Peter Sansen hatte mich zu erreichen versucht. Er vermisste mich, er wollte wissen, dass ich wohlauf war.
Ich rief an, aber er war nicht am Netz. Ich schrieb ihm eine lange Nachricht und gab mir Mühe, weder quengelig noch ängstlich zu klingen. Ich schrieb, dass man auf mich geschossen hatte, dann löschte ich das wieder – er war sechstausend Meilen entfernt und würde sich nur verrückt machen und ohnmächtig fühlen. Stattdessen schrieb ich über die Canyons und Höhlen, die ich in Kansas gesehen hatte; nie mehr würde ich mir einbilden, dass dieser Staat flach war. Ich war einer Kräuterheilerin begegnet, die in einer Wohnhöhle lebte. Sie nutzte Solarenergie für ihren Haushalt. Und ich vermisste ihn. Vermisste jemanden, der nachts die Arme um mich legte und mir Behagen spendete. Vermisste jemanden, der wertschätzte, was ich tat und wie ich es tat – du bist so kompetent in deinem Beruf, sagte Peter oft zu mir.
Drei meiner zahlenden Klienten forderten Ergebnisse ein. Es war ihr gutes Recht, sich zu beschweren, aber ich kam mir vor, als stünde ich im Schlagkäfig und würde mit Bällen bombardiert, die ich so schnell gar nicht treffen konnte. Ich rief meine Klienten an und sagte, ich käme mit ihren Fällen gut voran und würde Ende der Woche Bericht erstatten. Falls ich so lange lebte.
Es machte mir Sorge, wie mein Betrieb darunter litt, dass ich mit einem Riesen-Oktopus rang – ein Arm die Burnham-Biotopkorridor-Morde, ein weiterer Lydia Zamirs Probleme, ein dritter der mysteriöse Fremde, der Patronenhülsen aus der Leichenhalle holte, wo Hector Palurdo lag, plus Murray, SLICK, Larry Nieland, Guillermo und Filomena Quintana. Es machte mir Angst, an Murray zu denken, der dem Tode nahe war: Jemand wollte auch meinen Tod.
Bernie und Angela, noch ein Arm. Im Laufe des Vormittags hörte ich von beiden Müttern: Arlette rief an und erzählte, dass sie Mühe hatte, Bernie in den Bergen festzuhalten, wann, glaubte ich, konnte sie nach Chicago zurück? Von Angela Creedys Mutter in Shreveport kam eine ähnlich lautende Nachricht. Ich schickte die beiden Mütter aufeinander – konnte Arlette nicht Angela einladen, vor dem schwülen Louisianasommer in die Quebecer Berge zu flüchten?
Am liebsten wäre ich selbst dort hingefahren. Viel besser, als im Halbschlaf durch die drückende Hitze zu chauffieren. Mein Rücken beschwerte sich über das vorgelehnte Fahren im Subaru. Ich hielt an einer Einkaufsmeile und holte mir ein Kissen, das mich dem Lenkrad etwas näher brachte. Im Drugstore fand ich Augentropfen – vielleicht erzeugte es die Illusion von genug Schlaf, wenn ich meine müden Augen befeuchtete. Mein Anblick im Spiegel auf der Kundinnentoilette war beunruhigend. Trotz der Dusche heute früh war mein T-Shirt durchgeschwitzt und mein Haar strähnig verfilzt. Ich würde mir die Zeit nehmen müssen, nach Hause zu fahren und mich umzuziehen. Das Risiko eingehen, entdeckt zu werden. Mit Mr. Contreras reden, mich möglichst von meinem Bett fernhalten.
Gespräche mit meinem Nachbarn sind niemals kurz, können aber auch heilsame Wirkung haben. Trotz meiner langen To-do-Liste fühlte ich mich nach der Stunde, die wir zusammen im Garten verbrachten, mehr wie ich selbst und weniger wie ein Giftmüll-Tsunami. Mitch und Peppy begrüßten mich mit seligem Winseln, wir aßen Sandwiches mit Mr. Contreras’ selbstgezogenen Tomaten und brachten einander über die Banalitäten des Alltags auf den Stand – seine Enkel, was er an der Rennbahn gewonnen und verloren hatte, meine Nachricht von Peter Sansen, Neues von Bernie, ein Waschbär, den ich gesehen hatte, als ich Angelas Auto holte. Das Schlimme am Alleinsein ist, dass sich niemand für solche Kleinigkeiten interessiert.
Dann duschte ich nochmals und zog legere Geschäftskleidung an – leichte beige Sommerhose, kurzärmeliges weißes Baumwollhemd und flache Schuhe. Ich öffnete meinen Safe im Schlafzimmer und betrachtete meine Kanone. Immerhin gab es Leute, die auf mich schossen. Aber wenn der Mann, der mich in den Horsethief Canyon verfolgt hatte, mit seiner Bergara hier auf irgendeinem Dachfirst hockte, würde mir die Knarre auch nicht viel nützen. Ich machte den Safe mit meiner Smith & Wesson drin wieder zu.
