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WEGKREUZUNG

Der Zug ratterte auf die Stadt Yama zu. Isao war an der Reihe, den Lokführer im Auge zu behalten, die anderen hatten sich über zwei Waggons verteilt. Yoshi saß im vorderen, atmete Chi-Qualm ein und starrte aus dem Fenster, vor dem endloses Ödland vorbeizog. Zu ihrer Linken breitete sich der Schandfleck aus: Kilometer um Kilometer veraschter, aufgesprungener Erde, über der erstickender Dunst hing.

»Ein furchtbarer Anblick.«

Er wandte sich der Erschafferin zu, die ihn ihrerseits konzentriert betrachtete. Sie hatte ihm erzählt, dass sie Kei hieß und der Rebellion seit ein paar Jahren angehörte. Den Riesen Jun und den Jungen Gorō hatte sie rekrutiert; beide wichen ihr kaum von der Seite. Kei hatte dünne Lippen, ein schmales Gesicht und intelligente, berechnende Augen.

Yoshi zuckte mit den Schultern und schaute wieder aus dem Fenster. »Wenn man richtig hinguckt, kann man in allem Schönheit finden.«

»Ach ja? Und wo ist die Schönheit im Ödland der Gilde?«

Yoshi blickte auf die Innenseite seines Handgelenks hinab. Blassblau zeichneten sich die Adern unter seiner Haut ab. Er ballte die Faust und sah, wie die Sehnen sich spannten und die Muskeln arbeiteten. »Vielleicht müssen wir sie erst zum Vorschein bringen.«

»Du sprichst gern in Rätseln …«

»Warum verbrennt die Gilde Leute mit der Gabe des Gespürs?« Yoshi schaute auf und verengte die Augen. »Warum stecken sie uns an?«

»Die Reinheitsbringer predigen, ihr seiet mit dem Makel der Geisterwelt behaftet und der Zustand der Reinheit könne nur erreicht werden, wenn alles Yōkai-Blut von den Inseln getilgt sei.«

»Aber warum ? Was ist dieser ›Zustand der Reinheit‹, von dem sie die ganze Zeit faseln? Und was passiert, wenn ihr ihn erreicht habt? Regnet’s dann Orgasmen oder was?«

»Von der Doktrin der Reinheitsbringer halte ich nicht viel, Yoshi-san«, sagte Kei. »Selbst als Kind habe ich sie schon infrage gestellt. Aber du musst verstehen: Man glaubt den Menschen, denen man vertraut. Wenn sie alle sagen: Die Gaijin sind unsere Feinde, dann glaubt man ihnen. Und wenn sie sagen, es gäbe Kinder, die des Glaubens wegen auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden müssten, so glaubt man auch das. Besonders dann, wenn niemand sonst je dagegen aufbegehrt.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«

»Wüsste ich die Antwort, dann …«

Im Südwesten über dem Schandfleck blitzte es gleißend auf. Das Licht war so grell, dass es mühelos durch das trübe Strandglas und Yoshis Schutzbrille drang. Der Himmel wurde sommerhell. Yoshi keuchte und kniff die Augen zu, aber der pulsierende Schein brannte sich sogar durch seine Lider. Kei fluchte, und Isao im Führerhaus brüllte etwas. Langsam verblasste das Licht, flammte noch einmal auf und erlosch endgültig. Yoshi sprang auf und starrte aus dem Fenster, die Hände gegen das Glas gedrückt. Über dem Tōnan-Gebirge hing eine gewaltige, pilzförmige Rauchwolke.

»Bei Izanagis Klöten …«, wisperte er.

Der Zug erzitterte, und es hörte sich an, als seien die Schienen selbst in Bewegung geraten – als bebte die ganze Insel. Schon schwankte der Waggon bedrohlich. Der Lokführer warf den Bremshebel um, und der Zug hüpfte und schlingerte, während vor den Fenstern Funken vorbeiflogen. Metall kreischte gequält. Die Lokomotive allein mochte hundert Tonnen wiegen und war bis gerade eben noch mit voller Kraft über die Schienen gedonnert. Nun war es, dachte Yoshi benommen, als hätte jemand sie an den Schamhaaren gepackt.

