„War ich davor stolz auf ihn, habe ich dann fast Scham empfunden.“

Arno Senoner, Enkel

Wie war es, als Sie erfuhren, dass Ihr Großvater in der Waffen-SS war?

Ich war ungefähr dreizehn Jahre alt. Ich war verwundert und verunsichert und habe das Thema verdrängt. Den Faschismus und seine Ideologie lehne ich ab und dass mein Großvater damit eng in Verbindung stand, rief bei mir Dissonanzen hervor, da er tatsächlich ein liebenswerter Mensch war, mit intellektuellen Fähigkeiten, und uns immer gut behandelt hat. Ich mochte ihn weiterhin, aber es war schon eine Trübung, weniger gegen ihn, sondern vielmehr, dass es keine Unschuld gab in der eigenen Familie, kein Idyll fernab der Geschichte. Ich wurde in der Schule über die Nazizeit unterrichtet und habe Bücher gelesen und Dokumentationen im Fernsehen gesehen. Das „Tagebuch der Anne Frank“ ist mir sehr nahegegangen, die Verstrickung meines Großvaters habe ich verdrängt, denn anders als mit Verdrängung konnte ich diese beiden Welten nicht vereinen. Mit historischen Details über die Waffen-SS und die Naziverbrechen habe ich mich erst später beschäftigt, dann recherchiert, ob mein Großvater daran beteiligt war. Auch Historiker haben das untersucht, und wenn er in Kriegsverbrechen involviert gewesen wäre, hätten wir davon erfahren. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass er nichts gewusst hatte, denn er war ja u. a. in der Ukraine gewesen, wo es massive Kriegsverbrechen vor allem an Juden gab. Unabhängig davon wurde mir klar, dass mein Großvater sicher Menschen in kriegerischen Handlungen getötet haben muss. Das war schon ein Kontrast zu der Welt, in der wir in meiner Jugendzeit lebten.

Wie würden Sie Ihren Großvater beschreiben?

Ich habe ihn als intelligent und liebenswert, mit einem Sinn für Kunst und Ästhetik wahrgenommen. Gleichzeitig war er im öffentlichen Bereich, in Kultur und Bildung aktiv und sozial umtriebig. Er hat uns Enkelkinder gefördert und ernst genommen und war auch ein Vorbild in der Pflege seiner Frau, die lange krank war. Er hatte ein schönes Haus in der Natur mit Pool und viel Kunst, in dem ich als Kind viel Zeit verbracht habe. Ich habe ihn geliebt und auch in gewissem Sinne verehrt. Bei meinem Großvater würde ich sagen, dass er objektiv ein überdurchschnittliches Format hatte. Es gab aber auch Dinge, die mir als Kind ein Rätsel waren: Mein Opa hatte oft viele Gäste und ich konnte nicht verstehen, wie man so viele Leute unterhalten konnte oder wollte. Bei diesen Veranstaltungen in seinem Haus redete eigentlich immer er und alle anderen mussten zuhören, das fand ich damals schon unpassend. Da habe ich gemerkt, dass ich ein anderer Mensch bin als er, und das fand ich auch gut. Heute sehe ich darin etwas Absolutistisches.

Hat Ihr Großvater zu Hause über den Zweiten Weltkrieg, die SS und den Holocaust gesprochen?

Nein, nicht persönlich, nur allgemein, und das finde ich in der Nachbetrachtung auch negativ. Da hätte er etwas sagen müssen, gerade weil er ja intellektuell auf der Höhe war. Ich habe ihn aber auch nie damit konfrontiert, obwohl ich das als Zwanzig- und Dreißigjähriger leicht hätte können, vermutlich auch müssen. Allgemein hat er stets gesagt, dass der Krieg schrecklich war, und er hat sich nie antisemitisch geäußert.

Wie würden Sie seine politische Haltung nach dem Krieg beschreiben?

