Wie ein Dieb schlich sich die Morgendämmerung heran. Schließlich breitete sich ein matter Schein über die endlose Ödnis, der nicht heller werden wollte. Die Infanterie marschierte durch kniehohen Schnee, der sich mit Asche vermengt hatte. Wieder machten ihnen Schwärme der verhassten Lotusfliegen zu schaffen. Die Schritte der Häcksler und des Erdzerstörers ließen den Boden erbeben.
Yukiko stand auf der Brücke des Metallungeheuers und blickte durch die gesprungenen Fenster entsetzt auf den Schrecken hinaus, der sie erwartete.
Wo sich einst der Schandfleck erstreckt hatte, tat sich nun ein finsterer Schlund auf, dessen eingerissener und bröckeliger Rand sie an den entzündeten Mund eines Rußlungenbettlers erinnerte. Darüber hing wie ein Leichentuch brodelnder Nebel, der sich schließlich in der Dunkelheit verlor. Der Gestank nach verwesenden Blumen und brennendem Haar drang durch jede Ritze. Es wollte ihr nicht gelingen, direkt in den Abgrund zu schauen; immer wieder glitt ihr Blick daran ab. Ihr Kopf schmerzte, und mit einem Mal fror sie erbärmlich. Die Luft war nun schneidend kalt, ein Meer aus gefrorenen Schwertern. Die Tränen erstarrten in ihren Wimpern zu Eis, ihr Atem stieg weiß vor ihrem Gesicht auf, und bei jeder Bewegung knisterte ihr Haar.
Schreckliche Angst befiel sie. Sie konnte die Wärme in ihrem Bauch kaum noch spüren. Furchtsam legte sie die Hand auf die kleine Wölbung und tastete mit dem Gespür nach den beiden Lebensfunken. Sie waren noch da. Doch das Lebenslied der Welt hinter Yukikos Mauer schien an Kraft verloren zu haben. Anstelle des Infernos, das ihr mittlerweile so vertraut war, fand sie nur noch einen leichten Sturm vor. Suchend blickte sie sich um und entdeckte endlich hier und da ein schwaches Glimmen: die Gildenleute auf der Brücke. Kaum mehr als Funken, die in den Fängen des Winters zu erlöschen drohten. Nur die Arashitora brannten noch hell genug, dass sie sie mühelos berühren konnte. Sanft streichelte sie ihre Geister und flüsterte ihnen zu, stark zu bleiben. Noch einmal streckte sie sich nach den Menschen – vergeblich.
Die grauenhafte Kälte, die aus der Wunde in der Welt sickerte, hatte sie von jener Kraft abgeschnitten, die das werdende Leben in ihrem Bauch ihr verliehen hatte.
Doch das war nicht alles.
Vor dem Höllentor hatte sich ein grauenvolles Heer versammelt: Dämonen, aus den Tiefen hervorgekrochen wie missgestaltete Kinder, die sich an den Kimono einer toten Mutter klammerten. Aber Götter im Himmel, was waren das für Kinder! Aberhunderte Albtraumtraumgestalten, geboren wider Willen, blinzelten benommen ins trübe Licht. Erst irrten ihre glasigen Blicke ziellos umher, doch als sie schließlich an den Menschen hängen blieben, die über das öde Land auf sie zumarschierten, fingen sie an, hasserfüllt zu kreischen und zu röcheln. Die vordersten waren Oni, menschenähnliche Kreaturen mit blauer Haut, manche nicht größer als Kinder. Sie schmückten sich mit Schädeln, die so frisch waren, dass noch Haut und Haare daran hafteten; die Münder der Toten waren zu stummen Schreien aufgerissen. Die ausgewachsenen Oni mussten dreieinhalb Meter messen; in den Pranken hielten sie Streitkolben so dick wie Baumstämme. Durch ihre flachen Nasen und wulstigen Lippen hatten sie sich rostige Eisenringe gestochen. Ihre Gesichter waren merkwürdig deformiert – als hätte ihre dunkle Mutter jedes einzelne in die Hand genommen und gequetscht. Doch im Vergleich zu den Schrecken, die dräuend hinter ihnen aufragten, wirkten sie beinahe harmlos.
Gräuel im wahrsten und schrecklichsten Sinn des Wortes. Parodien auf das Leben, auf die Tiere, die einst die Welt mit ihrer Schönheit bereichert hatten. Ein Schwarm Falken kreiste über dem Abgrund wie Fliegen über einem Leichnam. Ihre Leiber bestanden aus stinkendem, wurmstichigem Fleisch, zusammengenäht mit schwarzen Sehnen, aus dem Knochen und verrottende Federn ragten.