Es war fortgeschrittener Nachmittag, als ich beim Herald-Star ankam. Die Zeitung war in einem alten Lagerhaus am Chicago River untergebracht, mit Blick aufs Hauptquartier ihres reichen Mutterkonzerns: Global One, wo die Streamingdienste, Kabelsender, Talkshows und so weiter residierten, lag weiter oben am Wacker Drive. Bevor ich mit Bolton sprach, wollte ich mit Murrays Kolleginnen und Kollegen bei der Zeitung reden.
Trotz des schäbigen Gebäudes verfügte der Herald-Star über strenge Securityregeln. Ich zeigte meinen Ausweis vor und bat darum, mit Gavin Aikers sprechen zu dürfen, dem leitenden Redakteur für Regionales. »Sagen Sie ihm, ich brauche ein Update zu Murray Ryersons laufenden Projekten.«
Aikers kam persönlich raus zum Empfang und geleitete mich nach drinnen, eine Hand hinten in meinem Kreuz, reflexhafte Machtspielchen. Er war ein kleiner stämmiger Mann, Muskeln, kein Fett, mit einer dichten braunen Lockenpracht, durch die er engelhafter wirkte, als er vermutlich war.
Er schnalzte anteilnehmend mit der Zunge über Murrays Schicksal. »Die Zeitung hat fünfundzwanzigtausend Dollar Belohnung fürs Aufspüren seines Angreifers ausgesetzt. Murray ist einer unserer meistgeschätzten Investigativen.«
Der Star hatte diese Großraum-Innenarchitektur, die beim Management so beliebt ist und für ein Maximum an Lärm mit einem Minimum an Konzentrationsmöglichkeit sorgt. Vielleicht gab es bei der Zeitung deshalb nicht mehr viel seriösen Journalismus – zu mühsam, dem Faden einer komplexen Story zu folgen, wenn der Geräuschpegel dem einer stark genutzten Landebahn am O’Hare gleichkommt.
Als leitendem Redakteur stand Aikers ein kleines Büro zu. Es war nicht gerade schallisoliert, aber bei geschlossener Tür konnten wir einander immerhin hören.
Aikers’ Miene war feierlich. »Es ist wirklich schockierend. Diese Stadt ist so gefährlich geworden –«
»Besonders für Journalisten. Das war kein Raubüberfall, Mr. Aikers. Murray hat sich Dokumente angesehen, die mit Plänen der Parkbehörde zu tun haben, den Strand an der Forty-seventh Street auszubauen. Ein Junge namens Leo Prinz, der die Entwürfe für diesen Strand gesehen hat, ist vor einem Monat ermordet worden. Hat Murray irgendwelche Texte über den Park oder den Mord eingereicht?«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Aikers.
Ich grinste böse und hoffte, es sah so fies aus, wie ich mich fühlte. »Da ich keine Journalistin bin, hab ich den Jargon vielleicht nicht so drauf. Sie wissen doch, wie es in Chicago läuft – wer hier was bauen will, muss dafür sorgen, dass gewisse Parteien ihre Kampagnenmittel aufstocken können. Es geht nicht darum, was man tut oder wen man kennt, sondern wie viel man blechen kann.«
Aikers rutschte unbehaglich hin und her, aber kein Journalist, der etwas auf sich hielt, konnte die berüchtigten ungeschriebenen Gesetze des Bundesstaats und der Stadt leugnen: den »Pay to play«-Code – wer blecht, hat Recht.
