NEIN .
– NEIN. –
Nein?
Yukiko blickte zwischen Buruu und Kaiah hin und her. Blitze züngelten über die Wolken. Es war eiskalt in den Gärten des Daimyō, der Wind peitschte die Zedern. Donner rollte über die Arashitora hinweg, und unwillkürlich schnurrten sie beide. Aber ihre Augen waren hart wie Feuersteine, ihre Greifklauen bohrten sich in die Erde, und sie standen breitbeinig da, als erwarteten sie den Ansturm eines Gegners.
Was meinst du mit »Nein«, Buruu?
DAS GEGENTEIL VONJA?
Götter, ich hätte dir nie beibringen dürfen, wie man sarkastisch ist …
– ES IST EINE DUMME IDEE. –
Yukiko wandte sich Kaiah zu. Aber warum? Wir brauchen eine Armee, um die Gaijin und die Gilde zurückzuschlagen. Und im ewigen Sturm wartet eine Armee Arashitora!
– KEINE ARMEE. EIN PAAR VERSPRENGTE. –
Ein paar Donnertiger sind eintausend Himmelsschiffe wert! Zehntausend Männer .
NEIN, YUKIKO .
Das sagtest du bereits, Buruu. Aber du hast es mir immer noch nicht erklärt .
REICHT ES DIR NICHT, DASS ICH ABLEHNE? TRAUST DU MEINEM URTEIL NICHT? MIR?
– DANN WÄRE SIE ENDLICH KLUG GEWORDEN, BRUDERMÖRDER. –
OHO, JETZT SPRICHST DU MIT MIR?
– ICH SPRECHE NICHT MIT DIR. ICH FAUCHE DICH AN. –
Kaiah, das ist nicht besonders hilfreich …
– ICH HAB AUCH NICHT VOR, DIR ZU HELFEN … DAS IST WAHNSINN. DER BRUDERMÖRDER KANN GAR NICHT IN DEN EWIGEN STURM ZURÜCKKEHREN. ER IST VERBANNT WORDEN. MAN WÜRDE IHN TÖTEN. –
Und du? Weshalb kannst du nicht zurück?
– ICH KÖNNTE. ABER ICH WERDE NICHT. –
Warum nicht?
– TORR. –
Wer ist das?
DER KHAN .
– EIN FALSCHER KHAN. NIE IM LEBEN UNTERWERFE ICH MICH IHM! NIEMALS! –
Ich verstehe das alles nicht! Bei Izanagis Klöten, Buruu, würdest du bitte mit mir reden!
– ER KANN DIR NICHTS ERZÄHLEN. ALS TORR KAM, WAR ER LÄNGST VERBANNT. GESCHMÄHT. VERFLUCHT. –
Schon gut, schon gut! Götter, es ist mir gleich , wer es mir erklärt … Solange es nur jemand tut!
Kaiah knurrte tief und warf den Kopf zurück. – DER KHAN HERRSCHT ÜBER DEN EWIGEN STURM. ER IST DAS STÄRKSTE MÄNNCHEN. DER BESTE KRIEGER. TORR HAT DEN TITEL BEANSPRUCHT, OBWOHL ER KEIN RECHT DAZU HATTE. –
Und wieso hatte er kein Recht?
– ER IST NICHT IM EWIGEN STURM GEBOREN WORDEN. TORR UND SEIN RUDEL KAMEN AUS DEM OSTEN. SCHWARZE FEDERN, SCHWARZE HERZEN. SIE HABEN DEN EWIGEN STURM EROBERT. DIE MÄNNCHEN UMGEBRACHT, DIE SICH IHNEN IN DEN WEG GESTELLT HABEN. IHRE JUNGEN AUCH. SEINETWEGEN. – Knurrend baute Kaiah sich vor Buruu auf, das Nackengefieder gesträubt. Mit einem Knall spannte sie die Flügel auf. – DEINETWEGEN! –
ES TUT MIR LEID .
