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Vor Gericht
Dass die Entscheidung über Sein oder Nichtsein einer archäologischen Sensation in den Händen von Juristen liegt, ist ein wohl vorbildloser Umstand. Normalerweise stellen die Wissenschaftler sicher, dass es sich bei einem geborgenen oder angekauften Objekt um keine Fälschung handelt, und versuchen ihm möglichst viele Geheimnisse zu entlocken, um es guten Gewissens der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Himmelsscheibe von Nebra sah sich dagegen einem massiv erhöhten Forschungsdruck ausgesetzt: Sie war Gegenstand eines Gerichtsprozesses, in dem so ziemlich alles an ihr infrage gestellt wurde.
Zwar brauchte das Amtsgericht Naumburg im September 2003 nur vier Prozesstage, um die Raubgräber und Hehler zu verurteilen, doch da Hildegard B. und Reinhold S. in Berufung gingen und nichts unversucht ließen, einen Freispruch zu erreichen, währte das zweite Verfahren vor dem Landgericht Halle epische 33 Verhandlungstage. Vom 1. September 2004 bis zur Urteilsverkündigung am 26. September 2005 avancierte der Prozess zum Aufmarsch der Experten und zum Medienspektakel.
Die Verteidigung der Hehler schoss sich regelrecht auf die Himmelsscheibe ein. Da Hehlerei nur nach einer geeigneten Vortat geahndet werden kann, muss die Vortat auch zweifelsfrei feststehen. Deshalb kam der Frage nach der Echtheit des Funds und des Fundorts vor Gericht zentrale Bedeutung zu. War die Scheibe nicht echt oder zumindest kein bedeutender historischer Fund, war die Anklage hinfällig. Dazu reichte die Existenz erheblicher Zweifel. Vor Gericht gilt schließlich: in dubio pro reo. Im Zweifel für die Angeklagten bedeutete aber in diesem Fall: im Zweifel gegen die Himmelsscheibe.
Da zur selben Zeit auch das Forschungsprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft »Der Aufbruch zu neuen Horizonten« seine Arbeit aufnahm, das sich der Himmelsscheibe und ihrem Umfeld widmete, war sie auf gutem Weg, zu einem der vermutlich besterforschten archäologischen Objekte der Welt zu werden.
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Im ersten Prozess vor dem Amtsgericht Naumburg war die Strafsache gegen die Raubgräber und Hehler der Himmelsscheibe von Nebra flott über die Bühne gegangen. Der Hehler Achim S., der mit seinem Geständnis die Archäologen auf die Nebra-Fährte gebracht hatte, war bereits im Vorfeld erstaunlich glimpflich davongekommen – er war im Strafbefehlsweg lediglich unter Vorbehalt einer Geldstrafe wegen Hehlerei verwarnt worden. Die Finder Henry W. und Mario R. erhielten dagegen wegen Fundunterschlagung und Hehlerei Bewährungsstrafen in Höhe von vier und neun Monaten, ihr Geständnis in letzter Minute hatte das Gericht ein wenig milde gestimmt.
Der letzte Besitzer der Scheibe, Reinhold S., und seine Vertraute Hildegard B. wurden wegen Hehlerei beziehungsweise Absatzhilfe verurteilt: Er zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, sie zu einem Jahr, beide Strafen waren zur Bewährung ausgesetzt. Für den Richter stand die Bereicherungsabsicht außer Frage: Sie hatten den Fund für 230 000 DM erworben und ihn dann für 700 000 DM dem Landesarchäologen Meller angeboten. Reinhold S. und Hildegard B. jedoch akzeptierten das Urteil nicht: Sie hatten die Scheibe retten wollen, und es sei doch höchst ungerecht, dass mit dem ersten Hehler Achim S. so milde umgegangen worden sei, obwohl der sogar die 230 000 DM behalten hatte. Sie legten Berufung gegen das Urteil ein.
Was sich in der Stadt an der Saale in den kommenden Monaten abspielte, erinnerte an Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Während an die 300 000 Menschen ins Landesmuseum für Vorgeschichte pilgerten, um die Himmelsscheibe als Star der großen Ausstellung »Der geschmiedete Himmel« zu sehen, wurde in gerade zwei Kilometern Entfernung nichts unversucht gelassen, ihre dunkle Seite zu enthüllen. Eine Fälschung sei sie, heimlich auf dem Mittelberg verscharrt. Ihre Patina sei nicht das Werk der Jahrtausende, sondern böswilliger Manipulation. Eine archäologische Sensation? Von wegen, nichts als plumper Betrug.
