Giori. Gasperi Sover. Pomarollo. Crepaz. Folladori. Die Namen seiner Vorfahren waren durchweg italienisch. Der fehlende Vater und die früh verstorbene Mutter hinterließen eine offene Wunde. Südtirol war seine Heimat. Er wollte dazugehören und ging vielleicht deswegen mit voran. Er wurde politischer Aktivist, Führer der illegalen Deutschen Jugend im Unterland, SS-Freiwilliger und im letzten Kriegsjahr endlich Leutnant der Waffen-SS. Nach dem Krieg leistete er geflohenen Nationalsozialisten Fluchthilfe in Südtirol. Vom ehemaligen Gauleiter Hartmann Lauterbacher rekrutiert, arbeitete er zwei Jahre für den deutschen Auslandsgeheimdienst. Auch nach dem Krieg blieben Südtirol und die SS neben seiner Familie die zentralen Bezugspunkte in seinem Leben.
Otto Casagrande wurde am 28. November 1919 in Leifers bei Bozen als uneheliches Kind von Josefa Casagrande geboren.118 Er sollte seinem Vater nie begegnen, der als Offizier in der italienischen Armee diente und Valle hieß. Seine Großeltern Simon und Rachel Casagrande geb. Folladori lebten in Neumarkt, verweigerten allerdings in seinen ersten Kindheitsjahren jeden Kontakt zu ihm. 1926 wurde er in die italienische Grundschule in Neumarkt eingeschult. Im Anschluss daran wechselte Otto Casagrande auf ein von Nonnen geführtes Internat nach Meran und danach auf die kaufmännische Oberschule „Luigi Negrelli“, die er durchaus mit Erfolg besuchte. 1935 erkrankte seine Mutter an Tuberkulose. Sie brauchte Pflege und konnte das Schulgeld nicht länger bezahlen. Otto Casagrande verließ daraufhin die Schule, wurde in einem Kolonialwarenladen in Neumarkt angestellt und kaufmännisch ausgebildet. Am 6. Januar 1938 starb seine Mutter. Da sein Vater als unbekannt eingetragen war und beide Großeltern verstorben waren, galt er offiziell als Waisenkind.
Noch während seiner Ausbildung und der letzten Lebensjahre seiner Mutter wurde Otto Casagrande in der Jugendorganisation des Völkischen Kampfrings Südtirols aktiv und nahm regelmäßig an illegalen Treffen und Schulungen teil. 1938 war er bereits innerhalb der Jugendbewegung aufgestiegen, sodass er das Unterland bei einer geheimen Führertagung in Salurn vertrat. Auf der vom VKS im September 1939 zusammengestellten Liste mit Freiwilligenmeldungen für die deutsche Wehrmacht und Waffen-SS wurde er dann nach dem Kreisgruppenleiter Walter Pernter als Ortskommandant bzw. Ortsgruppenleiter von Neumarkt geführt.119 Kurz darauf, am 8. Juni 1939, nahm er an einer Demonstration während der Fronleichnamsprozession in Neumarkt teil. Zusammen mit seinem engen Freund Roland Bonatti und anderen Freiwilligen trat er dort in der von den italienischen Behörden verbotenen Südtiroler Tracht mit weißen Stutzen und Sarner auf. Die Carabinieri bestellten die jungen Männer um Otto Casagrande am nächsten Tag in die Kaserne ein und verhörten sie. Zu diesem Zeitpunkt war Otto Casagrande bereits fester Bestandteil der Jugendorganisation des VKS im Ort und gehörte zur örtlichen Gruppe von jungen Männern und Frauen, die ein Zeitzeuge die „Fanatischen“ nannte.