Dahinter wankten haushohe Giganten, von denen fauliges, schon beinahe flüssiges Fleisch troff. Auf den zweiten Blick sah Yukiko, dass es sich um wandelnde Leichenberge handelte, gebildet aus den gehäuteten Kadavern ausgestorbener Tiere. Waren es die aufgequollenen Leiber toter Pandabären? Affen? Raubkatzen? Es wirkte, als wäre das Fleisch wie Ton geknetet und um baumstammdicke Knochen geformt worden. Überall klafften aufgerissene Mäuler voller Reißzähne. In den Rachen glomm ein eisiges blaues Feuer.
Zwischen ihnen drängten sich nackte, blinde Menschen. Ihre bleiche Haut war ihnen viel zu groß. Verzweifelt schleppten sie sie hinter sich her, als wollten sie sie abstreifen, und stießen dabei elende, klagende Laute aus. Knochendürre Geschöpfe mit viel zu vielen Gelenken und Fingern standen schwankend da, die augenlosen Gesichter dem Himmel zugewandt, und witterten mit ihren Nasenstümpfen. Löcher taten sich auf, wo Münder hätten sein müssen. Yukiko blickte ihnen direkt in die nadelbesetzten Schlünde, in denen sich tiefrote Zungen wanden. Andere wiederum hatten noch gar keine endgültige Gestalt angenommen, waren nichts als Haufen madigen Fleisches. Dennoch krochen sie vorwärts und zogen Spuren aus geronnenem Blut hinter sich her. Wie weinende Säuglinge schrien sie, und dabei quollen ihnen Schwärme von Lotusfliegen aus den Mäulern.
Diese Brut war in vollkommener Finsternis entbunden worden, genährt an einer schwarzen Brust, von einer hasserfüllten Mutter.
Es waren die Kinder der Sängerin des letzten Liedes.
In der Luft wogte wie Nebel eine Hymne, lauter und lauter. Sie stieg aus der tiefsten aller Höllen, in der die Sängerin von ihrem Ehemann zurückgelassen worden war, und kündete vom Ende der Welt.
Das Lied der Herrin Izanami.
Kommandanten brüllten die Marschkolonnen entlang, um die Armee in Gefechtsformation zu bringen. Die Kriegstrommeln der Gaijin schlugen im Takt mit den Schritten des Erdzerstörers. Die Häcksler mit ihren jaulenden Kettensägenarmen bildeten die erste Reihe. Hinter ihnen bezog die Infanterie Stellung, ein Meer aus gefaltetem Stahl, geprägtem Eisen, Fellen und grimmigen, blutleeren Gesichtern. Shimaner und Morchebaner Seite an Seite. Banner flatterten im Leichengestank: Füchse, Tiger und Phönixe neben Hirschen, Greifen und Eislöwen. Über der Infanterie schwebte die Flotte, behäbige Schlachtschiffe, schwer bewaffnet mit Shuriken-Werfern und Flammenspuckern, Drehflügler mit ihren Blitzkanonen und flinke Phönix-Korvetten. Der Erdzerstörer brachte sich stampfend an der rechten Flanke des Heeres in Position. Teerschwarzer Qualm quoll aus seinen Schornsteinen.
Instinktiv tastete Yukiko nach ihrem Tantō, ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem neunten Geburtstag. Beinahe konnte sie seine Gegenwart spüren, roch den süßen Rauch aus seiner Lotuspfeife. Er würde lächeln, wäre er wirklich hier. Ichigo, würde er sie nennen, sie auf die Stirn küssen und ihr sagen, sie solle mutig sein.
Aber er war nicht hier. Er war für sie gestorben. Für die Tochter, die er geliebt hatte. Für etwas Wichtigeres.
Wie Tora no Takehiko, der durchs Höllentor geflogen war, um es wieder zu verschließen. Was erwartete sie auf der anderen Seite jener Finsternis? Würde sie je zu denen zurückkehren, die sie nun verlassen musste?
Sie wandte sich Kin zu, der auf dem Steuerstand ins Pilotengeschirr geschnallt war. Seine Messinghaut schimmerte im Licht der Steuerpulte. Ohne den Mech-Abakus auf der Brust sah der Panzer sonderbar aus – noch sonderbarer war allerdings, dass der Helm fehlte. Kin blickte sie aus seinen intelligenten Augen an. Er nahm keine Betäubungsmittel mehr, weil er fürchtete, dass sie seinen Verstand vernebeln würden. Ein feiner Schweißfilm glänzte auf seiner Stirn, und er war blass. In seinem Gesicht stand Angst.
