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Im Labor
Die Archäologie ist die Kunst, das Verborgene ans Tageslicht zu holen. Wir erleben derzeit eine Revolution dieser Wissenschaft. Die längste Zeit ihrer Geschichte mussten sich Archäologen darauf beschränken, die Dinge auszugraben, Ruinen von Tempeln und Palästen, Gräber oder die Schlachtfelder antiker Kriege freizulegen, und sich dann mehr oder minder mit der Oberfläche ihrer Funde begnügen. Dank neuester naturwissenschaftlicher Methoden aber dringt die Archäologie nun auch in die Tiefe ihrer Objekte ein, um ihnen ungeahnte Geheimnisse zu entlocken. Sherlock Holmes käme aus dem Staunen nicht heraus.
Tatsächlich haben wir es mit Methoden zu tun, die jedem kriminaltechnischen Labor zur Ehre gereichten. Umso erstaunlicher, dass man sich für diesen Zweig archäologischer Forschung mittels naturwissenschaftlicher Analysen den so ganz und gar unspektakulären Begriff »Archäometrie« ausdachte. Wir werden nun die Arbeit zweier Forscher vorstellen, die sich mit ihren Teams in die archäometrische Ermittlungsarbeit stürzten, um die Himmelsscheibe auf jede erdenkliche Weise zum Sprechen zu bringen: die des international führenden Archäometallurgen Ernst Pernicka und des Restaurators Christian-Heinrich Wunderlich.
Beide sind von Hause aus Chemiker, ihre Arbeit aber erinnert durchaus an die von Medizinern. Der eine, Pernicka, ist eine Mischung aus Internist und Radiologe, ein Röntgenarzt, der die Himmelsscheibe auf Herz und Nieren prüft und ihr Innerstes erkundet. Der andere, Wunderlich, ist der Leibarzt; ihm liegt zuallererst das Wohlbefinden der Scheibe am Herzen. Doch sorgt er sich auch um ihr Äußeres und die Faktoren, die sie zu einer vorgeschichtlichen Schönheit machten.
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Das Problem mit der Himmelsscheibe ist ihre Einzigartigkeit. Wäre sie allein gefunden worden, lieferte sie selbst keine Anhaltspunkte, um sie datieren zu können. Man hätte sie irgendwann in der Bronze-, vielleicht sogar in der darauffolgenden Eisenzeit verortet. Deshalb war es so wichtig sicherzustellen, dass sie zum Fundort und den angeblich mit ihr gefundenen Schwertern, Beilen und Armspiralen passte. Das war zwar durch die Aussagen der Raubgräber bestätigt, wurde aber von der Verteidigung immer und immer wieder angezweifelt. Schließlich lieferte die C-14-Datierung der Schwerter – in einem der Halbschalengriffe hatte sich ein Stück Birkenrinde erhalten, wo es als Polster gedient zu haben scheint – den einzigen naturwissenschaftlich sicheren zeitlichen Anhalt: um 1600 vor Christus.
Die eigentliche Krux liegt darin, dass für Metalle keine physikalische Datierungsmethode existiert, wie sie für organische Objekte zum Beispiel mit der C-14-, der Radiokarbonmethode vorliegt. Das Alter der Himmelsscheibe ließ sich also naturwissenschaftlich nicht bestimmen. Ernst Pernicka, der erst das Institut für Archäometallurgie der TU Bergakademie Freiberg leitete, später dann das Curt-Engelhorn-Zentrum Archäometrie in Mannheim, unternahm alles, um dieses Manko zu kompensieren.
Zunächst war es ihm noch vor jener Pressekonferenz, in der die Himmelsscheibe zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, gelungen, eine Nachweismethode zu entwickeln, die wenigstens eine Unterscheidung zwischen altem und modernem Metall erlaubte. »Sie beruht darauf«, erklärt Pernicka, »dass die meisten im Altertum gebräuchlichen Metalle wie Kupfer, Blei, Silber oder Zinn unmittelbar nach der Verhüttung aus Erzen schwach radioaktiv sind. Diese Radioaktivität stammt von dem in der Natur vorkommenden Blei-Isotop Pb-210, einem Zerfallsprodukt des Urans. Sie kann noch ungefähr 100 Jahre nach der Verhüttung nachgewiesen werden. Danach sinkt der Wert unter die Nachweisgrenze.« Da das Metall der Himmelsscheibe keine Radioaktivität mehr aufweist, ist damit schon einmal gesichert, dass sie älter als 100 Jahre ist.
Echt muss sie deshalb noch lange nicht sein, schränkt Pernicka ein. »Es kann Altmetall verwendet worden sein, oder man benutzte Metall mit besonders niedriger Ausgangsradioaktivität. Beides ist allerdings nicht sehr wahrscheinlich.« Denn wie sich in den weiteren Analysen zeigte, passt die Himmelsscheibenbronze nur zu gut zu den mitgefundenen Schwertern und Beilen, an deren Echtheit keine Zweifel bestanden. Ein Fälscher hätte also zuerst deren Metall auf seine Besonderheit hin untersuchen müssen, um dann eine passende alte Bronze aufzutreiben. Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen wäre nichts dagegen. Auch war die Pb-210-Methode im Jahr des Nebra-Funds noch gar nicht publiziert – ein Fälscher hätte also gar nicht wissen können, welche Fallstricke hier für ihn lauerten.
