wie vor am Fall Morton interessiert. Sie wollten unbedingt wissen, was für Fortschritte ich bei der Suche nach Lydia machte, so unbedingt, dass sie Donna Lutas’ Bemühungen, mich aus meiner Wohnung zu vertreiben, einen Riegel vorschoben. Nach meiner Sicht der Dinge war es auch die Kanzlei, die der Polizei von Salina gesteckt hatte, dass ich herkam.

Ich machte mir klar: Wenn Chief Corbitt willens war, nach Devlins Pfeife zu tanzen, wusste er genau, welches Auto ich fuhr; ich war eine leichte Zielscheibe, wenn es darum ging, mich bei irgendeiner Übertretung zu erwischen. Ich hatte keine Ahnung, warum sie so was tun sollten, aber mir war nicht wohl dabei, noch länger in der Stadt zu verweilen.

Ich wollte mit dem Wärter im County-Gefängnis über Arthur Mortons Selbstmord sprechen. Ich wollte Frank Alsop finden, den Tallgrass-Organisator, dessen Namen mir die Frauen an der K-State gegeben hatten. Black Wolf, diese gemeindefreie Ansammlung von Häusern plus Tankstelle, lag nur sechs Meilen entfernt. Auch wenn es in Salina ein Dutzend oder mehr Hotels und Motels gab, würde ich mich weniger auf dem Präsentierteller fühlen, wenn ich eine Bleibe außerhalb von ­Corbitts Zuständigkeitsbereich fand.

Noch ein winziger Punkt auf der Karte, ungefähr dreißig Meilen jenseits von Black Wolf, bewarb ein altes Eisenbahn­hotel. Da würde ich hinfahren und mich am kommenden Morgen von dort aus wieder ostwärts arbeiten.

Ich stopfte Bär zurück ins Auto. Wenigstens überdeckte der Geruch nach dreckigem nassem Hund den schimmeligen Mief der gestern gefluteten Polsterung. Ich hielt kurz bei FedEx, um die Ausdrucke der Höhlenfotos an meinen Anwalt zu schicken.

Auf dem Weg aus der Stadt kam ich an einem Kaufhaus vorbei. Vorsichtshalber kaufte ich ein paar Wegwerf­handys und einige Lebensmittel, um am Abend nicht erneut fasten zu müssen. Als ich wieder ins Auto stieg, stand ein Einsatzfahrzeug des County Sheriffs auf dem Parkplatz. Ich machte mein Smartphone aus und hoffte, dass es so nicht in die Gegend funken würde, wo ich mich gerade aufhielt. Als ich vom Parkplatz rollte, heftete sich der Wagen an meine Stoßstange. Sah aus, als ob der Polizeichef von Salina seine Vorbehalte gegen Chicagoer Schnüfflerinnen an den County Sheriff weitergereicht hatte.

Ich blinkte beim Abbiegen und bei jedem Spurwechsel, fuhr mit Licht, kam bei Stoppschildern komplett zum Stillstand und hielt an gelben Ampeln. Mit maßvollen fünfzig Meilen pro Stunde fädelte ich mich auf der Interstate ein. Der Sheriff blieb bei mir, bis ich über die County-Grenze war. Ich ließ drei Ausfahrten vorbeiziehen, dann schlich ich mich vom Highway runter auf die Landstraße. Ich bog mehrmals ab, nahm Schotterpisten, kam wieder auf eine zweispurige Landstraße und entschied, dass ich jetzt wohl sauber war – sauber genug, um mich rasch bei Arlette und Mr. Contreras zu melden. Ich parkte auf einer geschotterten Fläche vor einem Tor, das auf ein Feld führte.

Pierre hatte mir die Nummer eines Freundes in Quebec City gegeben, damit ich nicht in der Berghütte anrief, um mich nach Neuigkeiten zu erkundigen. Ich musste mein Smartphone kurz einschalten, um die Nummer nachzusehen, aber den Anruf machte ich mit einem der Wegwerfhandys. Pierres Freund versicherte mir, dass alles so weit gut war, aber dass Bernie schon einen Lagerkoller hatte – ob ich wüsste, wie lange die Fouchards noch untergetaucht bleiben mussten? Ich hätte nur zu gern einen Fahrplan aufgestellt, aber ich wusste ja zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mal, wonach ich suchte, geschweige denn, wann ich finden würde.

Meine Sorge wuchs, als ich auflegte: Mir war klar, dass Bernie nicht lange die Füße stillhalten würde. Denk nach, konzentrier dich, geh es an, befahl ich mir, aber ich fühlte mich, als würde ich in flüssigem Blei schwimmen und vergeblich auf ein unerreichbares Ufer zustreben.

Mangels anderer Action-Ideen rief ich Mr. Contreras an, der über die Hundeausführer motzte. Auf die beiden verließ ich mich seit vielen Jahren. Mein Nachbar motzte immer über sie, teils weil er nicht eingestehen mochte, dass er nicht mehr fit genug war, um den Hunden die nötige Bewegung zu verschaffen, teils weil er glaubte, ich käme schneller heim, wenn ich ihm abkaufte, dass die Hunde nicht gut versorgt waren.

»Hat sich Donna Lutas nach mir erkundigt?«, warf ich ein, als eine Atempause entstand.