Otto Casagrande mit seiner Mutter Josefina, 1920
Nachdem Otto Casagrande im Oktober 1939 seinen Abwanderungsantrag gestellt hatte, meldete er sich zusammen mit einigen Freunden für den am 14. November 1939 abgehenden ersten Militärtransport der Südtiroler Freiwilligen nach Deutschland. Von den insgesamt neunundsechzig Männern hatten sich sechsundsechzig zur SS und Polizei und drei zur Wehrmacht gemeldet.120 Noch kurz vor der Abfahrt wurde ein Foto aufgenommen, das ihn zusammen mit anderen Freiwilligen aus Neumarkt zeigt, darunter der Ritterkreuzträger Franz Hillebrand und der Kreisgruppenleiter Walter Pernter. Während der Transport ungehindert abfahren konnte, wurde Otto Casagrande hingegen die Ausreise verweigert. Sein Name war mit der Begründung, dass er italienischer Abstammung sei, von der Liste gestrichen worden. Er ging daraufhin schwarz über die Grenze nach Österreich. Am 22. Dezember erhielt die AdO eine Postkarte, in der er seine erfolgreiche Ankunft in Innsbruck meldete. Diese war mit „Trenker“ unterzeichnet, der alle mit „Kampfheil“ grüßte. Otto Casagrande wurde aufgrund seiner großen Begeisterung für die Filme von Luis Trenker seit seiner Jugend und auch noch während des Krieges „Trenker“ genannt.
Klosterschule Meran; Otto Casagrande in der vorletzten Reihe in der Mitte, etwa 1930
Wie viele andere Freiwillige wurde er im Hotel Weißes Lamm in Innsbruck untergebracht, wo er am 18. Dezember 1939 die Einbürgerungsurkunde ausgehändigt bekam. Die erste Musterung durch das deutsche Wehrkommando erfolgte am 21. Dezember 1939. Ein Foto vom Februar 1940 zeigt ihn dann in Polizeiuniform. Ab 2. März 1940 wechselte er zur Waffen-SS, wo er beim SS-Regiment „Deutschland“ in München-Freimann ausgebildet wurde.121
Im Mai 1940 kam er zusammen mit weiteren Rekruten des SS-Ersatzregiments „Deutschland“ an die Westfront nach Frankreich. Dort wurde er als Kradmelder der 9. Kompanie im 3. Bataillon zugeteilt. Otto Casagrande unterschied sich wegen seiner geringen Größe und seines „italienischen“ Aussehens von den anderen SS-Männern. Ein SS-Veteran erinnerte sich an ihn mit den Worten: „Ja, das ist klar, dass er bei der Kompanie als Kradmelder war. Er war so ein kleiner schwarzer Stopp, aber schicker Kradfahrer.“122 Im Mai 1940 war das SS-Regiment „Deutschland“ nur in wenige Kämpfe verwickelt und hauptsächlich zu Aufräum- und Sicherungsaufgaben eingesetzt.123 Der nach der französischen Kapitulation am 25. Juni 1940 erfolgte Einsatz in Holland fand im Rahmen der Besatzungsaufgaben statt. Während des Winterquartiers der Division in Vesoul in der Bourgogne-Franche-Compté erhielt Otto Casagrande vom 12. bis zum 23. Februar 1941 seinen ersten Urlaub. Er verbrachte ihn wie auch fast alle noch folgenden Urlaube im Gasthaus Steiner in Neumarkt in Südtirol, dem alten Treffpunkt der dortigen Aktivisten.