Auf jeden Fall klang es so.

Er konnte sich nicht halten, taumelte nach vorn und prallte gegen die Tür des Führerhauses. Jun, Kei und Gorō wurden neben ihm gegen die Wand geschleudert. Im hinteren Waggon schrie Takeshi, dann folgte ein dumpfer Aufprall. Der Zug rüttelte und schüttelte sich, die Bremsen quietschten trommelfellzerfetzend. Wie Lumpenpuppen flogen sie durch den Waggon. Yoshi schlug sich hart den Kopf an und stieß mit jemandem zusammen, mit wem, wusste er nicht. Es interessierte ihn auch nicht, denn jetzt neigte sich der Waggon, kippte , die Achsen brachen mit einem furchtbaren Geräusch, die Räder sprangen aus den Schienen – Yoshi klammerte sich an eine Haltestange – der Zug fiel auf die Seite, blieb aber nicht liegen, sondern überschlug sich, wieder und wieder. Der Lärm war unbeschreiblich, Eisen und Stahl zerrissen wie Reispapier, Glas splitterte, alles schrie durcheinander, Funken stoben, Rauch wallte, Nieten flogen wie Geschosse durch die Luft. Yoshi schrie wie am Spieß, nur sich festzuhalten zählte noch. Die Hände verkrampft, Blut im Mund, wurde er herumgeworfen, orientierungslos, wo war oben, wo unten?

Dann, endlich – endlich – kam die Welt zum Stillstand. Der Zug war kein Zug mehr, sondern nur noch ein rauchendes, ächzendes Wrack, das halb auf der Seite lag.

Der Motor erstarb. Der Druckkessel zischte, und die Räder, die sich noch drehten, quietschten kläglich.

»Bei R-Raijins verfickten Trommeln …«, stöhnte Yoshi.

Mühsam hob er den Kopf. Eins seiner Augen war blutverklebt. Die Wunde an seinem Ohr war wieder aufgerissen. Und der Boden bebte noch immer … Es kam ihm so vor, als würde das dumpfe Grollen immer lauter werden. Betäubt schaute er sich um: Kei war tot, ihr Schädel eingeschlagen. Der Junge namens Gorō hing aus dem Fenster, Kopf und Schultern zerschmettert unter dem halb umgekippten Waggon. Durch den oberen Teil des Fensters sah Yoshi eine Wand aus Staub, die kilometerhoch in den Himmel wuchs – wie ein Tsunami, der über ein Aschemeer rollte.

Direkt auf sie zu.

Er arbeitete sich auf die Beine, ohne einen Blick von der gewaltigen Staubwolke zu wenden. Blut tropfte von seiner aufgeschnittenen Stirn auf die Glasscherben zu seinen Füßen. Die Tür zum Führerhaus flog auf, und Isao kam in den Waggon gestolpert. Seine Nase war gebrochen und blutete, und über seinen Unterarm zog sich eine furchtbare klaffende Wunde.

»Götter, seid ihr alle …«

»Wir müssen hier weg«, wisperte Yoshi.

»Wo sind Takeshi und Atsushi?«

Yoshi zeigte auf die Staubwolke. »Isao, wir müssen verschwinden

Der andere Junge erbleichte. Eilig kletterten sie aus dem gegenüberliegenden Fenster und ließen sich auf den Boden fallen. Yoshi war schwindelig. Trotzdem stieg er die Wartungsleiter an der Lokomotive hoch und schaute über das Dach zurück nach Westen.

Der Boden bewegte sich, zitterte so heftig, dass er Wellen zu schlagen schien – Wellen schlug! Das tiefe Grollen war zu einem ohrenbetäubenden Brüllen angeschwollen. Mit zusammengekniffenen Augen spähte Yoshi durch die Aschewolke über dem Ödland und begriff erst nach einigen kostbaren Sekunden, was er vor sich sah: Der Schandfleck brach ein ! Ein gigantischer Abgrund tat sich auf, wurde immer größer – er wuchs auf sie zu.

