„Ich fragte mich, ob er ein normaler Soldat oder was anderes gewesen ist.“

Siegfried Frizzi, Sohn

Was sind deine ersten Erinnerungen an die Vergangenheit deines Vaters?

Die ersten Erinnerungen habe ich nicht an seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS, sondern dass er im Krieg war. Ich war noch Schüler und hatte meinen Atlas vor mir, weil ich etwas lernen musste. Als mein Vater kam, nahm er den Atlas und zeigte mir, wo er im Krieg war. An die Waffen-SS kann ich mich in dieser Zeit nicht erinnern, das ist erst nach seinem Tod passiert, als ich seine Feldpostbriefe wiedergefunden habe. Er hatte sie mir früher mal gezeigt, aber wir hatten nicht reingelesen. Ich wusste eben nur, dass es sie gibt.

Und wie war das für dich, als du dann gesehen hast, dass er bei der Waffen-SS war?

Ich habe darüber nachgedacht, was das jetzt bedeutete. Waffen-SS war bis dahin nur ein Symbol für Verbrechen der Nazizeit. Ich fragte mich, ob er nun wirklich ein normaler Soldat oder was anderes gewesen ist. Da hat es bei mir angefangen mit der Recherche. Ich habe als Erstes die Briefe durchgelesen. Da ist mal ein Name gefallen, dann war es mal eine Ortschaft und so konnte ich im Internet und in Büchern auf die Suche gehen. Ich habe dann auch meine Mutter gefragt. Aber sie weiß eigentlich nicht viel, da mein Vater ihr fast nichts erzählt hat. Sie war halt auch jünger, Jahrgang 1936, sie wird nun achtundachtzig. Mein Vater erzählte ihr nur, dass er gerne noch einmal nach Deutschland gefahren wäre, und mir hat er gesagt, dass er noch einmal nach Finnland wollte. Aber beides hat er dann nicht gemacht, obwohl wir mitgefahren wären. Das war alles, was er gesagt hat. Obwohl ich wusste, wo er im Krieg gewesen ist, hatte ich doch Angst, dass ich etwas anderes, etwas Schlimmes, herausfinden könnte. Das hat mich die letzten Jahre sehr beschäftigt. Er war im Krieg, und im Krieg erschießt man andere oder wird erschossen und Menschen sterben und natürlich ist der Krieg nicht gut. Es gab auf dem Rückzug der deutschen Verbände aus Finnland Verbrechen an der Zivilbevölkerung und verbrannte Ortschaften. Ich weiß nicht, ob er da dabei war, und habe bis heute noch Angst, diesbezüglich etwas herauszufinden.

Hast du Angst, dass das in dir dein Vaterbild zerstören würde?

Wie war dein Vater so?

Zerstören? Nein, das nicht. Natürlich würde es mir etwas ausmachen und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen würde. Aber egal was im Krieg war, ist mein Bild von ihm ein positives, wie er zu mir, wie er in der Familie, wie er als Mensch war. Falls da etwas gewesen wäre, könnte ich mir nur vorstellen, dass er aus Zwang an solchen Sachen beteiligt gewesen wäre. Er hat sich ja, wie es aussieht, nicht freiwillig zur Waffen-SS gemeldet, was mich beruhigt. Ich konnte ihn mir auch nie hart vorstellen. Er war ein netter Mensch, was auch andere, die ihn kannten, mir immer wieder sagen. Er war fürsorglich und immer für die Familie da. Diszipliniert ist vielleicht das falsche Wort, er war gewissenhaft und in dieser Hinsicht für mich ein Vorbild. Auf der anderen Seite hatte er dann schon seine Momente, wo er auch zornig werden konnte, was bestimmte Ansichten oder Sachen betraf. Da bekam ich dann schon Angst. Einmal war er bei der Gartenarbeit und Jugendliche sind mit ihren Mopeds den Weg am Garten entlanggerast. Das hat ihn total ausrasten lassen. Er ist mit der Schaufel in der Hand rausgerannt und hat sich ihnen in den Weg gestellt und sie bedroht und angeschrien. Ich habe vom Balkon aus zugesehen. Einerseits hat es mir imponiert. Er hatte überhaupt keine Angst, sich da mitten rein zu stellen und eventuell umgefahren zu werden. Sie haben dann bremsen und aufpassen müssen, nicht selbst zu stürzen. Manche sind dann stehen geblieben und haben geschaut und er hat sie zusammengestaucht. Danach ging er wieder zurück und an seine Arbeit, als wäre nichts geschehen. Aber ich hatte vor diesen Situationen schon Angst. Auch mit meiner Mutter gab es Konfliktsituationen. Aber ich weiß nicht wieso, die andere Situation kann ich eher zurückführen auf seine Kriegserlebnisse. Bei meiner Mutter gebe ich ihr auch eine Mitschuld, denn sie konnte manchmal eine Nervensäge sein. Und dann ist er ihr gegenüber ausgerastet. Er war nie handgreiflich oder beleidigend. Aber er hat sie zurechtgewiesen und dann ist er in solchen Momenten immer explodiert. Einmal hat er mit dem Brett, auf dem man den Speck schneidet, auf das Waschbecken eingeschlagen. Ich war da schon achtzehn Jahre alt und hatte Angst, was noch alles passieren würde. Aber zum Glück ist es dann dabei geblieben. Meine Mutter bekam dann auch Angst und lief aus der Küche weg.