Im April 1941 nahm die Division am Krieg in Jugoslawien teil. In den donauschwäbischen Siedlungsgebieten Jugoslawiens wurden Wehrmacht und Waffen-SS begeistert empfangen. Otto Casagrande schwärmte noch ein gutes Jahr danach in einem Brief von der guten Bewirtung bei den Volksdeutschen. Bereits in den ersten Tagen der Kämpfe fiel am 11. April 1941 Otto Casagrandes ehemaliger Kompanieführer und zu diesem Zeitpunkt Regimentsadjutant SS-Hauptsturmführer Rohde. Die auf Rohdes Tod folgenden Geisel- und Sühneerschießungen wurden ebenso vom Regiment ausgeführt wie die in den nächsten Tagen eingerichteten Standgerichte, bei denen wegen „Freischärlerei bzw. unbefugtem Waffenbesitz“ die sofort zu vollstreckende Todesstrafe verhängt wurde. Die Hinrichtungen wurden fast alle beim Stab des 2. und 3. Bataillons des Regiments „Deutschland“ durchgeführt. Bis 28. April blieb das Regiment „Deutschland“ im Großraum Groß-Betschkerek, wo unter seiner Kontrolle die ersten Übergriffe gegen Juden, wie Sühnezahlungen, Einführung der Judensterne und Ghettoisierung, stattfanden.124
Führertagung der geheimen Jugendbewegung Südtirols; Erster von links Willy Acherer, in der Mitte Luis Malojer, Zweiter von rechts Otto Casagrande, 1938
Beim Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 war die SS-Division „Reich“, zu dem das SS-Regiment „Deutschland“ gehörte, in der Heeresgruppe Mitte eingesetzt. Auffällig ist in diesem Zusammenhang ein Befehl des Generalkommandos des XXXXVI. Panzerkorps, wo in scharfem Ton die Division dazu aufgefordert wurde, die sofortigen Gefangenenerschießungen zu unterlassen, da so die Vernehmung der sowjetischen Politkommissare verunmöglicht wurde. Offensichtlich hatte sich besonders die SS-Division „Reich“ hier hervorgetan.125 Der erste schwere Kampfeinsatz des SS-Regiments „Deutschland“ erfolgte dann hinter Smolensk in Jelnja, wo es den deutschen Verbänden nur mit Mühe gelang, den sowjetischen Widerstand zu brechen.
Während der danach bei Smolensk durchgeführten Ruhephase zur Auffrischung fuhr Otto Casagrande mit seinem Beiwagenmotorrad während eines Spähtrupps am 16. September 1941 auf eine Mine und wurde dabei verwundet. Es folgten Aufenthalte in einer Reihe von Kriegslazaretten, zuletzt fern der Ostfront in Lothringen. Mit dem Tag seiner Verwundung wurde er zum SS-Sturmmann befördert. Nach dem langen Lazarettaufenthalt wurde er im Dezember 1941 „kriegsverwendungsfähig“ (Abkürzung: kv) zur Genesendenkompanie E-SS „Deutschland“ nach Prag überstellt. Bevor er dort wieder in die SS-Verbände eingegliedert wurde, konnte er einen mehrwöchigen Urlaub in Österreich und Südtirol verbringen. Nach der Wiedereingliederung in Prag traf er am 1. März 1942 zusammen mit anderen SS-Rekruten bei seinem durch die schweren Kämpfe bei Rshew stark dezimierten Regiment ein. Dabei wurden die Reste des SS-Regiments „Deutschland“ unter dem Namen ihres Regimentskommandeurs als „Kampfgruppe Harmel“ eingesetzt. Die Kämpfe im russischen Winter 1941/42 wurden zwangsläufig auf dem Rücken der russischen Zivilbevölkerung ausgetragen, die Häuser und Dörfer vernichtet.126
Am 24. Mai 1942 schrieb Otto Casagrande, inzwischen SS-Rottenführer, von der Ostfront an seinen Jugendfreund Franz Pichler aus Neumarkt, der zu diesem Zeitpunkt in der Nähe von Breslau zum Flugzeugführer ausgebildet wurde. Der Brief ist ein beispielhaftes Zeugnis eines zweiundzwanzigjährigen Soldaten, der sich voll und ganz der Landser-Mentalität verschrieben hat. Es geht um Frauen und Alkohol, um Waffen und Tod, um den Aufstieg in den militärischen Rängen und den Sieg über die Proleten und um Ansiedlungsfantasien auf der Krim oder im Ural, ganz nach den Südtirolplänen der deutschen Führung.