»Lauf …«, krächzte er.

»Was siehst du?«, rief Isao.

»LAUF!«

Yoshi sprang von der Leiter und stürzte los; Isao hatte Schwierigkeiten, Schritt zu halten. Sie schlitterten über das Gleisbett aus Schotter und rannten in die brach liegenden Lotusfelder. Der Grund schwankte, die Erde, schneebedeckt und rutschig, warf sich auf, sodass sie ein ums andere Mal stolperten und hinfielen. Das Donnergebrüll war jetzt das einzige Geräusch auf der Welt; es war unmöglich, sich miteinander zu verständigen oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Purer Instinkt trieb sie vorwärts, zwang sie, sich nach jedem Sturz wieder aufzurappeln und weiter zu hetzen. Schmerzen spürten sie kaum, zu groß war die Panik, die in ihren Köpfen kreischte, dass sie weiter mussten, weiter, weiter, weiter!

Ein Schatten fiel über Yoshi. Er blickte zum Himmel auf, und beinahe wäre ihm das jagende Herz in der Brust stehen geblieben: Ein halbes Dutzend vertrauter Silhouetten zog unter den Wolken dahin, schlank und wendig, die Schwingen weit gespannt. Greifen! Er hatte nicht den blassesten Schimmer, was sie hier taten – doch da waren sie, so wirklich wie der Abgrund, der sich auf sie zu fraß. Und Yoshi schaute beschwörend zur vordersten Bestie auf und schrie, so laut er konnte, in ihrem Geist:

Hilfe! Oh, bitte helft uns!

Eine Stimme in seinem Kopf, laut wie der Donner und schön wie das Licht eines Sonnenuntergangs. Ein Weibchen.

+ YUKIKO? +

Isao schlug hin, und Yoshi zerrte ihn wieder in die Höhe. Gehetzt sah er über die Schulter – just als die Lokomotive und die zerstörten, verbeulten Waggons in den bodenlosen Schlund stürzten.

Ich bin ein Freund von Yukiko! Und meine Schwester Hana reitet auf einer Donnertigerin namens Kaiah …

Die Greifin schwang herum, und ihr Rudel folgte ihr. Yoshi packte Isaos Hand und rannte strauchelnd auf sie zu. Er schrie aus voller Kehle und gleichzeitig in ihrem Kopf. Die freie Hand schwenkte er durch die Luft.

»Hier! Wir sind hier!«

Der Boden wallte auf, und Yoshi flog mit dem Gesicht voran in den Dreck. Keuchend kämpfte er sich auf alle viere hoch, spuckte schwarze Erde aus und warf einen verzweifelten Blick zurück. Der Abgrund gähnte nun direkt hinter ihnen, und Yoshi spürte bereits, wie die stöhnende, bebende Erde unter seinen Händen und Knien nachgab. Isao, ein paar Schritte hinter ihm, brach zuerst ein: Schreiend verschwand er in der Finsternis. Und dann fiel auch Yoshi, und eine bittere Kälte ergriff von ihm Besitz, kroch ihm in die Knochen, bohrte sich in sein Herz. Bald würde es aufhören zu schlagen … Doch da packte ihn jemand und riss ihn zurück. Er hörte das Rauschen mächtiger Schwingen – und dann stiegen sie auf, die Donnertigerin, die ihn in den Fängen hielt, und er. Der Abgrund rumpelte hungrig: Raijins Töchter hatten ihn seiner Beute beraubt. Sie riefen ringsumher, und ihre Schönheit bildete einen scharfen Gegensatz zu der schrecklichen Verwüstung unter ihnen.

Yoshi grub seine Finger in dichtes Gefieder, schwang ein Bein über die Flanke der Donnertigerin und kletterte auf ihren Rücken. Dabei wagte er keinen Blick nach unten. Sein Atem ging in Stößen, und er zitterte am ganzen Leib.