Wie war das mit dir und deinen Geschwistern?

Meine Schwester ist acht, mein Bruder ist zehn Jahre älter. Deswegen habe ich von ihrer Kindheit und Jugend nicht so viel miterlebt. Meine Schwester ist ausgezogen, als ich zehn war. Mein Bruder hat sowieso ein separates Leben zu Hause geführt und war viel auf seinem Zimmer. Nur beim Essen waren wir alle zusammen. Aber meine Schwester hat mir erzählt, dass unser Vater mit ihnen viel strenger war. Er hat ihnen weniger durchgehen lassen als mir und das haben sie auch gemerkt. Nicht, dass er sie geschlagen hat, aber er hatte halt seine Ansichten. Wir mussten früh schlafen gehen oder auch am Nachmittag Ruhe halten und diese Sachen. Aber mit der Zeit hat er es aufgegeben, darauf zu bestehen, was vielleicht auch daran lag, dass er älter wurde. Mich hat er nie geschlagen, mir vielleicht zwei oder drei Mal eine Ohrfeige gegeben, und die waren auch okay. Ich hatte einmal meine Mutter schwer beleidigt und da bekam ich eine Ohrfeige, aber er ist mir gegenüber nie ausgerastet. Er war sehr kontrolliert und hat mir nie mehr als eine Ohrfeige gegeben.

Hat dein Vater mit dir über den Krieg, den Holocaust oder die Waffen-SS gesprochen?

Er hat mehr oder weniger immer die gleichen Sachen vom Krieg erzählt. Das Erste, was mir einfällt, ist, dass er einmal an einer Hausmauer am Eck mit dem Gewehr in Stellung war und in dem Moment, wo ein Kamerad ihm von hinten auf die Schulter klopft und er sich umdreht, hat jemand geschossen. Der Schuss hätte ihn voll erwischt und so verdankt er der Situation sein Leben. Die Nordlichter in Finnland haben ihm sehr imponiert und dass er mit den Langlaufskiern in unglaublicher Kälte unterwegs war. Eigentlich hat er fast nur schöne Sachen erzählt, wie dass da ein Marokkaner war, der den besten Kaffee seines Lebens gemacht hätte, und solche Geschichten.

Wie war dein Vater politisch orientiert nach dem Krieg?

Er hat immer die Südtiroler Volkspartei gewählt und auch mir gesagt, dass ich die wählen soll. Man hat ihn oft „Magnago“ genannt. Ich weiß nicht, ob es wegen seines Aussehens oder wegen seiner Einstellung war. Magnago war ja eher für eine konstruktive und nicht für eine extreme Lösung der Südtirolfrage. Aber mein Vater hat eigentlich nie politische Positionen für oder gegen etwas bezogen. Er hat die Dinge unkommentiert gelassen. Auch als er mir erzählte, dass ihn die Carabinieri zur Zeit der Bombenanschläge in Südtirol in den 1960er-Jahren vernommen hatten, weil sie dachten, er könnte etwas damit zu tun haben, hat er das einfach nur erzählt und nichts weiter dazu gesagt. Das gilt auch in Bezug auf die Vergangenheit und den Krieg.

