Schatten

Meine Gefühle für meinen Vater sind ambivalent. Da ist einerseits eine große Zuneigung und Liebe, andererseits eine große Wut, ein mich manchmal überwältigender Zorn. Zu seinen Lebzeiten war eine gemeinsame Aufarbeitung seiner Vergangenheit nicht möglich, denn unsere Gespräche waren zu sehr von meinen Vorwürfen und seinen Rechtfertigungen geprägt und überschattet durch unsere schwierige Vater-Sohn-Beziehung. So musste ich denn nach seinem Tod meine Auseinandersetzung mit seiner Geschichte ohne ihn weiterführen. Wie gerne würde ich das dabei entstandene Bild mit ihm diskutieren. Ein Wunsch, den ich mit vielen anderen Kindern von Waffen-SS-Mitgliedern im Buch teile.

Ich sehe dabei das Beispiel meines Vaters als durchaus exemplarisch an. Seine Bereitschaft und Fähigkeit, hart und gefühllos anderen gegenüber zu sein, entstand im Laufe eines langen Prozesses. Dieser Prozess begann mit den Kränkungen und Zurücksetzungen seiner Kindheit, speiste sich aus verwehrten Aufstiegsmöglichkeiten der Jugend und berauschte sich an der zunehmenden eigenen Stärke. Er wurde unterstützt von dem Gefühl der Gemeinschaft und der Zugehörigkeit zum Kreis Gleichgesinnter. War der Krieg erst einmal Wirklichkeit, waren Gewalt und Tod real, war der Entmenschlichung und Verrohung nur noch schwer Einhalt zu gebieten. Der eigene Verlust, die eigenen Schmerzen stellten sich vor den anderen und versperrten die Sicht auf dessen Leid. Das eigene Wohl, die eigene Befriedigung erschienen ein angemessener Preis für die Gefahr, in die man sich begab. Die Aussicht auf Erfolg, die Chance, zu den Siegern zu gehören und einen persönlichen Aufstieg zu erfahren, tat ein Übriges. Befreit vom Blick auf das gemeinsam Menschliche galten moralische und ethische Regeln nur noch für das Eigene. Das Fremde und vermeintlich Böse wurden mit Genugtuung, gar mit Freude und Lust bekämpft.

In Bezug auf meinen Vater und die Männer in diesem Buch fand das alles in einer konkreten historischen Situation im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt. Es war deswegen eingebunden in die Möglichkeiten, Chancen und Risiken eines bestimmten Zeitabschnittes. Von den Taten der Generation meines Vaters ist keine zu leugnen. Man muss aus ihnen lernen. Nach dem Krieg fand mein Vater zurück in einen friedlichen, oft angepassten und abwechslungsarmen Alltag. Die Träume seiner Jugend von Abenteuer und Macht, der Stolz auf Pflichterfüllung und Gehorsam haben ihn aber offensichtlich bis zu seinem Tod nie wirklich losgelassen. Gleichzeitig war es ihm mithilfe meiner Mutter gelungen, sich mit seinem Alltag auszusöhnen und die kleinen Freuden des Familienlebens zu genießen. Er kehrte damit dorthin zurück, woher er gekommen war – in die Mitte der Gesellschaft. Nur manchmal zeigte sich in besonderen Situationen, dass er Schreckliches hinter sich gebracht hatte und zu Schrecklichem in der Lage war. Ich hätte meinem Vater damals nicht als ein Fremder oder gar als vermeintlicher oder tatsächlicher Gegner und Feind ausgeliefert sein wollen. Es sind die schmerzlichen Momente meiner Kindheit, die mich stützen, wenn es darum geht zuzulassen, dass mein Vater ein überzeugter SS-Mann gewesen war. Außerhalb dieser Momente war er ein von mir geliebter großzügiger, intelligenter und humorvoller Mann, der sich großer Beliebtheit in unserer weiteren Familie sowie bei Freunden und Bekannten erfreute. Diese Aufteilung erlebte ich in meiner Kindheit in einem für mich undurchschaubaren Wechsel. Als ich dann erwachsen wurde, gehörten seine Ausbrüche bereits zur Vergangenheit und ich konnte mit meinem Vater streiten, ohne ihn fürchten zu müssen. Jahre nach seinem Tod bekam ich dann von einem Freund in Neumarkt erzählt, dass mein Vater in seinem Heimatort immer nur voller Stolz und Bewunderung über meinen jugendlichen Drang nach Unabhängigkeit und Freiheit gesprochen hatte. Was also bleibt, ist ein komplexes, zum Teil auch widersprüchliches Bild meines Vaters in mir und die schmerzliche Erkenntnis, dass Unmenschlichkeit und Verbrechen nicht ausschließlich das Ergebnis eines perversen oder krankhaften Verhaltens Einzelner sind. Sie entfalten ihre ganze Schrecklichkeit erst, wenn sie von vielen von uns als Teil der Normalität angesehen werden.