Aber es war nicht sein Leben, um das er fürchtete.
»Ich will nicht, dass du das tust«, sagte er.
»Ich muss.« Sie lächelte mit zitternden Mundwinkeln. »Ich bin eine Sturmtänzerin. Es ist an der Zeit, diesem Namen Ehre zu machen.«
»Ist dir schon mal aufgefallen, dass Sturmtänzer nie lange genug leben, um glücklich zu werden? Kitsune no Akira, Tora no Takehiko, alle legendären Helden. Nicht einer ist in seinem Bett gestorben. Weder sind sie je dazu gekommen, ihre Siege zu feiern, noch, in der Welt zu leben, die sie verteidigt haben.«
»Würden sie uns denn ebenso viel bedeuten, wenn sie aus der Schlacht heimgekehrt wären?«
»Mir ja«, sagte er leise. »Meine Liebe zu ihnen würde bloß noch wachsen. Mit jedem Atemzug, jedem Herzschlag. Aus ganzer Seele würde ich sie lieben, käme sie nur zurück zu mir …«
»Sie?«
Er flüsterte ein einziges kleines Wort, weit wie der Himmel. »Dich.«
Yukiko trat zu dem Jungen, der so an seinem empfindsamen Herzen gelitten hatte, der für die Menschen, die er liebte, alles tun würde. Auch für sie.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und zog sein Gesicht zu sich heran. Sie spürte die Wärme, die von ihm ausging, und küsste ihn.
Die ganze Welt verstummte. Der Lärm, das unheimliche düstere Licht, der Kummer und die Angst – alles war plötzlich weit fort. Nur sie beide gab es noch. Nur seine Lippen, die zart über ihre strichen, weich wie die Träume der Wolken. Der Kuss entfachte ein Feuer in ihr, das das Eis in ihrem Inneren schmolz. Sehnsucht und Wärme erfüllten sie. Er atmete in ihre Brust und sie in seine. Eine Offenbarung. Ein Abschied. Ein Kuss, der sich in ihre Erinnerung einbrennen und ihr einen Stich versetzen würde, solange sie lebte.
Ein Kuss, um dessentwillen man in den Tod gehen würde.
Es fiel ihr schwer, sich von ihm zu lösen. Als sie es versuchte, stemmte sich Kin verzweifelt gegen das Geschirr und drückte seine Lippen noch einen Augenblick länger auf ihre, doch schließlich standen sie einander gegenüber und schauten sich in die Augen. So viel würde ungesagt bleiben zwischen ihnen. Sie hatten einfach keine Zeit mehr.
»Komm zurück zu mir«, flüsterte er. »Bitte!«
Sie schwieg. Tränen stiegen ihr in die Augen. Er ergriff ihre Hand mit seinem Panzerhandschuh, die Berührung so behutsam wie fallende Schneeflocken. Sie wich zurück und spürte, wie es ihr das Herz brach. Der Schmerz war so wirklich, dass sie glaubte, Blut im Mund zu schmecken.
»Leb wohl, Kin.«
»Sag das nicht …«
»Zu spät.« Sie lächelte, und die Tränen kullerten ihr über die Wangen. »Zu spät.«
Dann wandte sie sich ab und ging davon.
Die Arashitora begrüßten ihren Khan und das Mädchen auf seinem Rücken mit beifälligem Gebrüll. Wie verehrungsvoll die Affenkinder auf den Himmelsschiffen das Mädchen anschauten – dieses kleine, schmale Ding, das ein ganzes Reich mit seinen Reden ergriffen und in Bewegung gesetzt hatte. Falls überhaupt jemand aus den schwarzen, eisigen Tiefen zurückkehren konnte, dann Yukiko.
Sie sprach laut, doch ihre Stimme hallte zugleich in ihren Geistern wider, brannte dort mit der Hitze einer weißen Flamme.