Deswegen bekomme ich auch bestimmte Sachen, wenn ich an ihn und die SS denke, nicht zusammen. Mein Vater hat nie ein diskriminierendes Wort gegen jemanden gesprochen – egal, ob es jetzt ein Mensch mit schwarzer Hautfarbe war, er war zu allen nett. Früher sind bei uns immer noch viele Roma vorbeigekommen, um ihre Decken zu verkaufen. Nie gab es irgendein abwertendes Wort. Meine Schwester und ich denken, dass er mit dem Krieg und dieser Zeit einfach abgeschlossen hatte. Nach dem Motto: Vorbei und fertig.

In seinen Feldpostbriefen erscheint dein Vater durchaus als wütender junger Mann mit einigem Gewaltpotenzial, wenn er zum Beispiel den Deserteuren den Tod wünscht.

Ich habe darüber auch ab und zu mit meinem Bruder gesprochen. Mein Bruder sagt, dass unser Vater schon überzeugt war von dem, was er damals gemacht hat. So wie ich den Charakter meines Vaters kenne, kann ich mir gut vorstellen, dass er bereit war, bis zum bitteren Ende mitzumachen und mit unterzugehen. So wie es in den Briefen steht, wäre er ja gerne 1943 in Südtirol gewesen und hätte geholfen, die Deserteure zu jagen. Das kann ich mir gut vorstellen, denn wenn er einer Idee folgte, dann musste man seiner Meinung nach auch dazu stehen, dann musste man die verteidigen, egal ob sie falsch oder richtig war. Was dazu passt, ist sein Verhalten mir gegenüber, als ich nicht mehr in die Kirche gehen wollte. Da fragte er mich nur, was ich eigentlich für ein Christ sei, wenn ich nicht mehr in die Kirche gehe, denn ein Christ gehöre in die Kirche. Aber dabei ist es geblieben.

Wie ist es dazu gekommen, dass du von euch drei Geschwistern derjenige bist, der sich so mit der Geschichte eures Vaters beschäftigt? Wie sehen das deine Geschwister?

Vielleicht sehe ich bei meiner Schwester bis zu einem bestimmten Punkt mehr Interesse als bei meinem Bruder. Bei meinem Bruder kann ich es eigentlich gar nicht sagen, ob er sich damit beschäftigt hat oder nicht. Wenn ich ihn mal zur Waffen-SS befragt habe, war er gut informiert. Er ist ein sehr ruhiger Typ und hat sich mir nie von sich aus mitgeteilt. Ich will halt verstehen, was damals mit dem Vater war, weil ich ihn aus dieser Zeit ja auch nicht kenne. Meine Geschwister konnten mir diesbezüglich nicht viel sagen, weil auch mein Vater mit ihnen nicht gesprochen hat. Meine Schwester hat versucht, ihn zum Erzählen zu bringen, aber er hat immer nur das Gleiche gesagt, dass man im Krieg nichts anderes tun konnte, als zu schießen. Entweder man selbst stirbt oder der andere. Er hat auch dem Mann meiner Schwester, mit dem er gerne gesprochen hat, nicht mehr erzählt als Anekdoten. Antisemitisch hat er sich nie geäußert und ich kann mich auch nicht erinnern, dass er jemals etwas Verherrlichendes über den Krieg gesagt hat. Einmal war eine Hitler-Reportage im Fernsehen. Da hat er nur gesagt, dieses Schwein. Wie er das gemeint hat, weiß ich nicht. Ich habe ihn auch nicht gefragt. Was er auch noch erzählt hat, ist, dass er einer der wenigen Überlebenden aus seiner Einheit war. Das hat ihn schwer mitgenommen. Als er aus dem Krieg zurückkam, hat er drei oder vier Monate nicht mehr gesprochen. Mein Vater hatte immer ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Schwester und sie machte sich Sorgen um ihn. Sie hat ihn dann überredet, zusammen mit den Fahrrädern auf den Schlern zu fahren, um ein paar Tage Urlaub zu machen. Meine Tante hat erzählt, dass es da das erste Mal war, dass sie ihn wieder einmal hat lachen sehen. Offensichtlich hat er die ganzen Kriegserlebnisse erst einmal verarbeiten müssen. Er hat mir erzählt, dass es zwei Jahre lang gedauert hat, bis er wieder halbwegs schlafen konnte. Bei jedem größeren Geräusch ist er aufgewacht und hat gedacht, es sei eine Bombe explodiert oder irgendetwas sei passiert. Er hatte seit dem Krieg auch ein ständiges Ohrensausen und der Rücken war noch voller Granatsplitter, die ihn quälten. Er war ja auch Invalide, im rechten Fuß, da waren die Nerven durchtrennt. Er konnte bestimmte Sachen auch nicht mehr essen, wegen seiner Bauchprobleme. Mit der Zeit ist alles nur noch schlimmer geworden. Das ging so bis zu seinem Tod.