Das war insofern eine erstaunliche Wendung, als es zuvor nie den Anschein gehabt hatte, dass Hildegard B. und Reinhold S. von irgendwelchen Zweifeln hinsichtlich der Himmelsscheibe geplagt worden wären. Warum sollten sie viel Geld investiert haben und große Risiken eingegangen sein, wenn sie von der Echtheit der Himmelsscheibe nicht restlos überzeugt waren?
Nun aber eröffneten ihre Verteidiger den Revisionsprozess mit einem Paukenschlag: Der Fundort der Himmelsscheibe stehe überhaupt nicht fest; der Mittelberg scheide aus, dessen Boden sei viel zu kalkhaltig. Hätte die Scheibe tatsächlich Jahrtausende dort in der Erde gelegen, wäre sie längst zerfressen. Nein, sie stamme aus der ehemaligen Tschechoslowakei, wenn sie nicht sogar als Fälschung aus der Türkei gekommen sei. Damit läge gar kein Fund vor, schon gar kein bedeutsamer; entsprechend greife das Schatzregal nicht, und das Naumburger Urteil müsse verworfen werden.
Zu beweisen, dass der Boden auf dem Mittelberg mitnichten aus Kalk besteht, sondern aus Buntsandstein, war für die Geologen keine große Kunst. Größere Raffinesse bedurfte es da schon, zu zeigen, dass die Himmelsscheibe tatsächlich vom Mittelberg stammte. Denn auch das Geständnis der Raubgräber zweifelte die Verteidigung an. Dabei waren deren Angaben durch die Nachgrabungen auf der mittlerweile gerodeten Kuppe des Mittelbergs bestätigt worden. Es hatte sich gezeigt, dass die Grube tatsächlich nicht tiefer als 70 Zentimeter gewesen sein konnte, dann traf man auf den Sandstein. Die Raubgräber hatten angegeben, dass die Himmelsscheibe nahezu aufrecht im Boden stand und sich der obere Rand nur wenige Zentimeter unter der Oberfläche befand. Auch passte die Dimension des Raubgräberlochs zum Volumen des gesamten Fundkomplexes. Und schließlich identifizierte der Ausgräber Thomas Koiki im Erdprofil die Abdrücke der umgearbeiteten Feuerwehrhacke der Raubgräber, mit der auch die Himmelsscheibe beschädigt worden war.
8 Volltreffer: Die Schrammen und Beschädigungen der Himmelsscheibe, die aufrecht stehend im Boden vergraben war, passen bestens zur Hacke der Raubgräber.
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Keine Spur war zu unbedeutend, um ihr nicht nachzugehen. So waren die Archäologen auch auf die Glasscherben der Mineralwasserflasche gestoßen, die Henry W. in die leere Grube geworfen hatte. Eine Untersuchung auf DNA-Spuren erbrachte keine verwertbaren Hinweise. Dafür nahm sich der Museumsrestaurator Christian-Heinrich Wunderlich der Herausforderung an, Wasserflaschen des Typs »Deutscher Brunnen« zu datieren. Tatsächlich ist das jeweilige Herstellungsjahr im Boden einer jeden Flasche codiert. Bloß fehlte ausgerechnet die Bodenscherbe. Vermutlich war sie verschollen gegangen, als Achim S. und Mario R. im Jahre 2002 das Loch ein zweites Mal geöffnet hatten, um die Steine auszugraben und jeden Verdacht auf ein Grab auszuräumen. So blieben als einziger Datierungsanhalt die Abnutzungserscheinungen am Flaschenhals: Die verwiesen auf eine Umlaufzeit der Flasche von maximal zwei bis drei Jahren. Da es den Flaschentyp in der DDR nicht gab, konnte sie frühestens Anfang der 1990er-Jahre in die Grube gekommen sein.
Von größerer Aussagekraft waren die Bodenanalysen: Zunächst wurden die Sand- und Erdspuren untersucht, die mit der Himmelsscheibe fest verbacken waren. Der Gerichtschemiker vom Landeskriminalamt Brandenburg Jörg Adam machte sich an die Arbeit. Die Süddeutsche Zeitung rühmte ihn als »Papst der forensischen Sedimentbodenuntersuchung«. Bei mehr als einem Mordfall hatte er zur Aufklärung beigetragen, weil Sand an der Leiche oder Erde an den Schuhen des Täters den Weg zum Tatort wiesen. Adam also nahm Proben von den Erdanhaftungen der Himmelsscheibe, der Schwerter und Beile und verglich sie mit den Bodenproben aus dem mutmaßlichen Raubgrabungsloch auf dem Mittelberg. Die mineralogischen Zusammensetzungen waren identisch; es fand sich nicht der geringste geologische Hinweis, der auf einen anderen Fundort hingedeutet hätte.