Bei den Klöten des beschissenen Schöpfergottes …

+ DU SAGST ES. +

Yoshi schlang die Arme um den Hals der Donnertigerin und rang darum, seinen Atem und seine bebenden Glieder unter Kontrolle zu bekommen. Noch immer fror er schrecklich. Er schaute in den Abgrund hinab, der Isao verschlungen hatte, und konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. Doch die Wärme der Bestie vertrieb die grausige Kälte, und Dankbarkeit verdrängte sein Entsetzen. Er ließ sie in den Geist der Donnertigerin sickern.

Ich bin dir sehr verbunden, Erhabene! Wirklich und wahrhaftig .

+ ERHABENE? + Sie war belustigt. + DU GEFÄLLST MIR! +

Yoshi schaute sich zwischen den Weibchen um: Manche waren schneeweiß, andere nachtschwarz. Hinter ihnen sah er die gewaltige Aschewoge – und dicht davor ein einzelnes Gildenschiff. An Deck konnte er gerade noch winzige Gestalten ausmachen.

+ KEINE SORGE: DAS SIND FREUNDE. WIR SIND HERGEKOMMEN, UM UNSERE MÄNNCHEN ZU SUCHEN. AFFENMÄNNER IN METALLPANZERN HABEN DAS BÖTCHEN DA GEJAGT. + Sie knurrte. Die Vibration wanderte an seinen Schenkeln herauf und nistete sich in seinem Bauch ein.

+ JETZT JAGEN SIE NIEMANDEN MEHR. +

Yoshi streichelte der Donnertigerin den Hals. Verrätst du mir deinen Namen?

+ ICH BIN SHAI, DIE SHAKHAN DES RUDELS AUS DEM EWIGEN STURM. +

Wo wollt ihr hin?

+ WIR SUCHEN YUKIKO UND UNSEREN KHAN. +

Sie sind sicher in Yama. Das ist die Stadt der Kitsune … Sie liegt im Norden .

+ WIR MÜSSEN DIE NEUIGKEITEN ÜBERBRINGEN. VON DER FINSTERNIS. DEM, WAS DARIN LAUERT. +

Wir waren tatsächlich auch auf dem Weg nach Yama .

+ SOSO. +

Wenn ich dich richtig nett darum bitte, meinst du, ihr könntet mich mitnehmen?

+ WIE NETT KANNST DU DENN BITTEN, AFFENKIND? +

Na ja, wärst du ein hübscher Junge mit schönen Lippen, könnte ich mir schon was Extravagantes einfallen lassen. So muss ich mich wohl auf Folgendes beschränken: Oh, bitte, mächtige Shai, Shakhan des Rudels aus dem ewigen Sturm .

+ MÄCHTIGE SHAI. + Wieder war sie amüsiert. Es fühlte sich an, als wehte eine warme Sommerbrise durch seinen Geist.

+ JA, DU GEFÄLLST MIR! +

Zischend und ächzend glitten die Türen des Fahrstuhls auseinander; holpernd kratzten die unteren Kanten durch verbogene Rinnen. Kin hinkte auf die Brücke des Erdzerstörers hinaus. Es roch nach geschmolzener Dämmung, Chi-Abgasen und Blut. Überall lagen Gildenmänner und trommelten mit den Hinterköpfen denselben unruhigen Rhythmus auf den Boden. Ihre Arme und Beine zuckten.

Kin ging auf den Steuerstand zu, und Shinji hielt sich an seiner Seite. Kin wandte keinen Blick von dem Gesicht des schönen Jünglings mit den glühenden Augen. Noch immer sickerte Blut aus dem Kragen jenes Mannes, den Kin – meist im Stillen – »Onkel« genannt hatte.

Shateigashira Kensai. Zweite Blüte.

Nein , dachte Kin. Mittlerweile ist er die erste Blüte .

Das Geländer des Steuerstandes war verbogen, eine eiserne Strebe ragte in die Luft. Shinji packte sie und drehte sie hin und her, bis er sie abgebrochen hatte. Dann trat er neben Kin, der gerade den Verschluss an Kensais Helm öffnete. Die Halsmanschette faltete sich auf wie eine mechanische Blume. Kin löste die Schläuche aus dem aufgerissenen Mund des Knaben und nahm Kensai den Helm ab.

Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Das Gesicht eines Ungeheuers? Einer Schreckgestalt mit verzerrten, deformierten Zügen? Kensai war bloß ein alter Mann mit Krähenfüßen, schlaffen Wangen und einem kahlen, mit Leberflecken übersäten Schädel. Seine Augen waren weit aufgerissen, die Pupillen starr, und er hörte nicht auf, den Hinterkopf gegen das Pilotengeschirr zu schlagen. Sein Mech-Abakus klickte und surrte stotternd im Takt mit denen der anderen Gildenmänner.

»Willst du?« Shinji bot ihm die Eisenstrebe an. »Oder soll ich?«

»Warum sollten wir ihn umbringen?«

»Er ist die erste Blüte der Lotusgilde! Und er hat Maseo und Bō ermordet. Warum in aller Welt sollten wir ihn am Leben lassen?«

Kin schaute auf die zerstörte Stadt hinaus. Er dachte an die Arashitora, die von der Flugabwehr des Erdzerstörers zerfetzt worden waren; an die tapferen Samurai, die mit ihren Schiffen den Erdzerstörer gerammt hatten, um ihn aufzuhalten; an die zahllosen Soldaten, die gefallen sein mussten; und schließlich dachte er an Daichi: Der alte Mann hatte für diesen Sieg mit seinem Leben bezahlt.

»Kensai verdient es, im harschen Licht des Tages für seine Verbrechen verurteilt zu werden. Ihn still und heimlich im Dunkeln zu erschlagen, ist nicht richtig.«

Kin setzte Kensai den Helm wieder auf, um seinen Hinterkopf zu schützen. Dann begann er, die Schnallen des Pilotengeschirrs zu öffnen. Wie aus weiter Ferne spürte er den stechenden Schmerz seiner Verbrennungen.

»Hilf mir, Bruder«, bat er.

Unsicher stand Shinji da, während die Gildenmänner unablässig mit den Köpfen auf den Metallboden hämmerten. Aber schließlich packte er doch mit an, und gemeinsam hievten sie Kensai vom Steuerstand und schleiften ihn zum Fahrstuhl. Sie fuhren in den Laderaum hinunter, durchquerten ihn und kamen endlich an eine breite Doppeltür, die mit diagonalen gelben Streifen markiert war. Die Hydraulik war ausgefallen, also setzten sie Kensai an die Wand und mühten sich gemeinsam mit dem Rad an der Tür ab. Langsam glitten die Flügel auseinander.

Draußen war es unbegreiflich hell. Die rauchverhangene, verseuchte Luft kam Kin nach der langen Zeit im Erdzerstörer beinahe wie ein Segen vor. Er schaute sich um: Der Erdzerstörer hockte in dem Loch, das er in die äußere Wehrmauer gerissen hatte. Langsam und mit gezückten Waffen kamen Bushimänner und Samurai aus der Deckung. In der Stadt hinter ihnen brannte es. Qualm und Asche hingen in den Straßen. Blut lief durch die Rinnsteine.

Dann erschütterte plötzlich ein Nachbeben die Stadt: Bröckelnde Mauern und beschädigte Gebäude stürzten ein. Kin und Shinji duckten sich in der Türöffnung. Sie hielten Kensai zwischen sich, der so heftig zitterte wie Yama selbst.

»Götter«, wisperte Kin und starrte durch den Staub auf die Ruinen. »Sieh dir das an …«

Shinji fuhr die Laderampe aus, bis sie auf dem rissigen Boden aufsetzte. Palastwachen umringten den Erdzerstörer, die Armbrüste erhoben. Bushimänner standen zum Angriff bereit.

»Halt!«, rief Kin.

