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Der junge Reporter erwacht

Wieder verbrachte ich die Nacht in Murrays Krankenhauszimmer. Er war vollends vom Beatmungsgerät entwöhnt worden; die Pflegerin auf der Intensivstation sagte, sie würden ihn nun allmählich aus dem Koma holen. Sobald sie imstande waren, das Ausmaß der Hirnschädigung abzuschätzen, war zu entscheiden, ob er auf eine reguläre Station verlegt werden konnte.

Ich kniete mich neben ihn und massierte seine Hand. »­Murray, hier ist V. I. Du bist im Krankenhaus. Du wirst wieder, okay? Sag’s mir nach: ›Ich werde wieder gesund. Ich bin der König der Journalisten und niemand bringt mich zum Schweigen.‹ Lotty passt auf dich auf, und ich auch. Du musst nur noch genesen. Und mir sagen, wer auf dich geschossen hat, damit ich dafür sorgen kann, dass er es bereut, jemals morgens aufgestanden zu sein.«

»Er hat Glück, so eine hingebungsvolle Schwester zu haben.«

Ich fuhr zusammen. Die Stationsschwester war auf lautlosen Sohlen hinter mir hereingekommen.

Ich fragte sie, ob sich außer mir, Lotty und Max jemand nach Murrays aktuellem Zustand erkundigt hatte. Sie berichtete, sein Redakteur bei der Zeitung, den es tief verstörte, dass Murray immer noch im Koma lag, riefe mehrmals täglich an.

»Machen Sie ihm nicht zu schnell Hoffnung«, sagte ich. »Die wollen ihn nur viel zu früh wieder am Schreibtisch haben, wenn sie glauben, dass er auf dem Weg der Besserung ist.«

»Wir werden hier niemanden anlügen, auch nicht wegen irgendwelcher Arbeitnehmeransprüche«, verkündete die Sta­tionsschwester frostig.

»Es geht mir doch nicht um Versicherungskram – die werden ihm Druck machen, und er kann schlecht nein sagen. Nicht nur aus Leidenschaft für den Job, nein, Sie wissen doch, wie das ist – älterer Mann mit viel Erfahrung und hohen Ansprüchen, den würden sie nur zu gern loswerden zugunsten von jemandem, der jung und billig ist.«

»Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob er je wieder arbeiten kann.« Sie entspannte sich etwas. »Wir müssen erst mal sehen, wie viel von seinem Gedächtnis wiederherstellbar ist.«

Als sie weg war, wandte ich mich wieder Murray zu. Ihm drohte wahrscheinlich keine Gefahr, solange die Außenwelt glaubte, er liege noch im Koma. Wenn sein Redakteur aber die Befehlskette aufwärts in Richtung Norm Bolton weitergab, dass Murray allmählich das Bewusstsein wiedererlangte, dann würde sich der Auftraggeber des Anschlags Sorgen machen, er könnte über die Pläne für den Burnham-Biotopkorridor ­plaudern.

Erneut legte ich mich neben ihn, sang ihm vor, sprach für ihn alles durch, was ich herausgefunden hatte, und berichtete von meinen Versuchen, das Puzzle zusammenzusetzen. Der Schatten, den diese ganze Geschichte warf – dass die Quintanas mutmaßlich an einer Verschwörung beteiligt waren und ihren Neffen hatten ermorden lassen, dazu noch sechzehn weitere Menschen –, war so gewaltig, so monströs, dass ich einfach nicht dicht genug herankam. Außerdem war ich so müde, dass sich mein Gehirn festgefressen hatte wie ein Satz Kolben, denen das Schmiermittel fehlte.

Ich ging zu dem Ruhesessel und fiel in unruhigen Schlaf. Murrays Stöhnen weckte mich um kurz nach sieben. Er zappelte in dem schmalen Bett herum, und zwei Krankenschwestern von der Tagschicht waren mit seinen Infusionen zugange. Eine tolle Leibwache war ich – die Pflegerinnen waren reingekommen und hatten sich zwischen den Sessel und das Bett geklemmt, ohne dass ich mich rührte.

Taumelnd raffte ich mich auf, schob den Sessel aus dem Weg und überprüfte, ob es sich bei den beiden Frauen wirklich um Pflegerinnen handelte, die im Krankenhaus beschäftigt waren. Dann ging ich auf der anderen Seite des Bettes in die Hocke und rieb Murrays Schulter. »Hier ist V. I., Murray, ich bin bei dir.«

Seine Lider flatterten und er schlug kurz die Augen auf, so blutunterlaufen, dass man ihre Farbe nicht erkennen konnte. »Vic?« Seine Kehle war von der Intubation zugeschwollen, trotzdem ging mir das Herz auf; er erkannte mich auf Anhieb. Sein Gedächtnis funktionierte.

Ich drückte seine Hand. »Ja, ich bin’s. Du schaffst es, Murray. Irgendwer hat auf dich geschossen, aber ich krieg sie, und wenn ich sie bis ans Ende der Welt verfolgen muss.«

Die Pflegerinnen sahen mich entgeistert an. »Regen Sie ihn nicht auf!«

»Ich beruhige ihn doch nur«, protestierte ich. »Er weiß, dass ich halte, was ich verspreche.«

»Es wär besser, wenn Sie keine Gewalttaten versprechen würden.«

Ich hatte es echt langsam satt, für alles, was ich tat, bekrittelt zu werden. Ich beugte mich wieder über Murray. »Keine Sorge. Hier bist du sicher. Lotty passt auf dich auf. Und sogar Mr. Contreras.«

Ich glaubte seinen Mundwinkel zucken zu sehen, als versuchte er zu schmunzeln bei der Vorstellung, dass Mr. ­Contreras über ihn wachte.

»Vic. Bande.« Er versuchte sich aufzusetzen, seine Finger tasteten hektisch über die Bettdecke, suchten meine.

Ich nahm seine Hand. »Ja, eine ganz üble Bande, Murray. Aber du warst ihnen auf der Spur. Kannst du mir sagen, wer es war?«

»Bande. Bande.«

Die Pflegerinnen warfen mir einen extrem genervten Blick zu, spritzten irgendwas in seinen Tropfschlauch, und er fiel wieder in Schlaf.