Im Sommer 1942 bildeten dann die überlebenden Mitglieder der Kampfgruppen zusammen mit jungen neuen Rekruten die neu aufgestellte SS-Division, die Ende des Jahres in 2. SS-Panzer-Grenadier-Division „Das Reich“ umbenannt wurde. Otto Casagrande kam als Kradmelder diesmal zur 6. Kompanie. Im Dezember 1942 eröffnete sich ihm die Chance, in die SS-Führerränge aufzusteigen, als er zusammen mit achtzehn anderen Südtirolern vom Leiter der AdO Peter Hofer dem Reichsführer-SS Heinrich Himmler für die SS-Führerlaufbahn empfohlen wurde.127 Kurz darauf wurde im Januar 1943 die SS-Division „Das Reich“ als Teil des neuen SS-Panzerkorps an die Ostfront in den Raum Charkow verlegt, um den Südabschnitt der Heeresgruppe B zu verstärken, wo nach der zu erwartenden baldigen Vernichtung der deutschen Verbände in Stalingrad ein sowjetischer Durchbruch drohte. Hier fungierte Otto Casagrande als Dolmetscher für die SS-Verbände im Kontakt mit sich zurückziehenden italienische Einheiten.
Anfang 1943 nahm er an verschiedenen Stoßtruppunternehmen östlich von Charkow teil, wobei er, inzwischen zum SS-Unterscharführer befördert, schwer verwundet und vorübergehend frontuntauglich wurde. Infolge der Empfehlung für die SS-Führerlaufbahn und seiner Verwundung wurde Otto Casagrande Ende November 1943 an der SS-Junkerschule in Bad Tölz in den
Otto Casagrande (links) und Fritz Kieser in der Ausbildung beim SS-Regiment „Deutschland“ in München, Anfang 1940
4. Lehrgang für versehrte SS-Führerbewerber z.V. aufgenommen. Seine Beförderung zum SS-Standartenoberjunker d. Reserve (Oberfähnrich) fand im Anschluss an den Lehrgang am 12. März 1944 statt. Für die Ernennung zum SS-Untersturmführer war eine anschließende Tätigkeit in einer SS-Dienststelle nötig, die Otto Casagrande ab April beim SS-Gebirgsjäger-Ausbildungs- und Ersatz-Bataillon 6 in Hallein in der Nähe von Salzburg erbrachte. Das Bataillon diente als Alarmeinheit für die Führerunterkunft und den Bereich des Obersalzberges und zur Ausbildung in der Panzernahbekämpfung und im Nahkampf. Darüber hinaus stellte es die Wachmannschaften für das Außenlager des Konzentrationslagers Dachau in Hallein. Zwischen Dachau und Hallein fanden regelmäßig Gefangenentransporte statt. So auch am 9. und 10. Juni 1944 während der Dienstzeit Otto Casagrandes.128
Die seit der Besetzung Italiens durch deutsche Verbände im September 1943 geplante Aufstellung von italienischen SS-Einheiten führte viele Südtiroler aufgrund ihrer italienischen Sprachkenntnisse als Ausbilder nach Italien. So auch Otto Casagrande, der ab August 1944, inzwischen zum SS-Untersturmführer befördert, als persönlicher Adjutant des SS-Sturmbannführers Alois Thaler bei den Ersatz- und Ausbildungseinheiten der italienischen Waffen-SS-Brigaden eingesetzt wurde. Otto Casagrande trug das Eiserne Kreuz 2. Klasse, das Infanterie-Sturmabzeichen, die Ostmedaille und das Verwundetenabzeichen in Schwarz. Die geplante Aufgabe der Einheiten, nämlich für die italienische Waffen-SS Personalersatz zu rekrutieren und auszubilden, wurde bald durch die Bekämpfung von Partisanen und die drakonische Verfolgung von Deserteuren verdrängt. In Rodengo Saiano wurde Otto Casagrande mit der Führung eines deutschen Sicherheitszuges betraut, der hauptsächlich aus Südtirolern bestand.129 Je näher