»Du erteilst hier keine Befehle, Gildenmann!« Ein groß gewachsener Kitsune stand mitten im Schutt, die Schultern breit wie ein Türrahmen. Am Wappenrock trug er das Abzeichen eines Hauptmanns. »Ihr befindet euch im Inneren der Feste der Kitsune, dem Sitz unseres Herrn Daimyō Isamu!«

»Wir sind Rebellen!«, rief Kin. »Wir haben Shateigashira Kensai gefangen genommen!«

»Ein billiger Trick!« Der Mann spuckte auf den Boden. »Hältst du uns für Narren?«

»Ein Trick ? Wer, glaubt ihr denn, hat das Ding hier sabotiert?« Shinji schlug mit der flachen Hand gegen die Außenhülle des Erdzerstörers. »Oder ist euch am Ende gar nicht aufgefallen, dass es zehn Meter vor den Gemächern eures Daimyō die Hufe hochgerissen hat? Vielleicht habt ihr ja gedacht, der Scheißtank sei leer, hm?«

»Du hast ja ein ganz schönes Mundwerk, Junge.«

»Deine Tochter mochte meinen Mund!«

Der Hauptmann lachte. »Und Eier in der Hose hast du auch. Wie heißt du?«

Kin antwortete an Shinjis statt. »Mein Name ist Kin, Hauptmann. Und mein schwatzhafter Freund hier heißt Shinji.«

»Kin. Deinen Namen hab ich schon gehört. Gerade eben erst, um genau zu sein …« Der Mann neigte den Kopf. »Ich bin Ginjirō, Hauptmann der Kitsune-Armee.«

Kin verbeugte sich, obwohl er schwer an Kensais Gewicht zu tragen hatte. Seine Verbrennungen schmerzten jetzt wieder mehr. »Es ist mir eine Ehre, Hauptmann.«

»Habt ihr da wirklich die zweite Blüte der Stadt Kigen bei euch?«

»Tatsächlich ist er nach Tōjōs Tod zur ersten Blüte der gesamten Gilde aufgestiegen.«

Hauptmann Ginjirō gab seinen Männern das Zeichen, die Waffen sinken zu lassen. Er lächelte grimmig. »Dann heiße ich euch in der Feste der Kitsune willkommen.«

Yukiko und Buruu flogen gemeinsam mit ihrem Rudel auf die Feste der Kitsune zu. Eine Handvoll schwer beschädigter Schlachtschiffe dümpelte hinter ihnen her – und die kriegsversehrte Kurea , an deren Steuer Schwarzdrossel stand, blutbesudelt und mit blauen Flecken übersät. Yama hatte viele Tote zu beklagen. Hier und da tobten immer noch erbitterte Kämpfe zwischen den Bushimännern der Kitsune und den Häckslern der Tora-Armee. Da die Tiger nicht aus der Stadt entkommen konnten, hatten sie sich auf die letzte Insel zurückgezogen. Die jüngsten Ereignisse – die Zerstörung des Ersten Hauses, das furchtbare Erdbeben und das anschließende Auftauchen der Dämonen – waren nicht spurlos an ihnen vorübergegangen: Sie wirkten verunsichert.

Den Gaijin war es gelungen, den Amatsu zur Hälfte zu überbrücken, doch dann hatte das Beben ihre Bemühungen zunichtegemacht: Ihr Bauwerk war in die teerschwarzen Fluten gestürzt. Jetzt standen sie allesamt am östlichen Ufer, und ihre Kommandanten marschierten ungeduldig auf und ab, während die unglückseligen Konstrukteure wieder ganz von vorn beginnen mussten. Nur ein einziger Kommandant stand still da, den Kopf gesenkt und die Schultern gebeugt.

Yukiko konnte jedoch nur an den blinden Inquisitor im Kerker der Feste denken – den Mann, der wusste, was geschah. Er hätte ihnen sagen können, was sie tun mussten, um die Finsternis zu bannen …

Aus dem dichten Qualm ragte der Erdzerstörer auf. Schräg stand er da, auf einer Seite eingesunken. Seine gewaltigen Motoren waren verstummt. Zwar war er durch die äußere Wehrmauer gebrochen, steckte aber immer noch darin. Soldaten des Fuchs-Clans hatten ihn umzingelt. Schwach glitzerten ihre Klingen im fahlen Abendlicht. Noch immer stob schwarzer Schnee vom Himmel.