»Hat Murray an etwas über irgendwelche Macher geschrieben? Hat er Ihnen von Norm Boltons Plan erzählt, uns vor laufender Kamera nach Lydia Zamir suchen zu lassen? Ist Murray auf was gestoßen, was Bolton oder die Juristen von Global unterm Deckel halten wollen? Sie sind sein Redakteur, Sie müssen doch mal gesehen haben, woran er arbeitet.«
Aikers trommelte mit den Fingern auf seinem Schreibtisch. »Wenn er etwas geschrieben hat, dann wohl nur Entwürfe, nichts, was er mir gezeigt hätte. Ich hatte gehofft – oder Norm hat gehofft –, dass er Ihnen Rohfassungen geschickt hat, weil er Ihrem Urteil traute.«
»In all den Jahren, die ich Murray kenne, hat er mir nicht ein Mal eine Rohfassung vorgelegt. Da ist er wie so viele Schreiberlinge – er will den Ruhm für sich allein.«
»Wir hofften, er hätte Ihnen gesagt, woran er arbeitete. Sie hingen bei der Geschichte um die Zamir mit drin. Und bei dem Mord an dem Prinz-Knaben auch. Sie müssen doch etwas wissen!«
Ich schüttelte den Kopf. »Wenn ich was wüsste, säße ich nicht hier und würde versuchen, Informationen aus Ihnen rauszuholen. Sergeant Pizzello hat mir gesagt, Murrays Handy und Laptop sind weg. Hat er FOIA-Anträge gestellt, um das Material zur Stranderweiterung an der Forty-seventh Street einsehen zu können?«
»Wir wissen es nicht«, sagte Aikers. »Murray hatte hier eine Sonderstellung – sein Pulitzer, Jahrzehnte Erfahrung –, er konnte eine Story nach Belieben weiterverfolgen und sie erst vorlegen, wenn er so weit war. Alle sagen, er stand Ihnen näher als sonst wem, wir waren alle sicher, dass Sie wissen, an was er dran war.«
»Die Polizei erzählt mir dasselbe mit denselben Worten, woraus ich schließe, dass Sie ihnen das vorgekaut haben. Ich kenne Murray Ryerson schon sehr lange, und wir haben ein paar fette Storys am Wickel gehabt, aber ich würde sagen, wir waren mehr Rivalen als beste Freunde. Seit er nicht mehr an Wirtschaftsverbrechen arbeiten kann, haben sich unsere Wege kaum noch gekreuzt, also weiß ich nicht, was er gemacht hat, außer dieser Serie über gefallene Berühmtheiten aus Chicago. Hat er die Morde an den zwei Männern untersucht, die an der Versammlung beteiligt waren, wo der Entwurf präsentiert wurde?«
»Murray hat diese Todesfälle erwähnt, aber die Polizei hatte ja einen Verdächtigen. Einen Obdachlosen, der mit seinem Hund an der Ufermeile herumgeistert. Ich fand nicht, dass wir uns bei der Suche nach ihm engagieren sollten«, sagte Aikers steif.
»Aber Sie haben doch Murray immer lange Leine gelassen und ihm erlaubt, seinem Riecher zu folgen?« Ich konnte meine Verachtung nicht verhehlen. »Und jetzt, wo ihn jemand am gleichen Ort wie Prinz kaltmachen wollte, haben Sie doch einen Reporter darauf angesetzt, der Verbindung zwischen den beiden Toten und dem Anschlag auf Murray nachzuspüren, oder?«
»Die Polizei geht von einem Nachahmungstäter aus«, sagte Aikers. »Sie wissen ja, wie das mit Verbrechern ist – die wollen ins Fernsehen, also kopieren sie Aufsehen erregende Taten und Methoden. Murray hatte einen guten Draht zur Polizei und meinte, den hätten Sie auch, als Tochter eines Cops. Deshalb bitte ich Sie, mir zu erzählen, was Sie über die Ermittlungen wissen – ob dieser Sergeant, von dem Sie vorhin sprachen, irgendwas gesagt hat, was auf einen Verdächtigen hindeutet.«
»So ist aber Hildy Johnson nicht zu ihren Ergebnissen gekommen«, sagte ich.
»Hildy wer?«, fragte Aikers.
»Johnson. Sein Mädchen für besondere Fälle. Sie hätte sich geschämt, ihre Verantwortung als Reporterin auf die Cops abzuwälzen.«
Vielleicht hätte ich doch ein bisschen schlafen sollen. Ich hatte mein Temperament nicht unter Kontrolle.
Ich wechselte das Thema. »Norm Bolton hat Sie sich vorgeknöpft, was? Es war seine Idee, zu filmen, wie ich nach ihrem Verschwinden Lydia Zamir suche. Er hat mir weiszumachen versucht, dass Global Schuldgefühle hat, weil sie in Panik geflüchtet ist, erst vor den Fernsehkameras und dann aus dem Krankenhaus.«
»Das stimmt schon«, beteuerte Aikers. »Ich würde es Verantwortungsgefühl nennen, nicht Schuldgefühl. Murray hatte die Story gebracht, also war es mehr Sache des Star als von Global. Norm und ich haben darüber geredet.«
»Also könnte Murray nach Zamir gesucht haben und mit dem in Konflikt geraten sein, der sie hat. Vorausgesetzt natürlich, dass sie noch am Leben ist.«
Aikers fummelte mit einem Stiftdeckel herum. »Alle sagen, der Mann, der die zwei Typen im Park gekillt hat, hat sich die Zamir geschnappt und versteckt sie irgendwo. Was wissen Sie darüber?«
»Nicht das Geringste.« Ich stand auf. »Wenn Sie das nächste Mal mit Bolton reden, fragen Sie ihn mal, ob er im Vorstand von Minas y Puentes sitzt. Vielleicht ist er selber dafür nicht dick genug, aber er dürfte immerhin wissen, ob euer dicker Fisch von Oberboss dazugehört.«
»Wovon zum Teufel reden Sie denn jetzt wieder?«
»Oscar Taney. Er hält die Aktienmehrheit von Global, nur falls Sie wirklich so ahnungslos sind, wie Sie tun.«