das Ende des Krieges rückte, desto härter wurden die Maßnahmen der deutschen Stabsführung. Die Folterungen und Hinrichtungen häuften sich, wobei Thaler in Anwesenheit seiner Offiziere persönlich Verhöre und Folterungen durchführte.130 Ende April war durch das Vordringen amerikanischer Verbände die Situation für die SS-Einheiten in Rodengo Saiano unhaltbar geworden. Nachdem sie einen weiteren Aufstandsversuch blutig niedergeschlagen hatten, versuchten sie sich vergeblich geschlossen nach Norden abzusetzen. Da am Lago d’Iseo der Weg von Partisaneneinheiten versperrt wurde, lösten sie sich auf. Nur wenigen gelang die Flucht nach Norden, so wie Otto Casagrande, der sich nach Südtirol durchschlagen konnte. Wie viele Südtiroler SS-Männer versteckte er sich in den Bergen. In seiner Höhle in der Nähe Neumarkts wurde er von Freunden mit Lebensmitteln versorgt. Nach einer Schießerei mit amerikanischen Soldaten verließ er sein Versteck131 und floh nach Innsbruck, wo er sich bei den französischen Militärbehörden als Obergefreiter der Wehrmacht ausgab. Offensichtlich überprüften diese seine Blutgruppentätowierung nicht, sodass er seine SS-Mitgliedschaft verbergen konnte. Ohne Plan für seine nächste Zukunft kehrte Otto Casagrande nach seiner baldigen Entlassung nach Südtirol zurück. Am 23. Januar 1946 stellte er sich in Bozen der US-Armee. Nach einigen Tagen unter der Aufsicht des amerikanischen Nachrichtendienstes der Armee, des Counter Intelligence Corps (CIC), wurde er im Februar 1946 ins Kriegsgefangenenlager Rimini verlegt. Es scheint kein Zufall zu sein, dass sein „Arrest Report“ vom CIC-Agenten Joseph Luongo angefertigt wurde.132 Luongo war speziell mit der Anwerbung von führenden SS-Offizieren für das CIC beauftragt und beschäftigte sich auch mit dem ehemaligen Gauleiter von Süd-Hannover-Braunschweig, Hartmann Lauterbacher.133 Dieser sollte später mit Otto Casagrande zusammen für die Organisation Gehlen, den damaligen deutschen Geheimdienst, tätig werden. In Rimini wird er in der „Prisoner of War Form“ wieder als SS-Untersturmführer in der Funktion eines Adjutanten beim „Befehlshaber der Waffen-SS
Porträtfoto von Otto Casagrande, Cremona, Herbst 1944
Italien“ geführt. Seine Zugehörigkeit zu den von Thaler geführten Einheiten versuchte Otto Casagrande zu verbergen. In dem größten alliierten Lager in Italien wurde Otto Casagrande im innersten Kreis des Lagers bei den als besonders „widerspenstig“ betrachteten Mitgliedern der bewaffneten Verbände des Deutschen Reichs interniert. In diesem Bereich des Lagers wurden neben SS-Offizieren, wie z. B. Walter Rauff, der direkt an der Ermordung der Juden beteiligt war,134 auch hohe Funktionäre des NS-Staates, wie z. B. der stellvertretende Reichsjugendführer und spätere Gauleiter von Süd-Hannover-Braunschweig Hartmann Lauterbacher, gefangen gehalten. Daher war Rimini für viele der jungen Internierten eine Verlängerung der deutschen Ordnung, gar ein Ort der nationalistischen Schulung.135 Südtiroler konnten in Rimini Kontakt zur Heimat halten, so auch Otto Casagrande.136 Als er 1946 aus Rimini entlassen wurde, ging er wieder nach Südtirol, wo er sich bis Ende 1950 mit Gelegenheits- und Hilfsarbeiten über Wasser hielt. In dieser Zeit nahm er an mindestens einer prominenten Aktion der Südtiroler