Plötzlich verspannte Buruu sich. Yukiko schlüpfte instinktiv in seinen Geist und schaute durch seine Augen. Und da sah sie ihn. Halb nackt kletterte er durch die Trümmer zu Füßen des Erdzerstörers, zusammen mit einem anderen halb nackten Jungen. Sie stützten eine zusammengesunkene gepanzerte Gestalt: die zweite Blüte der Stadt Kigen, wenn sie sich nicht täuschte. Von allen Seiten kamen Soldaten auf die Jungen und Shateigashira Kensai zu.

Zorn packte Yukiko mit solcher Gewalt, dass sie kaum noch atmen konnte. Er hatte sie verraten, und es war sie teuer zu stehen gekommen …

»KIIIIIIN!«

Buruu brüllte und stieß nieder; das Rudel aus dem ewigen Sturm folgte ihm wie ein Schwarm dem Leitvogel. Immer noch schreiend zog Yukiko ihr Katana. Der fremde Junge quiekte, ließ die zweite Blüte los und rannte. Der Shateigashira brach zusammen. Kin riss die Augen weit auf, aber ehe auch er die Flucht ergreifen konnte, packte sie ihn mit ihrem Geist und hielt ihn an Ort und Stelle fest. Sie landeten, gruben die Klauen in das zerbrochene Gestein und brüllten wieder. Asche und Staub wirbelten auf.

Yukiko sprang von Buruus Rücken. Die Klinge des Katanas schimmerte im Licht der untergehenden Sonne, als sie damit ausholte. Sie sah Isao vor sich, Takeshi, Atsushi, Akihito, Michi, Daichi, Aisha und die unzähligen Männer, die heute bei der Verteidigung der Stadt gestorben waren – für das Ideal der Freiheit, das Kin bei jeder Gelegenheit mit Füßen trat! Sie spürte, wie ihn ein tiefer Kummer überwältigte. Sie umklammerte Yofuns Griff so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Die Waffe war das Geschenk des Mannes, den dieser Junge zum Tode verurteilt hatte; ihre Spitze richtete sie nun auf sein Herz.

Und ohne ein weiteres Wort, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, stieß sie zu.

Stahl traf auf Stahl, und Funken regneten nieder: Jemand hatte ihren Schlag von der Seite her abgewehrt. Yofuns Schneide streifte Kins nackte Schulter und hinterließ einen oberflächlichen Schnitt. Blut rann ihm über die blasse Haut. Yukiko fuhr herum. Buruu brüllte. Ein vages Gefühl der Verwirrung drang durch den roten Nebel ihrer Wut.

Hauptmann Ginjirō stand da, einen eisernen Streitkolben in der Hand. »Hör auf, Sturmtänzerin!«

»Tritt beiseite, Hauptmann!«, fauchte sie. »Oder ich räum dich aus dem Weg!«

»Es freut mich, dass es dir gut geht, Mädchen.«

Vier Donnertiger versammelten sich hinter Yukiko und knurrten drohend.

»Tritt beiseite, hab ich gesagt!«

Der Hauptmann wirkte unbeeindruckt. »Dies ist die Feste der Kitsune. Daimyō Isamu ist hier Hausherr, nicht die Sturmtänzerin Yukiko.«

»Daimyō Isamu ist tot! Sie sind alle tot! Und dieser Verräter ist schuld daran!« Ihre Augen blitzten, und sie starrte Kin an, der sich nach wie vor nicht rühren konnte. »Ich könnte ihn mit einem einzigen Gedanken zerquetschen …«

»Nur um diese Dummheit für den Rest deines Lebens zu bereuen, Mädchen.«

»Dummheit? Gerechtigkeit! Er hat uns verraten! Daichi der Gilde ausgeliefert!«

»Kaoris Vater.«

Kurz war es still.