»Ihr alle wisst, was ihr zu tun habt!«
Kaiah knurrte grollend. – WIR KENNEN DEN WEG! FÜR DICH WOLLEN WIR IHN IN DÄMONENBLUT TAUCHEN, YUKIKO! –
»Sobald das Tor geschlossen ist, wird das Metallungeheuer alles in seinem Umkreis niederbrennen. Passt auf euch auf! Geht keine unnötigen Risiken ein! Ich wünsche mir, dass ihr alle in den ewigen Sturm zurückkehrt und euren Kindern und Kindeskindern von diesem Tag erzählt!«
Shai flog neben Buruu. + SIE WERDEN IHN NICHT VERGESSEN. +
Die Gedanken der Rudelmitglieder verschmolzen in Yukikos Kopf zu einer einzigen Stimme.
NIEMALS WERDEN SIE DIESEN TAG VERGESSEN!
Sukaa stieß ein markerschütterndes Brüllen aus, den Blick der smaragdgrünen Augen fest auf den finsteren Abgrund gerichtet. ~ VERSCHWENDEN WIR KEINE ZEIT! BRINGEN WIR ES ZU ENDE! ~
Yukiko schaute zwischen Hana und Yoshi hin und her. Sie musste schreien, um den heulenden Wind zu übertönen: »Bleibt dicht bei Buruu und mir! Sollten wir fallen, muss einer von euch nach Yomi fliegen! Ich weiß nicht, was euch dort erwartet … Aber einer von uns muss das Tor versiegeln!«
»Ja!«, brüllte Hana zurück. »Was auch geschieht, wir ziehen das jetzt durch!«
Kaiah kam an Buruus andere Seite. – HÖRST DU DEN DONNER, BRUDERMÖRDER? – , fragte sie, und in ihrem Ton klang beinahe so etwas wie Bedauern mit. – UNSER VATER IST STOLZ. EINTAUSEND JAHRE LANG WERDEN DIE STEINE UND DER HIMMEL DEINEN MUT BESINGEN. –
RUHM BEDEUTET MIR NICHTS, KAIAH. ER HAT MIR NIE ETWAS BEDEUTET .
– DU SPRICHST WAHR. SELBSTSUCHT IST DIR FREMD. DU TUST, WAS ANDERE NICHT ÜBER SICH BRINGEN. STELLST DIE BEDÜRFNISSE DES RUDELS ÜBER DEINE EIGENEN. DU BIST EIN WAHRER HERRSCHER. – Sie ließ Wärme in seinen Geist fließen. – MEIN KHAN. –
Buruu schnurrte. Yukiko lächelte, dann streichelte sie der Reihe nach die Geister aller Arashitora. Und schließlich wandte sie sich Yoshi zu, der bleich auf Shais Rücken hockte. Die Shakhan des ewigen Sturms hielt sich noch immer dicht neben ihrem Gefährten, sodass Yukiko nicht weit schreien musste – dennoch riss ihr der Wind die Worte von den Lippen, und sie war nicht sicher, ob er sie würde verstehen können.
»Du bist so schrecklich still, Yoshi!«
Er blinzelte und lächelte schief. Er hatte sie gehört.
»Ist doch mal ’ne angenehme Abwechslung, oder nicht?«, schrie er zurück.
»Du musst keine Angst haben!«
»Ha!« Er blickte auf die furchtbare Armee hinab. »Ich hab ’ne Scheißangst … Alles andere wär glatt gelogen, Sturmmädchen! Aber Angst hat den alten Yoshi noch nie vom Reden abgehalten.«
»Was hast du dann?«
Er zuckte mit den Schultern. Betrachtete das Höllentor. »Kommt mir irgendwie so vor, als hätten wir genug geredet. Der Augenblick scheint eher Handeln zu erfordern.«
Noch immer drängten sich die Yomi-Horden um den schwarzen Abgrund. Darüber schwärmten wie eine brodelnde Wolke die untoten Falken. Die Scheusale mit der losen Haut und die Fliegenmäuler brüllten und kreischten, dass es Yukiko durch Mark und Bein ging. Sie schaute in die Finsternis, verengte die Augen und schauderte. Der Kopfschmerz flackerte erneut auf, und sie hörte das melodielose, klagevolle Lied nun deutlicher.
Dort hinein, in diese undurchdringliche Schwärze mussten sie tauchen.
Sie nickte.
»Ja. Genug geredet. Handeln wir!«
Sie zog ihr Katana und reckte es hoch in die Luft. Die Klinge erstrahlte im Licht eines züngelnden Blitzes. Donner krachte. Susanoo und Raijin waren beide gekommen, um die Armee der Menschen anzufeuern, die sich den Horden der Sängerin des letzten Liedes entgegenwarf. In den wilden Rhythmus des Donnergottes mischten sich die Kriegstrommeln der Gaijin, das Brüllen der Himmelsschiffsmaschinen, die Schläge unzähliger Hämmer auf Schilde und das brummelnde Heulen der Kettensägenkatanas. Durch die Infanterie schien eine Welle zu laufen. Ein Wort und sie würde sich in Bewegung setzen.