Auch der Chemiker und Archäometallurge Ernst Pernicka untersuchte Bodenproben aus der Raubgrube sowie aus der unmittelbaren Umgebung. Er ermittelte deren jeweiligen Kupfer- und Goldgehalt. Das Ergebnis war eindeutig: Im Sediment direkt unterhalb des Bereichs, in dem Himmelsscheibe, Schwerter und Beile fast 4000 Jahre gelegen haben sollen, ließen sich im Vergleich zur näheren Umgebung um das Hundertfache erhöhte Kupferkonzentrationen nachweisen. Auch besaßen die Proben aus dem Raubgräberloch signifikant höhere Goldgehalte. Beides lässt sich allein dadurch erklären, dass hier Kupfer – oder Kupferlegierungen wie Bronze – und Gold über einen sehr langen Zeitraum im Boden gelegen hatten.
Die naturwissenschaftlichen Untersuchungen untermauerten damit eindrücklich, was durch das Geständnis der Raubgräber und die astronomischen Entdeckungen Wolfhard Schlossers eigentlich schon feststand: Der Hortfund mit der Himmelsscheibe von Nebra stammte vom Mittelberg, unweit der Unstrut.
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Die Erfolge der naturwissenschaftlichen Beweisführung zwangen die Verteidigung zu immer neuen Kursänderungen. Der Prozessbeobachter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung staunte über die Strategiewechsel der Verteidigung, die, wie er schrieb, »verzweifelt-groteske Züge« annahmen. Die Anwälte scheuten nicht einmal davor zurück, die Zurechnungsfähigkeit ihrer eigenen Mandantin infrage zu stellen: Hildegard B. habe aus einer »zwanghaften Affinität« zur Himmelsscheibe heraus gehandelt, was ihre Schuldfähigkeit einschränke. Schon spekulierte die Boulevardpresse, ob Hildegard B. vom »Gollum-Wahn« gepackt sei, der sie der Himmelsscheibe als ihrem »Schatz« nachjagen ließ.
Tatsächlich beantragte die Verteidigung ein psychologisches Gutachten. Andreas Marneros, der Direktor der Uni-Klinik für Psychiatrie in Halle, hatte schon Neonazis, Kindermörder und Kannibalen fürs Gericht begutachtet; nun also analysierte er Hildegard B. Sein Ergebnis: Zwar ließen sich bei ihr gewisse Tendenzen zum Mystizismus und zur Esoterik konstatieren, die seien aber völlig harmlos. Symptome einer psychopathologischen Störung, einer krankhaften Obsession, gebe es keine.
Also schossen sich die Anwälte auf Harald Meller ein. Der Museumsdirektor habe in »James-Bond-Manier« das ganze Vorgehen aus reinem Egoismus erst in die kriminelle Ecke gedrängt. Er habe sich von dem Fund persönliche Vorteile versprochen und sich deshalb in einem »Medienspektakel« als »Retter der Himmelsscheibe« aufgespielt. Auch Meller müsse psychologisch begutachtet werden, es bestünde der Verdacht auf »eine krankhafte, histrionische Persönlichkeitsstörung«, die sich durch egozentrisches, dramatisch-theatralisches Verhalten auszeichne. Doch das Gericht lehnte das mit der Begründung ab, an Mellers geistigem Zustand gebe es »überhaupt keine Zweifel«. Auch sei Mellers Engagement kein Grund, an seinen Aussagen zu zweifeln. »Überhaupt«, bemerkte Richter Torsten Gester süffisant, »was spricht gegen engagierte Beamte?«
Als schließlich der Richter mahnte, angesichts der vielen Beweisanträge – insgesamt sollten es 76 werden – könnte der Verdacht auf Prozessverschleppung aufkommen, stellte die Verteidigung einen Befangenheitsantrag gegen das Gericht selbst. Doch auch damit war ihr kein Erfolg vergönnt. Welche Überschrift die Frankfurter Allgemeine Zeitung für ihren Prozessbericht wählte? »Komödie der Irrungen«.