Hat er dir die Narben an seinem Körper gezeigt?

Eines Tages hat er mir einen Granatsplitter, den sie ihm rausgenommen haben, und alle Narben gezeigt. Er hat auch von der Operation erzählt, wie sie mit einem Löffel ohne Narkose den Splitter rausgeholt haben. Er hatte unter der Pobacke ein Loch so groß wie von einem Tischtennisball.

Was siehst du in dir von deinem Vater?

Ich denke, dass ich von ihm die Energie habe, zu etwas zu stehen, auch wenn es ein bitteres Ende gibt. Da hat er schon auf mich abgefärbt. Das hat mir auch an ihm imponiert. Einmal hat er zu mir gesagt, wenn du etwas tun willst, tu es, und es ist egal, was die anderen darüber denken, tu es einfach. Eigentlich hat er selbst so gehandelt, das hat mir schon gefallen.

Erinnerst du dich an eine Situation, wo du ihm klar widersprochen und nicht gemacht hast, was er wollte?

Eigentlich nicht, außer als ich nicht mehr in die Kirche wollte. Da habe ich mich durchgesetzt.

Die meisten von uns erzählen, dass unsere Väter pflegeleicht waren, solange wir gemacht haben, was sie von uns wollten, dass aber Widersprechen ein Problem war.

Meine Geschwister haben immer gesagt, dass mein Vater klar der Chef im Haus war. Vielleicht ist es nie schwierig mit ihm geworden, weil niemand von uns wirklich rebelliert hat. Mein Vater hat sich sicher so aufgebaut, dass man sich in dem von ihm gesteckten Rahmen bewegen musste. Aber wenn ich an meine Schwester denke, kann ich mich an ein paar Situationen erinnern, wo sie schon stark diskutiert haben. Meine Schwester war ja eine andere Generation als er und mein Vater hatte das Bild im Kopf, dass die Frau zu Hause bleiben soll und der Mann arbeiten geht. Meine Schwester hat ihm dann gesagt, dass das nicht mehr geht. Mein Vater hatte da seine Meinung und Einstellung und von der ist er auch nicht weggegangen. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass er da ausgerastet wäre. Meine Schwester hingegen hat mir erzählt, dass es nicht einfach gewesen war. Ihr Mann ist ein Italiener aus dem Süden und am Anfang waren beide Eltern nicht damit einverstanden und man hat auch von meiner Mutter dazu einiges gehört. Aber letztendlich hat mein Vater mit der Zeit sich gut mit seinem Schwiegersohn verstanden. Der war eigentlich der Einzige, mit dem er über den Krieg gesprochen hat.

Welche Erziehungsideale würdest du deinem Vater zuschreiben?

Ich denke mal, wir sollten ehrliche Leute sein, die zu dem stehen, was sie sagen und tun.