Die Frauen und Männer in diesem Buch teilen meine Erfahrungen. Sie haben es so oder ähnlich selbst mit ihren Vätern oder Großvätern erlebt. Dieses Buch war für uns alle eine große emotionale Herausforderung: Das Spannungsverhältnis zwischen Liebe und Verantwortung zieht sich durch alle Gespräche. Die Liebe zu den Vätern und Großvätern, denn ohne sie gäbe es uns nicht. Aber auch die Verantwortung, hinzusehen und dem Schatten, den ihre Geschichte auf uns geworfen hat, auf den Grund zu gehen. Dabei ist die Quelle unserer Spurensuche nicht immer leicht zu identifizieren. Manchmal ist es der Wunsch, sich versichern zu können, dass letztendlich doch alles mit dem Vater gut war. Dann wieder ist es das Bedürfnis, die eigenen erinnerten Verletzungen verstehen zu lernen und mit der Geschichte des Vaters in Verbindung zu bringen.

Was auch immer uns auf die Spurensuche geführt hat: Bei uns allen gesellt sich zum Begriffspaar Liebe und Verantwortung die Angst vor Verrat, vor Treulosigkeit hinzu. Dabei nimmt diese Angst ganz unterschiedliche Erscheinungsformen an und führt zu ganz unterschiedlichen Konsequenzen. Da gibt es kritische Bemerkungen in Vorgesprächen, die im späteren Interview nicht wiederholt und auf Nachfragen zurückgewiesen werden. Da gibt es den Wunsch, einzelne Formulierungen aus den Gesprächen nicht ins Buch zu übernehmen, da sie im Nachhinein nicht mehr wahr oder zu hart erscheinen. Da gibt es das verzweifelte Gefühl, die Wahrheit zu sagen und sich doch gleichzeitig schuldig zu machen. Da ist der Wunsch nach einer soldatischen Normalität, die es zu betonen gilt. Da wird eine direkte Beteiligung an den Verbrechen ausgeschlossen, obwohl das nicht zu beweisen ist.

Der letzte Punkt wiegt besonders schwer und beeinflusst die Fähigkeit zu sehen. Fast scheint es, als wenn die Abwehr der Väter sich auch auf die Kinder übertragen hätte. Aus allen Interviews klingt die Erleichterung über mangelnde Beweise an einer Beteiligung an den Mordaktionen der SS. Selbst bei der größten Nähe zum Mordgeschehen bleiben in den vorliegenden Kurzbiografien die konkreten persönlichen Handlungen im Dunkeln. Viele unserer Väter behaupteten, vom Holocaust während des Krieges entweder nichts gewusst oder zumindest nicht aktiv daran teilgenommen zu haben. Und wir Kinder wollen ihnen das gerne glauben, solange die Beweise uns nicht zu etwas anderem zwingen. Ein Eingeständnis, dass der Vater an Verbrechen beteiligt war, ist mit Angst, Schmerzen und Leid verbunden. Das Ausmaß der Konsequenzen ist dabei nicht absehbar und wird in einigen Interviews im Ansatz sichtbar. Vielleicht ist das der entscheidende Unterschied zwischen uns Kindern der Männer der Waffen-SS und den Kindern der Opfer. Für uns ist der Glaube, dass der Vater in erster Linie „nur“ ein Soldat der Waffen-SS war, ein Rettungsanker, und wir neigen somit auch dazu, die Kurzbiografien in diesem Sinne zu verstehen. Die Kinder der Opfer müssen sie hingegen anders lesen. Sie können nicht vergessen, dass ohne den erbitterten Kampf der Waffen-SS an der Front der Mord an ihren Vorfahren durch die Waffen-SS in den Lagern und hinter der Front nicht möglich gewesen wäre. Für sie kann der Unterschied nicht bedeutsam sein, der uns so viel bedeutet. Wir können (meistens) hoffen, dass der Vater doch kein überzeugter Täter war, während die Kinder der Opfer am Leid ihrer Väter nicht zweifeln können. Für uns würde ein umfassendes emotionales Eingeständnis der Beteiligung der Väter an den Verbrechen unser Bild von ihnen beschädigen, wenn nicht zerstören, und damit eine Identifikation verunmöglichen. Will man sich nicht selbst zum Täter machen, kann man einen Täter nicht lieben, und diese Liebe zu unseren Vätern führt zu der Ambivalenz, die unsere Haltung ausmacht. Diese Erkenntnis steht schmerzhaft zwischen uns und den Kindern der Opfer und sie erschwert die Verständigung.