»Wir alle!«, brüllte sie. »Gemeinsam!«
Sie deutete mit der Spitze ihres Schwertes auf den Feind.
»BANZAI!«
Der Erdzerstörer hustete schwarzen Qualm in die Luft und stampfte dröhnend los. Gaijin-Krieger und Bushimänner brüllten wie mit einer Stimme auf und stürzten durch Nebel, Schnee und Ascheregen auf die Höllenbrut zu, den Häckslern hinterher. Die Maschinen der Himmelsschiffe röhrten, die Propeller schnitten durch die schwere Luft. An der Spitze flog die Ehrenvoller Tod , flankiert von der Kurea . Schwarzdrossel stand selbst am Steuerrad und schrie in den Sturm. Kaori bemannte einen Shuriken-Werfer; ihr Blick war auf den Vogelschwarm gerichtet.
Die Falkenkadaver kreischten und sperrten die blutigen Knochenschnäbel weit auf. Ihre milchweißen Augen quollen ihnen schier aus den fauligen Höhlen. Die Flotte eröffnete das Feuer. Shuriken-Salven schlugen eine breite Bahn durch die ekelhafte Wolke, und es regnete schwarzes Blut. Die Kreaturen ließen sich jedoch selbst von Wunden nicht aufhalten, die tödlich hätten sein müssen. Sie flogen so lange weiter, bis ihre zerfetzten Schwingen sie nicht länger trugen. Die Arashitora fuhren wie Kettensägenklingen zwischen sie und trennten ihnen die Flügel und die Köpfe ab. Der Schlachtenlärm war ohrenbetäubend. Menschen und Dämonen schrien, Werfer knatterten, Flammenspucker fauchten und Blitzkanonen zischten. Über allem hämmerte Raijin weiter auf seine Trommeln ein. Blitze flackerten und zuckten über die Wolken.
Der Erdzerstörer prallte wie eine Lawine gegen die Yomi-Horden. Mit einem einzigen Streich seines gewaltigen Sensenarms zerteilte er ein Dutzend Dämonen. Blut strömte wie ein Fluss, ja wie ein Meer , und die Ungeheuer blieben röchelnd und zuckend liegen. Doch für jedes, das fiel, kamen zwei weitere heran. Trotz Flammenstößen oder Eisenwerferkugeln stürmten sie einfach weiter. Ein gigantisches Monstrum – nur ein schwammiger Leib ohne Kopf – sprang dem Erdzerstörer an den Bauch und klammerte sich mit seinen langen Tentakeln fest. Die große Kriegsmaschine schwankte. Hunderte kleinerer Dämonen kletterten brabbelnd an den metallenen Beinen hinauf, eine rasch ansteigende Flut offener, kreischender Mäuler.
Auf der Brücke kämpfte Kin fluchend darum, trotz der Wucht des Ansturms die Kontrolle zu behalten.
»Backbord fällt der Hydraulikdruck ab!«, schrie Misaki von ihrem Posten. »Eine Leitung ist beschädigt!«
Schadensmeldungen prasselten auf ihn ein.
»Geschütztürme sieben und zehn ausgefallen!«
»Beine sieben und fünf reagieren nicht mehr!«
»Laderaum! Wir brauchen Leute im Laderaum!«
»Verdammt noch mal!« Kin schwang einen Arm des Erdzerstörers nach dem Tentakelungetüm, und ein gewaltiger Schwall schwarzen Blutes spritzte gegen die Fenster.
Aus den Lautsprechern drang rauschend Shinjis Stimme. »Kin! Dämonen rennen uns die Tür zum Laderaum ein! Wenn die’s hier reinschaffen, bleibt vom Erdzerstörer nichts übrig! Dann war’s das mit der großen Explosion …«
Kin blinzelte sich den Schweiß aus den Augen und hieb wieder und wieder in das brodelnde Meer aus Dämonenleibern. Er flüsterte ein Gebet. Nicht an die beiden Götter gerichtet, die gerade am Himmel lärmten, sondern an das Mädchen, das nun ihrer aller Schicksal in Händen hielt.