Bildung war ihm wichtig. Er hätte es auch gern gesehen, wenn wir studiert hätten, obwohl die finanziellen Mittel nicht für uns alle da waren. Wir sollten gut aufwachsen, arbeiten und gut mit unserem Geld umgehen können.

War ihm Pflichterfüllung wichtig?

Ich denke schon, dass er mir das so rübergebracht hat, wortwörtlich, es fällt mir aber kein Beispiel ein.

„Pflicht, Gehorsam, Subordination“?

So einen Spruch habe ich nie gehört von ihm.

Das hat er auch nicht vermittelt?

Pflicht wie gesagt ja, Gehorsam schon, das war wichtig. Aber ich könnte nicht sagen, dass er das mit Gewalt durchgesetzt hätte.

Alle unserer Väter hatten das auf ihrem Koppelschloss:

„Meine Ehre heißt Treue“. Kannst du das irgendwie in Bezug zu deinem Vater bringen?

Nein.

Und auch nicht zu den Deserteuren und „Verrätern“ in Südtirol 1943?

Da schon. Für ihn war nicht vorstellbar, dass er, dass überhaupt jemand aus dem Urlaub nicht mehr zurück an die Front geht, sondern sich einfach versteckt. Das war für ihn undenkbar. Für ihn war klar, dass man das nicht macht. Es gab in der Familie Gerüchte, dass sein Bruder Bruno, der auch bei der Waffen-SS war, am Ende des Krieges einfach zu Hause geblieben ist. Aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Bruno ist dann nach dem Krieg nach Südafrika ausgewandert. Ich habe ihn auf einem seiner Besuche kurz kennengelernt, ich war damals vierzehn. Ein oder zwei Jahre danach ist er gestorben.

Hast du im Alltag mit anderen darüber gesprochen, dass dein Vater bei der SS war?

Ich habe das nicht oft erzählt, weil ich immer gut überlegte, wem ich das erzählen kann und wem nicht. Und auch, wieso sollte ich das erzählen? Einer Kollegin habe ich erzählt, dass mein Vater und ich in diesem Buch sind, und das hat sie toll gefunden. Jetzt in der Schule erlebe ich halt Jugendliche, die gewisse Vorstellungen haben und stark rechts eingestellt sind. Da sage ich dann schon etwas. Ich frage sie, was sie überhaupt wissen, und sage ihnen, dass sie keine Ahnung haben. Die kommen mit Sprüchen, mit Einstellungen, mit Sachen daher und ich denke, dass das so nicht geht.

Machst du deinem Vater Vorwürfe?

Es ist schade, dass er nicht offen über die Waffen-SS gesprochen hat. Ich ertappe mich heute oft dabei, wie ich mir wünsche, ihn wenigstens für einen Nachmittag befragen zu können. Ich würde ihn gerne fragen, ob er stolz auf sich gewesen ist oder nicht. Ich wüsste auch gerne, wie er mit dem Tod von so vielen im Krieg umgegangen ist oder ob das einfach normal für ihn war. Ich würde ihn so gerne, ohne ihn vorzuverurteilen, vieles fragen. Ich habe kürzlich wieder das Buch von Franz Thaler36 gelesen, der sich dem Militär verweigert und sich versteckt hat. Als seine Familie bedroht wurde, stellte er sich und kam ins KZ. Wenn ich an ihn denke, frage ich mich schon, wieso das mein Vater nicht gemacht hat. Hatte er Angst um seine Familie oder war er zu feige zu sagen, ich gehe nicht zum Militär? Oder hat es ihm zu gut gefallen?

Was, meinst du, kann man aus der Geschichte deines Vaters lernen?

Was mir bei meinem Vater so imponiert – dass er trotz allem fähig war, wieder ein halbwegs normales Leben zu führen, eine Familie aufzubauen, drei Kinder großzuziehen, einer Arbeit nachzugehen. Er war ein sozialer Mensch, war bei der Feuerwehr, bei seinem Heimatbund, seinen Kriegskollegen, dem Frontkämpferverband und bei katholischen Veranstaltungen. Das muss man wahrscheinlich erst einmal zuwege bringen. Viele andere wären durchgeknallt oder hätten sich vielleicht auch umgebracht. Dass er doch imstande war, das alles irgendwo unterzubringen und in eine Schublade zu tun, um damit weiterleben zu können, ist für mich schon ein Vorbild. Ich denke dann auch immer wieder daran, wie jung er war. Normalerweise ist man in dem Alter am Meer oder auf einer Schulfahrt oder man findet, dass das Leben wunderbar ist.