Fluchthilfe teil. Zusammen mit anderen alten Kameraden aus Südtirol verhalf er dem ehemaligen Gauleiter Hartmann Lauterbacher zur Flucht aus dem Gefangenenlager Le Fraschette in Italien.137 Aufgrund seines Aufstiegs in die SS-Führerränge wurde er 1948 von der Rückoption ausgeschlossen,138 sodass für ihn, ohne Besitz und ohne Familie, jede Hoffnung endete, in Südtirol wieder Fuß zu fassen. Wie so viele Nationalsozialisten und SS-Offiziere wollte er sich auf den Weg nach Lateinamerika machen, als er in Genua von einem Bekannten überzeugt wurde, sich für den amerikanischen Geheimdienst CIC anwerben zu lassen. Wer genau dieser Bekannte war, ist unbekannt. Aber aus den BND-Unterlagen wird deutlich, dass Otto Casagrande von Hartmann Lauterbacher, der die Nummer V-6300 hatte, als dessen erster Mitarbeiter mit der Nummer V-6301 für die Organisation Gehlen, die Vorläuferorganisation des BND, angeworben wurde. Mitte 1951 gründete er eine eigene Deckfirma in Wiesbaden: O. Casagrande Import-Export. Seine Tätigkeit beim Geheimdienst wurde ebenso wie bei Hartmann Lauterbacher mit „Aufklärung in Bezug auf die kommunistische Jugendorganisation ‚FDJ‘“, die verboten worden war, vermerkt.139 Im September 1951 lernte er nach einem Treffen mit Lauterbacher seine spätere Ehefrau, die Kriegswitwe Hildegard Neder, kennen, die er 1952 heiratete. Die beiden entstammten völlig verschiedenen Milieus. Hildegard Neder kam aus der katholischen Jugend. Ihr Vater war Anti-Nazi, glühender Christ und Mitglied der katholischen Arbeiterbewegung. Für die Heirat trat Otto Casagrande wieder in die katholische Kirche ein und nahm eine geregelte Arbeit bei der Oberfinanzdirektion in Frankfurt am Main auf. 1953 besuchte Hartmann Lauterbacher die neuen Eheleute in ihrer gemeinsamen Wohnung. Nach einem ernsten Gespräch140 wurde Otto Casagrande offiziell am 1. August 1953 beim Geheimdienst abgeschaltet. 1954 und 1956 wurden seine zwei Söhne Roland und Thomas geboren. Bis zu seinem Renteneintritt Ende 1980 blieb Otto Casagrande bei der Oberfinanzdirektion in Frankfurt. Die folgenden Jahre lebte er in Frankfurt und fuhr regelmäßig mindestens einmal im Jahr nach Südtirol in den Urlaub.
Erst 1989 sollte die SS-Vergangenheit noch einmal für kurze Zeit mit Macht in sein Leben treten. Eugen S., der zusammen mit Otto Casagrande bei der 6. bzw. 9. Kompanie des SS-Regiments Deutschland gedient hatte, gelang es, ihn über die Deutsche Dienststelle (WASt) ausfindig zu machen. Nach einigen Briefwechseln und gegenseitigen Besuchen wurde Otto Casagrande von Eugen S. zu einem Veteranentreffen der 9. SS-Kompanie in Ernst an der Mosel eingeladen. Dort starb er am 24. April 1990 in der Nacht vor dem offiziellen Beginn des Treffens am Tagungsort an einem Herzversagen. Die am nächsten Tag anreisenden ihm persönlich bekannten Mitglieder der Kompanie hatte er nicht mehr wiedergesehen.
Roland, Otto und Thomas Casagrande, 1957
Die Südtiroler Simon Wege, Otto Casagrande und Karl Steiner auf einem Treffen des Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen Deutschlands (VdH) in Köln, 1959
Thomas und Vater Otto Casagrande, 1959
Roland und Thomas Casagrande, Urlaub in Reutte in Tirol, 1963
Familie Casagrande im Urlaub in Reutte, 1963
Otto und Thomas Casagrande beim täglichen Schachspiel, 1969