Über Politik wurde nicht oft gesprochen, obwohl wir politisch interessiert waren. Wir lasen den „Spiegel“ und sahen deutsches Fernsehen. Er gab mir oft die „Hefte zur politischen Bildung“, die eine entsprechende Bundesstelle in Deutschland herausgab. Es war klar, dass sein Bezugsrahmen Deutschland und nicht Österreich war. Mit Sicherheit war er kein Kommunist oder Linker, so viel kann man sagen, und kein Anhänger der amerikanischen Kultur. Man spürte, dass die Niederlage ihn noch immer schmerzte. Parteipolitik spielte bei ihm eher keine Rolle − zumindest nicht nach außen.

Welche Geschichten Ihres Großvaters sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

1984 hat er mir zwei kleine Bücher zum Programmieren von Computern gekauft, er meinte, das sei die Zukunft, und tatsächlich habe ich mein Leben lang mit Computern im Software-Bereich gearbeitet. Als er einmal mit zwei Arbeitern in das Haus meiner Eltern „einmarschierte“, bauten sie in einer halben Stunde eine Büste – ihn darstellend – samt Stele im Garten auf. Sie steht bis heute dort. Amüsant, aber natürlich auch Personenkult. Manchmal kamen Schulklassen zu ihm nach Hochfrangart. Ein Schüler berichtete in seinem Schulaufsatz, dass der Mann mit den weißen Haaren „sehr allwissend“ gewesen sei. Meine Mutter erzählte, dass ihre Sommerurlaube in den 1960ern als „Sommermanöver“ bezeichnet wurden, so durchorganisiert waren sie. Organisiertheit war ihm wichtig, Planlosigkeit ein Gräuel. In dem Zusammenhang sprach er von seiner „uneingeschränkten Entscheidungsfreude“, das finde ich ein gutes Bonmot.

War Ihr Großvater vom Krieg traumatisiert?

Nicht in dem Sinn, dass er wie andere Veteranen verzweifelt oder gewalttätig gewesen wäre. Aber die Gesamtkatastrophe, die die Naziherrschaft angerichtet hat, muss sicher einen Schock ausgelöst haben, sonst kann man sich nicht erklären, dass dies nie ein Thema wurde bei ihm, weder privat noch öffentlich.

Hatten Sie Angst vor Ihrem Großvater, wenn Sie sich ihm widersetzten?

Nein, ich hatte keine Angst, aber ich widersprach ihm auch nicht. Er konnte schon streng sein, wenn etwa jemand sich verspätete oder etwas organisatorisch verhaute. Seine Schwäche war im Prinzip der Jähzorn, aber dieser kam selten raus.

Sehen Sie heute generell in sich selbst Spuren Ihres Großvaters?

Im Positiven habe ich von ihm den Sinn für Ästhetik und Kunst, den Humor, das Sprachliche. Im Negativen meinen Jähzorn, den musste ich langsam zu zügeln lernen. Mein Opa spielt für mich auf einer ganz persönlichen Ebene weiter eine sehr große Rolle und ich bin froh darum. Die SS-Thematik hat mich privat nicht von ihm entfernt, aber dass er letztendlich auf der falschen Seite der Geschichte, auf der Seite der Verlierer, gelandet ist, das empfand ich schon als Niederlage und persönliche Katastrophe für ihn. Das sah ich aber erst mit vierzig so. Ich glaube, dass er, durch die damalige Zeit geprägt, den Glauben an monolithische, autoritäre, absolute „Wahrheiten“ entwickelt hat. Dazu passt auch eine gewisse Übersteigerung seines Ich, was uns auch geprägt hat, denn wir hatten ihn ja wie einen Helden gesehen. Diese Verehrung und den Personenkult um ihn habe ich nach seinem Tod kritisch gesehen und abgelegt und versucht, die Spuren davon in mir zu entfernen. Als am Ende seines Lebens in der lokalen Presse so etwas wie eine Vergangenheitsaufarbeitung begann, wurde er zu einer negativen Figur gemacht, auch weil er als bekannte und brillante Person eine gute Angriffsfläche bot. Das fand ich bitter für ihn, denn er war über neunzig und schon krank. Aber auch mir tat das weh. War ich davor stolz auf ihn, habe ich dann fast Scham empfunden. Da brach einiges zusammen, was aber auch notwendig war, im Sinne einer realistischen Sichtweise. Das hat meine Gefühle zu ihm nicht verändert, ich hätte mir aber gewünscht, dass er die Kriegszeit einmal selbst öffentlich thematisiert hätte.