Welchen Einfluss hat die Geschichte deines Vaters auf deine Einstellung zum Krieg?

Auf jeden Fall bin ich beeinflusst. Es sollte überhaupt keine Kriege geben. Es ist total absurd, diese ganzen Kriege sind Schwachsinn. Es gibt ja dauernd Kriege, aber jetzt ist es schon heftig und es macht mir Angst, dass es nicht wirklich viel braucht und dann passiert es auch bei uns wieder. Ich habe das Gefühl, dass aus der Geschichte nichts gelernt wird. In der Schule nimmt mich das schon mit, wenn ich so manches von den Jugendlichen höre. Die haben keine Ahnung, was es bedeutet, im Krieg zu sein. Ich selbst auch nicht, aber ich bin mit einem Menschen aufgewachsen, der im Krieg war. Und das ist doch anders, als vom Krieg nur aus Büchern zu erfahren.

Warst du beim Militär?

Mein Bruder ist aus gesundheitlichen Gründen vom Militär zurückgestellt worden. Ich selbst habe mich nicht um einen Zivildienst bemüht. Ich war so naiv zu glauben, dass sie mich schon nicht einziehen würden. Dann war es aber so weit. Kurz bevor ich wegmusste, stand ich bei uns in der Küche und mein Vater kam zu mir und hat mir fast einen traurigen Eindruck gemacht. Er sagte dann zu mir, dass ich mich nicht unterkriegen lassen sollte, und dann ist er zur Arbeit gegangen. Er hat mir fast leidgetan. Gut, ich war auch nicht entzückt, dass ich zum Militär musste, aber bei ihm ist wohl alles wieder hochgekommen. Ich hatte dann das Glück, dass ich nicht das ganze Jahr machen musste. Ich bekam beim Militär eine Allergie und wurde nach ein paar Monaten nach Hause entlassen. Ich weiß nicht, ob das psychosomatisch war, jedenfalls konnte ich fast nichts mehr essen und habe überall Ausschläge bekommen. Etwa ein Jahr später war dann die Allergie wieder weg und kam auch bis heute nicht mehr wieder. Ich habe mich oft gefragt, womit das zusammenhing. Meine Zeit beim Militär war eine echt verlorene Zeit.

Was mir im Moment durch den Kopf geht, dreht sich nicht um meinen Vater, sondern um seine Brüder und die anderen Männer der Familie Frizzi. Ich recherchiere zu seinem Bruder, der nicht mehr aus dem Krieg zurückgekommen und bei Monte Cassino gefallen ist. Ich habe dazu mit Leuten dort Kontakt aufgenommen. Der eine hat eine riesige Kriegssammlung angelegt und sie dann dem Museum in Rovereto gespendet. Ich möchte unbedingt zum Monte Cassino fahren und herausfinden, wo genau mein Onkel gefallen ist. Ich weiß nicht, warum ich das als eine Mission empfinde, aber das unterscheidet mich wohl von meinen Geschwistern.

Wir sind die Generation, die groß geworden ist mit denjenigen, die den Krieg miterlebt haben und in welcher Form auch immer etwas davon an uns weitergegeben haben.

Ja, es geht mir wie dir, ich muss mich dafür interessieren. Mein Vater, meine ganzen Onkel, seine ganzen Cousins, die waren alle im Krieg. Sie sind meine Vorgänger, die gehören zu diesem Baum. Damit lebe ich und ich bin eigentlich auch froh darüber, weil es mir doch viel gibt. Ich fühle mich oft schon als Zeitzeuge, obwohl ich das ja nicht bin. Vielleicht aber doch, denn es lebt ja in mir weiter.

* 1971, wohnt mit seiner Lebenspartnerin und Tochter in Meran und arbeitet als Lehrer in der Schule.