– MEIN MÄNNCHEN UND SEIN BRUDER WAREN ALLEIN, DIE ANDEREN ZU ALT ODER ZU VERÄNGSTIGT. UND WO WAR UNSER KHAN, ALS DER USURPATOR KAM? –
DU KENNST DAS GESETZ. ES GILT AUCH FÜR DEN KHAN .
– DAS GESETZ WAR BEREITS GEBROCHEN WORDEN! UND DER KHAN MACHT DIE GESETZE! –
MANCHE GESETZE SIND IN STEIN GEMEIßELT. WIR LESEN SIE AUS DEM BLUT UND DEN KNOCHEN UNSERER AHNEN HERAUS. ARASHITORA TÖTEN KEINE ARASHITORA .
– EIN JAMMER, DASS TORR DAS NICHT SO GESEHEN HAT. –
ICH KONNTE NICHT WISSEN, WAS PASSIEREN WÜRDE, KAIAH .
Das Weibchen kreischte und schnappte ein paar Zentimeter vor Buruus Kopf in die Luft. Yukiko schob sich zwischen die beiden, aber Buruu wich nur zurück, die Flügel angelegt. Weder in seiner Haltung noch in seinen Gedanken spiegelte sich Aggression – nur ein schwerer Kummer, der Yukiko das Herz zu brechen drohte.
Schon früher hatte sie ihn manchmal wahrgenommen, wie einen schattenhaften Umriss unter der Meeresoberfläche. Doch sie hatte nie versucht, auf eigene Faust mehr herauszufinden. Buruu war ihr Freund. Wenn er gewollt hätte, dass sie Bescheid wusste, hätte er ihr sein Geheimnis anvertraut. Aber jetzt war der Schatten nah. Sie konnte beinahe seine Gestalt erkennen.
Donner krachte am Himmel, und die ersten Tropfen schwarzen Regens fielen. Kaiahs Schwanz peitschte von einer Seite auf die andere. Nicht nur das Nackengefieder, ihr ganzes Rückenfell stand aufrecht.
– WAS HAST DU DENN GEDACHT, WÜRDE PASSIEREN? –
ICH HABE GAR NICHT GEDACHT. DARIN LIEGT MEIN VERSAGEN .
– MÖGE RAIJIN DICH VERFLUCHEN, BRUDERMÖRDER … DU HAST NICHT NUR DARIN VERSAGT. –
GLAUBST DU, DAS WÜSSTE ICH NICHT?
– DU SOLLST AUCH DIES NOCH WISSEN: EHER WÜRDE ICH ZUSEHEN, WIE DIE WELT UNTERGEHT, ALS DIR ZU VERGEBEN. DU BIST EIN ELENDER FEIGLING. –
DU KANNST MICH VIELES SCHIMPFEN, ABER FEIGE BIN ICH NICHT .
– DANN KÄMPF MIT MIR! –
Nein, Kaiah! Lass das .
Die Donnertigerin schlich einen weiteren Schritt vorwärts. Kleine Blitze züngelten über ihre Schwingen. Das Gewitter hing drückend in der Luft. Yukiko schmeckte Ozon im Mund und spürte die Herzen der Arashitora rasen.
– DU HAST SIE AUF DEM GEWISSEN! HÄTTEST DU NUR DEN MUT GEHABT, ZU ERGREIFEN, WAS DEIN WAR … NIEMAND WÄRE MEHR GESTORBEN. –
ARASHITORA TÖTEN KEINE ANDEREN ARASHITORA .
DAS GESETZ EINES KHANS .
– HIER GIBT ES KEINEN KHAN, BRUDERMÖRDER. –
ICH KÄMPFE NICHT MIT DIR .
– DANN STIRB! –
Kaiah stürzte auf ihn zu und riss im Rennen mit den Klauen große feuchte Brocken aus dem Erdboden. Ihre Augen waren zu Schlitzen verengt und glommen wie Kohlen. Hastig wich Yukiko zurück, zu Tode erschrocken von dem mörderischen Zorn, der im Geist des Weibchens brannte. Die beiden prallten zusammen, stürzten gemeinsam gegen eine verdrehte Zeder und entwurzelten sie beinahe. Buruus Brüllen erschütterte die Grundfesten des Palastes. Seine mechanischen Schwingen ächzten gequält. Eine gestutzte schneeweiße Feder sank trudelnd inmitten vertrockneter Blätter zu Boden.