„Schatten“ ist der Titel dieses Buches. Wo es Schatten gibt, muss es auch Licht geben. Ein autonomes und angstfreies Leben ist das Licht, und es sind unsere Väter, die zwischen diesem Licht und uns stehen und den Schatten werfen. Allein ihre Zugehörigkeit zur Waffen-SS, der Organisation, die den Massenmord an den Juden Europas verübte, begleitete die im Buch porträtierten SS-Männer ein Leben lang auf unterschiedliche Weise, etwa im Kontakt mit ehemaligen Kameraden oder mit der Mitgliedschaft in Veteranenverbänden oder dem Stolz, zu einer „Elite“ gehört zu haben. Manche behielten ihren Hass auf die Juden auch nach dem Krieg bei, andere formulierten eine vorsichtige Distanzierung oder schwiegen dazu gänzlich. Frei davon konnte niemand sein. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die in der Einleitung erwähnte Aussage von Tilmann Moser verwiesen, dass Vorwürfe ein offenes Erinnern, eine echte Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld erschweren. Mitglieder der Waffen-SS sahen sich nach dem Krieg sowohl juristisch als auch moralisch heftigen Vorwürfen ausgesetzt, und ihre Aussagen und ihr Schweigen über ihre Vergangenheit müssen in Bezug auf die Wahrheit deswegen grundsätzlich mit Vorsicht gesehen werden. Unser Bewusstsein davon drückt sich in den Gesprächen aus, oft im ängstlichen Nachdenken, ob der Vater oder Großvater direkt an den Verbrechen beteiligt war, manchmal aber auch in der Weigerung, diesem Gedanken überhaupt eine Bedeutung beizumessen.

Wie auch immer die einzelnen Väter mit den Vorwürfen umgingen, so lasteten sie doch schwer auf jedem, und zusammen mit den traumatischen Erfahrungen eines totalen Krieges und der Last der Niederlage führten sie zu ihren schwierigen Charakterzügen in der Nachkriegszeit. Wie sie ohne diese Erfahrungen geworden wären, lässt sich nicht erahnen. Das Ergebnis setzt sich in uns fort und hat unser Leben geprägt. Die Bilder von uns und unseren Vätern und Großvätern reichen von Stolz und Idealisierung bis hin zu Angst und Zorn. Manche von uns erinnern sich hauptsächlich an einen liebevollen Vater, während andere die Schreckensbilder ihrer Kindheit nicht vergessen können. Manche blicken ohne Schmerz zurück, andere spüren noch heute das erfahrene Leid. Zwischen diesen Extremen liegt die ganze Bandbreite möglicher Erfahrungen, wie sie vergleichbar auch andere Kinder von Waffen-SS-Mitgliedern gemacht haben müssen. Insofern kann man die vorgestellten Fälle als exemplarisch verstehen und vielleicht ermöglichen sie es anderen, sich in den Geschichten und Gesprächen wiederzuerkennen. Für die Töchter und Söhne in diesem Buch ist die innere Auseinandersetzung mit den Vätern ein nicht enden wollender Prozess, ein fester Bestandteil ihres Lebens, sodass in uns William Faulkners Satz wirklich geworden ist: Die Vergangenheit unserer Väter ist nicht tot, sie ist in uns noch nicht einmal vergangen. Oft liegen Risiken und Chancen dicht beieinander. Doch die Schatten der Väter können unser Leben auch in einem positiven Sinn formen. Wie es in einem Gespräch formuliert wird, sind wir Zeitzeugen. Wir wissen, wie es sich anfühlt, mit Menschen aufzuwachsen, die am Siegeszug einer nationalistischen Rechten, am daraus entstehenden Krieg, gar an den Massenmorden teilnahmen und für die es die einschneidendste Erfahrung ihres Lebens war. Wir haben unter den Konsequenzen dieser Erfahrungen unterschiedlich gelitten, aber die Angst vor dem Wiederaufleben der Schrecken findet sich in den meisten Gesprächen. Wir leben in einer Zeit, in der sie selbst im Zentrum Europas wieder wirkmächtig werden. Die Leichtigkeit, mit der von vielen Seiten der Krieg als Mittel der Politik betrachtet wird, ist ebenso verstörend wie die Normalität des Alltags in Anbetracht des weltweiten Sterbens durch Genozide, Ausbeutung und Hunger. Aus den Kurzbiografien und Gesprächen lässt sich herauslesen, dass Krieg nicht mit der ersten Kriegshandlung beginnt und mit der letzten endet. Christa Wolf schreibt in ihrem Buch „Kassandra“ über den Vorkrieg: „Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde, unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.“143

