Vorbemerkung von Else Laudan

V. I. Warshawskis zwanzigster Romanauftritt beginnt mit einer fröhlich entgleisenden Stadtteilversammlung. Es geht in Landnahme um Musik und Politik, um die Metropole und ihre Geschichte, um Prärie und Ackerbau, um das Spannungsfeld Wirtschaft und Demokratie: Wem gehört das Land? Wem gehört die Stadt?

Meisterin Sara Paretsky erzählt in dieser mit schillernden Gestalten bevölkerten Krimi-Oper auch von Verbrechen, die dem rechtsstaatlichen Radar entgehen. Eine Stadt wie Chicago (oder Berlin, oder sonst eine Stadt) ist ein hyperkomplexes Gebilde aus Menschen, Bauten, Infrastruktur, Politik und Zivilgesellschaft, durchsetzt/zersetzt von Gier und Hybris elitärer Eminenzen, die sich am urbanen Lebensraum bereichern und ihn ausbluten, so wie auch das Land, so wie alle Ressourcen des Planeten, rechenschaftsfrei, ohne sanktioniert zu werden – von wem auch? Wer blickt durch, ohne mit drinzuhängen?

Ich lese Landnahme als Ode an die Aufklärung, bin erinnert an das Geschichtswerkstätten-Motto »Grabe, wo du stehst«, ab den 1980ern weltweit Methode gesellschaftspolitischer Geschichtsaufarbeitung. Das Ziel: demokratische Selbstermächtigung durch Zutagefördern der Geschichte der eigenen Lebensbedingungen, um die Deutungsmacht nicht herrschenden Eliten zu überlassen, um sich kollektiv als historische Akteur*innen zu begreifen, um Gegenwart und Zukunft mitzugestalten. Erforscht werden von der dominanten Erzählung marginalisierte Themen und Lebenswelten: Werktätige, Frauen, Randgruppen, Nichtweiße, Geschichten von Unterdrückung und Widerstand. Die Menschen eignen sich das Geschehen in der Gesellschaft an.

Für mich verkörpert V. I. Warshawski diese Maxime so konsequent und zeitgemäß wie kaum eine Gestalt in der Kriminalliteratur. Ihr vehement engagiertes Interesse an den diversen Realitäten treibt sie an. Unabhängig und unermüdlich gräbt sie, wo sie geht und steht, buddelt verdrängte und verschwiegene Wahrheiten aus, kassiert Belehrungen und Blessuren, ohne klein beizugeben, auch wenn sie nicht siegen kann. Möge ihr rechtschaffen forschender Geist einige von uns anstecken. Unsere Welt braucht dringend viele Warshawskis. .

 

Else Laudan