Kaiah hieb mit den Klauen nach Buruu, und in der Dunkelheit spritzte Blut. Buruu brüllte wieder, außer sich vor Zorn, bäumte sich auf und packte mit seinen Greiffüßen die des kleineren Weibchens. Sie taumelte, riss ihn mit sich, und die beiden Bestien rollten aneinandergeklammert brüllend und kreischend über den Boden. Dabei zertrümmerten sie einen Ahnenschrein.
Yukiko kam wieder zu Sinnen. Sie ballte die Fäuste. »Hört auf!«
Kaiah riss sich los und sprang Buruu erneut an, den Schnabel weit aufgesperrt: Er glänzte so scharf wie die Schneide eines Katanas.
»HÖRT AUF!«
Ihr Schrei wurde von den uralten Granitmauern des Gartens zurückgeworfen, hallte in den Köpfen der Arashitora wider und zwang beide auf die Hinterbeine. Blitze jagten einander über den Himmel und erleuchteten den zerstörten Garten des Daimyō. Die beiden Bestien waren im Regen klatschnass geworden. Beide bluteten. Sie starrten einander an; ihre Flanken hoben und senkten sich so heftig wie der Blasebalg eines Schmiedes.
Bei allen Göttern, wir sind auf derselben Seite!
OFFENSICHTLICH NICHT .
– FEIGLING! –
Hört jetzt beide sofort auf damit!
»Was ist denn hier los?« Hana stand zwischen erschrockenen Dienstboten auf der Veranda, das Nachthemd zerknittert, die Haare wirr. Sie sah aus, als hätte sie geweint.
»Es ist nichts weiter, Hana.«
»Nichts weiter?« Das Mädchen kam in den Garten und legte schützend einen Arm um Kaiahs Hals. »So sieht’s aber nicht aus.«
– ER IST EIN NICHTS! FÜR ALLE ZEITEN EIN NICHTS! HÖRST DU MICH, BRUDERMÖRDER? –
Buruu erwiderte nichts. Er hielt den Blick gesenkt. Kaiah schnaubte angewidert und wölbte die Flügel.
– WENN DU ES NICHT HÖREN WILLST, ZEIGE ICH ES DIR EBEN! –
Yukiko drückte eine Hand gegen ihre Stirn, als Bilder Kaiahs Geist überfluteten, verblasste Erinnerungen, blutrot gefärbt. Sie sah zwei Arashitora, einer rabenschwarz, der andere weiß, die am stürmischen Himmel zusammenprallten. Dann lag der weiße Arashitora zerschmettert am Fuß eines gewaltigen schwarzen Berges, der umgeben war von einem aufgewühlten, dampfenden Meer. Ein schwarzer Schatten stieß auf einen jüngeren Greifen herab, der kaum ausgewachsen war. Das Jungtier stürzte in die brodelnde See und versank spurlos in den Wogen. Und schließlich ragte der nachtschwarze Donnertiger albtraumhaft über einem Nest aus Ästen und Ranken auf, den Schnabel weit aufgerissen. Er griff mit dem Klauenfuß nach …
»Oh, ihr Götter, bitte nicht!«, flüsterte Yukiko.
In dem Nest kauerten zwei Arashitora-Junge. Ihre Federn waren noch ganz weich und aufgeplustert wie Daunen. Mit weit aufgerissenen Augen blickten sie zu dem Ungeheuer auf. Sie waren zu klein, um zu begreifen, was geschah. Zu klein, um zu fliehen. Sie konnten sich nur tiefer unter die Decke aus alten Federn graben und dabei furchtsam piepsen. In ihrer Angst zerkratzten sie einander mit ihren winzigen scharfen Krallen.