»Beeil dich, Yukiko …«
Yukiko duckte sich tief über Buruus Hals. Der riss gerade einem weiteren der untoten Falken den Kopf ab und schlängelte sich geschickt zwischen den stinkenden Leibern mit ihren ledrigen Schwingen und messerscharfen Klauen hindurch. Der kreischende Schwarm verdunkelte den Himmel. Zwar waren die Arashitora schneller, entschlossener und klüger, doch die Falken waren so zahlreich, dass es kaum eine Rolle spielte. Einem schwarzen Weibchen wurde der Bauch aufgeschlitzt; noch während es vom Himmel stürzte, hackten die Falken mit ihren scharfen Schnäbeln nach seinen Augen. Tweik trennten sie einen Flügel ab. Brüllend vor Schmerz stürzte er auf die gefrorene, aschebedeckte Erde und sein Ende zu.
Das Rudel formierte sich im Schutz der Flotte neu. Die Arashitora hielten sich hinter dem sirrenden, schwirrenden Shuriken-Hagel. Am Bug des Flaggschiffes sah Yukiko Ginjirō stehen. Er brüllte seiner Mannschaft Befehle zu. Die Erblühende Flamme , eine Phönix-Korvette, machte ihrem Namen alle Ehre und ging in einen Feuerball auf. Nicht weit entfernt befand sich die Ehrenvoller Tod ; Hiro und seine Samurai waren vollauf damit beschäftigt, die Falken zu erschlagen, die es durchs Geschützfeuer schaffen. Das Gildenschiff Glanz und Gloria dümpelte führerlos in einer Traube untoter Vögel dahin. Die schrillen Schreie der Männer, die bei lebendigem Leibe zerrissen wurden, übertönten das Wummern der Maschinen und das Brausen des Sturms.
»Yukiko!«, brüllte Hana über das Schlachtengetöse hinweg. »Die überrennen den Erdzerstörer!«
»Wir können nichts tun … Es sind einfach zu viele!«
Der Geruch nach Ozon und Tod stieg ihr in die Nase. Die Donnerschläge jagten einander, so schnell wie ihr Puls. Sie spürte den eisigen Wind in ihren Federn. Blut troff von ihren Klauen. Der beißende Geschmack ihrer Beute füllte ihren Mund. Mit Leichtigkeit glitt sie durch die peitschenden Böen, Buruus Herz schlug in ihrer Brust, ihre Augen dienten ihm, um hinter sich zu sehen. Sie drehten sich in der Luft, stießen hinab und brüllten; Blitze zuckten über ihre Schwingen. Wieder und wieder ließen sie Raijins Lied erklingen, und die albtraumhaften Kadavervögel taumelten dem Erdboden entgegen. Hana schlug mit ihrem Kettensägenkatana um sich; Yoshi schoss mit seinem Eisenwerfer in die verwesenden Köpfe, die zerplatzten wie mit Wasser gefüllte Ballons. Nur langsam kamen sie voran, doch sie kämpften sich unermüdlich weiter auf das Höllentor zu: das Mädchen, sein Donnertiger und ihr Rudel.
Doch dann begann die Finsternis im Abgrund sich zu regen.
Es war, als kräusele sich die Oberfläche eines tintenschwarzen Sees. Dann hallte aus der Tiefe das gequälte Gekreisch einer Myriade gefolterter Möwen empor. Wie ein Messer aus Eis bohrte es sich in Yukikos Geist. Sie keuchte. Buruu und die anderen Arashitora drehten ab, denn nun stieg aus dem Höllentor eine Kreatur auf, so kolossal und grauenvoll, dass ihr Anblick beinahe unerträglich war.
Zuerst traf sie der Gestank. Yukiko prallte zurück und würgte, überzeugt, sie müsse sich jeden Moment übergeben – oder in Ohnmacht fallen. Sie krallte sich an Buruus Mähne fest. Dann erhob sich das Monstrum über das Tor, und ihr entwich ein leises Wimmern.
Es war ein Vogel, grotesk und verwachsen. Auch er war ganz aus Kadavern zusammengesetzt. Maden wimmelten in seinem grässlichen Leib. Seine Augen glühten frostig blau. Sein Flügelschlag erzeugte Orkane. Der Pesthauch, der von ihm ausging, war unbeschreiblich.
Sie wusste, was sie vor sich sah: die gemarterten Seelen all jener Spatzen, die am blutroten Himmel erstickt waren; all jener Kraniche und Adler, die vergiftet aus den Wolken gefallen waren, die Mägen voller Blut. Sie waren zur Hölle gefahren, und nun würden sie jenen den Tod bringen, die sie und ihre ganze Art ausgerottet hatten.