Wie würden Sie seine Erziehungsideale beschreiben? „Pflicht, Gehorsam, Subordination“?

Er war sicher streng und auch autoritär, aber meine Mutter und meine Tante hatten ein gutes Verhältnis zu ihm. Was unsere Erziehung betrifft, haben wir selbst einen autoritären Vater, Jahrgang 1940, und ich habe unter dessen autoritärer Erziehung doch gelitten. Dass Eltern oder besonders Väter als unfehlbare Helden galten, die stets wissen, was zu tun ist, die aber nicht sprechen, nicht erklären, was und warum sie wie entschieden haben, das empfand ich stets als falsch und unklug. Das gehört für mich zum Erbe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, unter dem wir postmoderne Kinder trotz der sorgenfreien Nachkriegsjahre gelitten haben. Die Demontage dieser „kleinen Diktatoren“, und das betrifft auch meinen Großvater und meinen Vater, war für mich ein notwendiger Schritt, angestoßen vom Tod meines Großvaters. Ich konnte dann in meiner eigenen Familie und mit meinen 2010 und 2012 geborenen Kindern das anders gestalten und lebe als Vater und Ehemann auf Augenhöhe mit meinen Kindern und meiner Frau, als Fehlbarer und sozusagen demokratisch Gleicher unter Gleichen. So konnte ich meine Vision von Familie realisieren und im Kleinen einen gewissen Fortschritt erreichen.

Wie beurteilen Sie heute die Handlungen Ihres Großvaters in der damaligen Zeit?

Ich finde seine Handlungen von 1939 bis 1945 oft weniger problematisch als den Umstand, wie er damit nach dem Krieg umgegangen ist. Wenn ich mich erinnere, wie ich selbst im Alter zwischen zwanzig und dreißig war, möchte ich nicht wissen, welche Entscheidungen ich Ende der 1930er getroffen hätte. Übergeordnet empfinde ich manchmal Scham über die Verstrickung meiner Familie in die Geschichte des Dritten Reichs, zum Beispiel wenn ich in Wien an Stolpersteinen vorbeigehe oder an Orten, wo früher Synagogen standen. Dass meine Vorfahren da beteiligt waren und das guthießen, ist eine Realität, die mir klarmacht, dass Versagen und Schuld nicht nur weit entfernt stattfinden, sondern auch ganz nahe bei einem selbst.

Was kann man aus der Geschichte Ihres Großvaters lernen? Was haben Sie daraus gelernt?

Dass man vor Extremismen auf der Hut sein muss und dass es keine absolute Wahrheit gibt. Dass es nicht sinnvoll ist, die eigene Meinung um jeden Preis durchsetzen zu wollen, und dass Kompromisse gefunden werden müssen. Dass jede Idealisierung einer Person oder einer Idee abzulehnen ist, denn darin liegt bereits der Kern des Extremen. Ich gewann über die Geschichte meines Großvaters den Eindruck, dass sich viele Menschen nach 1945 vor dem Grauen, das sie erlebt und teilweise selbst zu verantworten hatten, in ein Idyll des Vergessens und Verdrängens geflüchtet haben. Vermutlich aus Scham oder Verzweiflung. Gleichzeitig schlummert auch jetzt das Extreme weiter in jedem von uns. Es scheint mir oft, dass das Grauen des 20. Jahrhunderts bald vergessen sein wird und die Menschen wieder bereit sind für Torheiten und Gewalt.

* 1971 in Bozen, Ausbildung an WU/TU Wien, leitet ein Software-Unternehmen, verheiratet und lebt mit seiner Familie in Wien.