Der schwarze Greif packte sie, und mit seinen tödlich scharfen Klauen riss er ihnen die Flügelchen aus.
Warf die bebenden Jungen aus dem Nest.
Und sie fielen, fielen, fielen, und der Himmel war rot wie Blut.
»Oh nein«, hauchte Hana, warf die Arme um Kaiahs Hals und drückte ihre Wange gegen die der Donnertigerin. »Oh, ihr Götter …«
TORR …
– ES IST DEINE SCHULD, BRUDERMÖRDER. DAS HAT DEINE FEIGHEIT ANGERICHTET. DEIN KOSTBARES GESETZ. ES GIBT KEINE GERECHTIGKEIT. KEINEN FRIEDEN. NUR DAS HAST DU ERREICHT. –
Donner krachte, der Regen fiel jetzt dichter. Buruu ließ den Kopf hängen. Er bot ein Bild des Jammers. Yukiko streckte sich nach ihm und ließ ihn ihre Wärme spüren. Urteilsfrei. Ohne Zorn. Nur mit ihrer Liebe umfing sie ihn – es war dieselbe bedingungslose Liebe, die er für sie empfand. Nichts anderes spielte eine Rolle als das. Sie war sein, und er gehörte ihr, und so würde es bleiben, bis die Welt zu Ende ging. Nichts konnte daran etwas ändern.
Ich liebe dich, Buruu .
Yukiko trat näher. Der schwarze Regen prasselte nun unbarmherzig nieder. Sie wusste, dass sie Schutz suchen sollte, um sich nicht zu verbrennen. Aber Buruu saß einfach da, gebeugt und elend.
Hörst du mich? Ich liebe dich .
ES TUT MIR SO LEID .
Es ist schon gut .
NEIN .
Er erhob sich und breitete seine Flügel aus. Das schillernde Metall knackte wie alte Knochen, das Segeltuch raschelte. Er schüttelte sich wie ein Hund. Schwarzes Wasser spritzte aus seinem Fell, seinem Gefieder. Er wandte den Blick zum Nachthimmel.
NEIN, ES IST NICHT GUT!
Und damit tat er einen gewaltigen Satz, schlug heftig mit seinen Räderwerk-Schwingen und stieg auf. Rasch verwandelte er sich in einen verschwommenen weißen Fleck in der Dunkelheit und verschwand über die Wälle der Feste. Yukiko rief ihm nach, doch seine Wärme verflüchtigte sich bereits – die Entfernung zwischen ihnen wuchs. Sein Kummer blieb in ihrem Geist zurück wie ein bitterer Nachgeschmack auf der Zunge, und sie drehte sich zu Kaiah um und funkelte sie an. Die Donnertigerin erwiderte ihren Blick, dann wandte sie sich ab und folgte Hana unter das Dach der Veranda, wo noch immer mit weit aufgerissenen Augen die Dienstboten standen. Yukiko hob die Feder mit der abgetrennten Spitze auf und beeilte sich, ebenfalls aus dem Regen herauszukommen. Ihre Haut war schwarz befleckt und begann bereits zu brennen.
Kurz stand sie Hana und Kaiah gegenüber. Hana hatte wieder den Arm um Kaiahs Nacken geschlungen, und gemeinsam starrten die beiden Yukiko herausfordernd an. Wortlos ließ Yukiko sie stehen und marschierte zurück auf ihr Zimmer, um sich mit klarem Wasser den schwarzen Regen, die Trauer und die Erinnerung an kleine, flügellose Gestalten abzuwaschen, die kläglich schreiend in die Tiefe stürzten.
Ihre Hand stahl sich auf ihren Bauch. Denn dort, stellte sie fest, hatte das Grauen sich eingenistet. Der Regen hämmerte auf die ausgeblichenen Dachpfannen – wie ein Herzschlag. Wie ihr eigener Pulsschlag.
Stundenlang saß sie im Dunkeln, drehte die Feder in ihren Fingern und wartete darauf, dass Buruu zurückkam.
Aber würde er zurückkommen?