Wieder schrie das Ungeheuer mit den Stimmen unzähliger Vögel, die schmerzvoll und elend unter einer brennenden roten Sonne verendet waren.
»Großer Schöpfer«, wisperte Yukiko. »Beschütze uns!«
Aleksandr schwang seinen Blitzhammer und schlug einem kreischenden Scheusal den Schädel ein. Der Kopf des Geschöpfes platzte auf, und Knochensplitter und Gehirnmasse spritzten in alle Richtungen. Der Hauptmann versetzte dem zuckenden Leib noch einen wuchtigen Tritt, der ihn gegen die andrängende Flut verwesenden Fleisches zurücktaumeln ließ, und rammte einer anderen Missgeburt den Schild ins Gesicht. Seine Arme waren schwarz und glitschig von Dämonenblut, und der Boden unter seinen Füßen hatte sich in einen Sumpf aus geschmolzenem Schnee, fauligem Fleisch und Blut verwandelt. Der Gestank trieb ihm die Tränen in die Augen. Überall um ihn herum kämpften, schrien und starben Männer, sausten Hämmer und Schwerter durch die Luft, brachen Knochen, spritzte Blut. Der jaulende Chor der Kettensägenschwerter mischte sich in den Höllenlärm. Häcksler mähten die Dämonen nieder, doch für jedes Dutzend, das fiel, wurde auch ein tapferer Mann niedergestreckt oder ein Häcksler umgestürzt, der Soldat herausgezerrt und zerrissen. Der Ansturm der Yomi-Horden nahm einfach kein Ende. Wohin er auch schaute, sah er glühende Augen, madiges Fleisch und scharfe Klauen. Der Atem brannte ihm in der Brust, und seine Sicht verschwamm. Jeder Schritt war schwerer als der vorangegangene.
Doch am schwersten auszuhalten war das Lied. Jetzt war es so laut, dass er die gesungenen Worte beinahe verstehen konnte. Es war, als kratzten blutige Fingernägel über seine Seele. Als stecke ihm ein Metallspan im Auge. Es durfte nicht sein, und doch war es so, und er konnte es kaum ertragen. Bis in die Knochen spürte er, wie falsch es war. Sah Männer, die plötzlich erstarrten, den Kopf schief gelegt, als würden sie lauschen, die starren Blicke auf den Abgrund gerichtet. Die Dämonen fielen über sie her, und doch rührten sie keinen Finger. Mit einem dümmlichen Lächeln auf den Lippen ließen sie sich in Stücke reißen.
Aleksandr erkannte die liebliche Stimme, die sang, obwohl er sie nicht mehr gehört hatte, seit er ein Junge gewesen war. Es war die Stimme seiner Mutter, die ihn rief. Nach all den Jahren der Einsamkeit wollte sie ihn endlich wieder in die Arme schließen. Und er wollte gehalten werden, wollte an eine warme Brust gedrückt werden, als wäre er wieder ein Säugling, als gäbe es auf der ganzen Welt nichts weiter als sie – sie! –, die Frau, die ihn geboren hatte. Ganz gleich, wie groß und stark er auch wurde, sie würde immer Macht über ihn haben. Er spürte, wie falsch das alles war. Wie schrecklich es war, dass eine Mutter einsam in der Finsternis hatte verrotten müssen. Dass ihr nichts geblieben war als ihre Träume von Rache. War es da nicht nur gerecht, dass ihre Rache nun über jene Welt kam, bei deren Geburt sie selbst gestorben war?
Nichts als Lügen, das wusste er. Was er empfand, war finsterer Zauberei geschuldet, die aus den Höllen Shimas heraufwehte. Jene dunkle Mutter war nicht seine Göttin. Und deshalb umklammerte er mit der freien Hand das Medaillon, das er um den Hals trug, betete um Klarheit und Willenskraft und schlug dem nächsten Dämon den Kopf von den Schultern.
»Hört nicht hin!«, brüllte er. »Verschließt eure Ohren vor diesem Lied!«
Die Erde erbebte, und die Finsternis im Höllentor kräuselte sich, ganz so, als wäre ein Stein in schwarzes Wasser geworfen worden. Aleksandr blickte über das Dämonenheer hinweg und sah den gewaltigen Aasvogel aus dem Abgrund aufsteigen. Eine Woge des Gestanks traf ihn wie ein Hammerschlag. Der gewaltige Schatten des Vogels breitete sich über das Schlachtfeld, und alles versank in Dunkelheit.