Als junger Mann hatte ich irgendwann einmal ein Büchlein „Krieg dem Kriege“ über den Ersten Weltkrieg gefunden. In vier verschiedenen Sprachen kommentierte der Autor Ernst Friedrich seine Bilder gegen den Krieg. Nie wieder fand ich so erschütternde Fotografien von zerschossenen jungen Soldaten. Sie zeigten junge Männer ohne Arme, Augen, Nase, Mund, ohne Gesichtshälfte, ohne Schädeldecke, ohne Kiefer, ohne Geschlecht. Um zu verstehen, was zwischen der ersten und letzten Kriegshandlung geschieht, muss man sich diese Bilder anschauen. Dass der Krieg auch danach nicht beendet ist, haben wir schmerzlich an unseren Vätern und uns selbst erlebt.

Von Beginn an verwoben mit dem „totalen Krieg“, der lange vor dem 18. Februar 1943 und der Sportpalastrede des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels begonnen hatte, war der Holocaust. Beide sind voneinander nicht zu trennen. Die Ermordung der Juden Europas gilt als Zivilisationsbruch, als das Schrecklichste, das nie hätte geschehen dürfen und doch geschehen ist. So wie der Zweite Weltkrieg bisher alle folgenden Kriege in den Schatten stellt und an Unmenschlichkeit überstrahlt, überragt bisher auch der Holocaust alle folgenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aber wie auch nach 1945 die Reihe schrecklicher, unnötiger und mörderischer Kriege bis in die Gegenwart nicht abreißen will, so folgt auch ein Genozid, ein Verbrechen an der Zivilbevölkerung, an Frauen und Kindern auf das andere. So wie Krieg nicht erst mit dem ersten Schuss beginnt, so beginnt auch ein Genozid nicht ohne Vorspiel. Es ist die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer, es sind die Ausgrenzung und der Hass auf das Fremde, es sind die Gewöhnung an bittere, gar tödliche Armut und die gleichzeitige Akzeptanz verschwenderischen und zerstörerischen Reichtums, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorbereiten wie schleichendes Gift. Der Holocaust wirkt noch immer leidvoll in den Kindern der Opfer. In uns Kindern der Täter ist er bis heute sichtbar: in unserem Sprechen, in unserem Hinsehen, aber auch in unserem Schweigen und unserem Wegsehen, mit dem wir ein Mitleiden verdrängen und unterdrücken. Auch das haben wir an uns selbst erlebt.

Dass beides, Krieg und Genozid, in unserer Gegenwart zwar als beklagenswert, aber scheinbar unvermeidbar, fast als menschliches Schicksal angesehen wird, macht sprachlos. An einigen Stellen der Interviews klingt Misstrauen gegenüber den aktuellen Entwicklungen an. Sorgen um eine endlose Fortsetzung, gar eine Wiederholung von Geschichte haben viele Kinder der Waffen-SS-Männer in diesem Buch. Das ist ein erster Schritt und etwas Positives, den der Schatten unserer Väter noch in unserem Leben hinterlassen hat.