»Ja, hat sie. Ich frag sie, ob sie dir etwa eine Zwangsräumung zustellen will, und sie sagt, nein, nein, sie fragt bloß, weil ihre Kanzlei dir wegen irgendeinem alten Prozess Hilfe leistet. Stimmt das, Spatz?«

»So ähnlich«, sagte ich. »Die wollten mit mir über einen ­Massenmordprozess sprechen, das ist genau der, dem ich hier in Kansas nachgehe.«

»Komisch, dass so ein Sauertopf wie die dir bei irgendwas helfen will, aber da kannst du’s mal wieder sehen.«

Was ich sehen konnte, war, dass Lutas ihren Killerinstinkt zügeln würde, bis Devlin & Wickham hatten, was sie wollten. Das sagte ich meinem Nachbarn nicht – ihm wird unwohl, wenn ich zynisch bin. Stattdessen versprach ich, am nächsten Tag wieder anzurufen.

Ich wollte gerade losfahren, da rief Murray an. Ich hatte glatt vergessen, mein Smartphone wieder auszuschalten.

»Wo steckst du, Warshawski? Ich versuch schon den ganzen Tag, dich zu erreichen.«

Ich warf einen Blick in meine Benachrichtigungen. Drei von Murray, ein Dutzend von diversen Klientinnen und Klienten. Und eine von Peter, der mir mitteilte, dass er in der Türkei angekommen war. Das war ein Dämpfer – es tat weh, dass ich es verpasst hatte, seine Stimme zu hören.

»Ich war in einer Bibliothek«, sagte ich Murray. »Du weißt schon – Telefone aus, leise sein, nicht stören.«

»Du bist eine wandelnde Störung, ob dein Handy an ist oder nicht«, murrte Murray.

»Ich bin für Beleidigungen so empfänglich wie jede andere Person, aber ich hab grad keine Zeit, also wenn es dir nur darum geht, schick mir eine Mail.«

»Es geht um die Aufnahmen, die du geschickt hast. Wenn die echt sind, ist das eine politische Wasserstoffbombe. Ich hab sie von unserer Bildbearbeitung aufblasen lassen, und das sieht nach einem Plan aus, am Seeufer ein Luxusparadies hochzuziehen – die ganze Ufermeile zwischen Forty-seventh und Thirty- ninth. Mit Stadtvillen, Eigentumswohnungen, ­Boutiquen, Privathafen und Profigolfplatz. Ich will damit an die Öffentlichkeit, aber meine Herausgeber machen auf supervorsichtig. Sie wollen einen Echtheitsnachweis für die Info. Und wir alle wollen wissen, ob es ein ernst gemeinter Bauplan ist oder bloß der Tagtraum von irgendwem.«

»Ich hatte sogar den Eindruck, die wollen den Lakeshore Drive wegreißen.«

»Ihn verlegen, und das bedeutet, westlich der Bahnschienen Wohnviertel und alles Mögliche plattzumachen. Ich brauch den Echtheitsnachweis.«

»Hab keinen«, sagte ich. »Ich glaube, das sind von der Parkbehörde ausgegebene Grafiken, aber ich kann sie nicht zurückverfolgen. Und ich weiß auch nicht, ob es eine Wunschliste ist oder ein greifbares Vorhaben. Ich bin sogar direkt zur Behörde, um Taggett nach den Plänen zu fragen, noch bevor ich diese Bilder gesehen hatte, und am Tag drauf hat er Gorillas vorbeigeschickt, um mir Angst zu machen. Kannst du nicht ein paar FOIA-Anträge losjagen?«

»Ich hab doch keine konkreten Angaben«, schnarrte er. »Ich brauch datierte Gespräche oder E-Mails oder sonst irgend­einen Scheiß, irgendwas zwischen einem Amtsmufti oder ­Taggett oder dem Bürgermeister und einem Projektentwickler. Diese Grafik hat ein technisches Büro angefertigt. Wir kriegen die Signatur des Bauingenieurs nicht gut genug aufgelöst, aber es könnte ein Frauenname sein, so was wie Mina, zweiter Vorname abgekürzt, was mit Y, Nachname Punter. Bloß finde ich weder eine Bauingenieurin noch ein technisches Büro mit dem Namen. Wie bist du da rangekommen?«

»Hab’s dir doch gesagt: ein USB-Stick in einem herrenlosen Rucksack.« Vielleicht hätte ich dazusagen sollen, dass es sich – wahrscheinlich – um den Stick von Leo handelte, aber dadurch hätte ich Bernie mit reingezogen. Murray bearbeitete mich noch ein paar Minuten, schließlich giftete er: »Tu mir bloß ja keine Gefallen mehr«, und legte auf.

Als ich wieder auf die Fahrbahn rollte, dachte ich an die Landvermesserfähnchen, die ich im Burnham-Biotopkorridor gesehen hatte. Irgendwer hatte vor, da eine Quadratmeile Seeufer zu privatisieren. Der Park-Superintendent war mit von der Partie; sie hatten schon angefangen, das Terrain abzustecken. Kein Wunder, dass seine Gorillas rumgekommen waren und mich bedroht hatten. Die Nachtluft war schwül, doch mir war kalt.