WARTE. DIESER MANN IST KAORI NIE BEGEGNET!

Yukiko blinzelte. Jetzt war sie so verwirrt, dass ihr Zorn verebbte. »Woher kennst du Kaori, Hauptmann? Und Daichi?«

»Vor kaum einer Viertelstunde hat Misaki uns eine Nachricht geschickt. Das Erste Haus liegt in Trümmern, und sie kehrt mit der Wahrheitssucher und ihren Leuten zurück. Sie haben die Überreste einer Kage-Sabotagetruppe bei sich. Ihre Anführerin, eine Frau namens Kaori, hat uns gebeten, den Gildenrebellen und allen anderen Widerstandskämpfern zu sagen, dem Jungen namens Kin solle kein Haar gekrümmt werden.«

»Aber Kaori hasst Kin von ganzem Herzen! Sie will ihn dringender tot sehen als ich …«

Der Hauptmann strich sich durch den Bart. »Sieht so aus, als hätten dieser Junge und dein Freund Daichi gemeinsam einen Plan ersonnen. Nicht einmal Daichis Tochter war eingeweiht. Eine List, um den Jungen an Bord des Erdzerstörers zu bekommen … So konnte er den Antrieb manipulieren.«

Ginjirō schaute zu dem schiefen Giganten auf, dann zur inneren Mauer der Feste hinüber, die sich gerade zehn Meter entfernt erhob.

»Wenn du mich fragst, haben wir großes Glück gehabt, dass ihr Plan aufgegangen ist.«

KANN DAS WIRKLICH WAHR SEIN?

»Aber er ist ein Gildenmann …«

»Sagt das Mädchen von niederer Geburt, das ein Rudel Donnertiger anführt.«

Yukiko fiel das Katana aus der tauben Hand. Behutsam streifte sie Kins Gedanken, und der Rest ihrer Wut löste sich in nichts auf. Wie deutlich sie es nun sehen konnte! Sie hätte sich bloß die Zeit nehmen müssen, richtig hinzuschauen. Da waren Daichi und Kin, die sich über Daichis Schachbrett beugten; Kin, wie er zuerst das Kapitelhaus Kigen und dann den Erdzerstörer infiltriert hatte; die furchtbaren Verbrennungen; die Eisenwerferwunde in seinem Oberschenkel; das Risiko, das er eingegangen war; die Schmerzen, die er erlitten hatte … All das breitete sich vor ihr aus. Aber davor schob sich eine Erinnerung, glasklar, die ihnen beiden die Tränen in die Augen trieb: die Erinnerung an jenen Augenblick in der Arena, als sie ihn des Verrats bezichtigt hatte. Sie war überzeugt gewesen, er hätte sie Yoritomos Gnade ausgeliefert – und anschließend hatte sich herausgestellt, dass sie sich getäuscht hatte. So wie auch jetzt wieder. Er erinnerte sich daran, was er zu ihr gesagt hatte, und ihr war, als drehte sich ein rostiges Messer in ihrem Leib um.

Ich habe dir mein Wort gegeben! Meinetwegen kann Buruu wieder fliegen. Ich würde dich niemals betrügen, Yukiko. Niemals!

»Oh, ihr Götter, Kin …«

Sie ließ ihn los, und er sank ein wenig ein. Blutrot glühte der Schmerz seiner Verbrennungen in seinem Geist. Trotzdem hielt er sich auf den Beinen. In seinen Augen las sie nicht körperlichen Schmerz, sondern Seelenqual. Weil sie ein weiteres Mal das Schlimmste angenommen hatte. Nach allem, was er schon für sie getan hatte.

Sie trat auf ihn zu, und ihre Hände flatterten hilflos in der Luft. »Götter, Kin, es tut mir so schrecklich leid …«

Der Wind heulte in den Ruinen der Stadt. Zwischen ihnen schien sich ein unüberbrückbarer Abgrund aufgetan zu haben.

Kin blickte auf die kleine Wölbung ihres Bauches hinab und wischte sich die Tränen ab. »Mir auch.«