»Lebendige Göttin!«, raunte er. »Beschütze uns!«
Wieder kreischte der riesenhafte Aasvogel. Er schlug mit den stinkenden Schwingen und schoss durch den Rauch und die wabernde Finsternis. Yukikos Ohren dröhnten. Ohne Unterlass knatterten die Shuriken-Werfer, röhrten die Himmelsschiffsmaschinen. Schwarzdrossel, Kaori und die Mannschaft der Kurea waren in einen blutigen Kampf mit den untoten Falken verstrickt, und die Blütenstaub war nur noch ein krängendes Wrack. Der Rest der Flotte jedoch nahm Kurs auf den Aasvogel. An der Spitze sah Yukiko die Ehrenvoller Tod . Am Bug stand Hiro, die Kettensägenschwerter gezogen, und brüllte aus vollem Halse.
Hiro …
SIE VERSCHAFFEN UNS ZEIT – WIR DÜRFEN SIE NICHT VERSCHWENDEN!
Hana brüllte in den erstickenden Wind. »Los, Yukiko! Los!«
Sukaa sauste vorbei, der Erste, der wieder aufs Höllentor zuhielt. Seine Gedanken loderten hell in ihrem Geist.
~ FLIEG, AFFENKIND! ~
Die Arashitora schnitten durch einen kleineren Schwarm Falken, die heftig mit ihren madenverseuchten Flügeln schlugen. Donner grollte, und verstümmelte Leichenvögel regneten vom Himmel. Geschickt tauchten die Arashitora zwischen den hackenden Knochenschnäbeln und den zuschnappenden Klauen hindurch. Eines der Scheusale stieß von hinten auf Yukiko herab, und Yoshis Eisenwerfer brüllte auf. Hoch über ihnen kreiste Hana. Yukiko nahm sie deutlicher wahr als andere Menschen. Hana lachte, war das zu glauben? Kaiah und sie wüteten unter den Falken, und Hana lachte. Kaiahs Blutrausch und Hanas Zorn vermengten sich untrennbar miteinander, eine Verschmelzung, die Yukiko wiedererkannte. Sie berührte Buruus Geist, und … Ja, es war dasselbe. Sie und er. Eins.
Über dem bodenlosen Abgrund drehten die übrigen Rudelmitglieder ab. Gleißende blauweiße Blitze zuckten über den Himmel.
Hinter ihr gab es eine Explosion. Kochend heiße Luft spülte über sie hinweg – ihr war, als wanderte sie nach einem langen, eisigen Wintertag über die Oberfläche der Sonne. Ein furchtbares Kreischen, erfüllt von rasendem Zorn und Schmerz. Sie schaute zurück und sah, dass der riesige Aasvogel brannte – seine Flügel glommen und rauchten. Alles war Finsternis. Schnäbel und Klauen, Eisenwerferkugelsalven und heulende Kettensägenschwerter: ein Gedicht, mit Blut auf Rauchwolken geschrieben. Buruu war in ihrem Geist, ihrem Herzen, ihrer Seele, er war ihr so nah, dass sie glaubte, sie trüge seine Haut, sähe die Welt ausschließlich durch seine Augen. Nun blickten sie in den endlosen schwarzen Schlund hinab. Das grauenvolle Lied der Herrin Izanami stieg über die Mauer hinweg, die sie zwischen sich und dem Lebenslied der Welt errichtet hatte. Es sickerte durch die Risse, die sie sich offen gehalten hatte. Yukiko spürte, wie es ihre Wirbelsäule hinaufkroch und sich wie ein Splitter in ihren Hinterkopf bohrte. Eine Totenklage, seelenlos und schrecklich, die nicht enden wollte.
Und dann hörte sie eine zweite Stimme, die aus der Finsternis zu ihr emporstieg.
»Ichigo …«
Die Stimme war so vertraut. Rau von Lotusrauch und Sake. Er hatte sie Ichigo genannt, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, das mit seinem Bruder durch das Bambuswäldchen getobt war. Das auf seinen Schultern gesessen und geglaubt hatte, sein Kopf müsse die Wolken streifen.
»Ichigo, ich bin hier …«
Tränen stiegen ihr in die Augen. Das Wort steckte ihr in der Kehle fest wie eine scharfkantige Scherbe aus schwarzem Glas.
»Vater …«