Um die Himmelsscheibenbronze zu untersuchen, war im Forschungszentrum Rossendorf mittels eines funkenerosiven Verfahrens ein kleiner Würfel herausgeschnitten worden, dessen Seitenlänge fünf Millimeter betrug (später wurde er wieder eingesetzt). Die Bronze an der Oberfläche taugte nicht für verlässliche Analysen, sie war zu stark korrodiert. Anders die frischen Schnittkanten. Während das Zinn in einer Bronzelegierung meist sehr rein vorhanden ist, enthält altes Kupfer eine Reihe metallurgischer Verunreinigungen. Daraus ergeben sich typische Spurenelementmuster, die mithilfe von Methoden mit monströsen Namen wie Röntgenfluoreszenz- und Neutronenaktivierungsanalyse ermittelt werden können. Der Fingerabdruck in Sachen Spurenelemente war in allen auf dem Mittelberg gefundenen Objekten so ähnlich, dass sie als zusammengehörig anzusehen sind. Das Kupfer aller Teile stammt aus derselben Region, vielleicht sogar aus derselben Lagerstätte. Aus einem Guss, also aus derselben Metallcharge waren sie aber nicht, dazu gab es dann doch zu feine Unterschiede.
Auch der markante Anteil von Arsen (0,2 Prozent) in der Bronze gehört zu den Indizien, die für die historische Authentizität sprechen. Bronze ist heute, allein schon aus Gesundheitsgründen, arsenfrei. Ein Fälscher hätte das hochgiftige Halbmetall erst mal beschaffen müssen – was keine leichte Aufgabe ist, Stichwort »Arsen und Spitzenhäubchen«. So untypisch Arsen für moderne Bronzen ist, so typisch ist es indes für prähistorische. Bevor sich in der Bronzezeit die Zinnbronzen durchsetzten, dominierten Arsenbronzen, also Kupferlegierungen mit Arsen. Ob es sich dabei um gezielt hergestellte Legierungen handelte oder um zufällige Produkte der Verhüttung, ist nur selten zu entscheiden. Kupfer- und arsenhaltige Erze tauchen in der Natur oft miteinander vergesellschaftet auf, insofern weist Kupfer häufig geringe Arsen-Kontaminationen auf.
In einem weiteren Schritt verglich Pernicka die Ergebnisse der Kupferanalyse mit seiner Datenbank bekannter Lagerstätten. Dabei sind vor allem die Isotopenverhältnisse des im Kupfer vorkommenden Bleis entscheidend, da diese während der Verhüttung keine Veränderung erfahren und damit den ursprünglichen Erzlagerstätten entsprechen. Der Abgleich führte zu einem ebenso überraschenden wie passenden Ergebnis. Überraschend, weil das Kupfer der Nebra-Funde nicht aus nahen Erzvorkommen wie dem Harz oder dem Erzgebirge stammte, sondern aus dem weit entfernten Ostalpenraum kam – aller Wahrscheinlichkeit nach vom Mitterberg bei Bischofshofen in Österreich. Passend, weil die Archäologen dort tatsächlich frühbronzezeitlichen Kupferabbau nachweisen konnten. Ein noch in der Bronzezeit ausgebeuteter Stollen drang bis in eine Tiefe von 200 Metern vor. Das Kupfer der Himmelsscheibe war also ein Fernhandelsprodukt.
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Das galt für das Zinn umso mehr. So wichtig es war, um durch die Legierung mit Kupfer Bronze zu fabrizieren, so rar war es auch. Es ist ein altes Rätsel, wieso im Raum der Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens Bronze so früh auftauchte, obwohl es dort praktisch keine Zinnvorkommen gab. Heute geht man davon aus, dass diese ihr Zinn aus Innerasien bezogen haben: Afghanistan und Tadschikistan sind mögliche Kandidaten, immerhin kamen auch die im Zweistromland begehrten Lapislazuli und Karneole von dort. Dagegen wurde immer vermutet, dass das Zinn der mitteleuropäischen Bronzezeit aus Cornwall in England stammt. Dort finden sich nicht nur die frühesten Bronzeobjekte Europas in großer Verbreitung, dort haben die Archäologen auch Hinweise auf bronzezeitlichen Zinnbergbau gefunden. Im Erzgebirge dagegen, wo sich die einzigen auszubeutenden Zinnvorkommen der Region fanden, fehlen bisher jegliche Spuren prähistorischer Nutzung.
Pernickas Team gelang es nun, eine Methode zu entwickeln, um die Herkunft des Zinns zu rekonstruieren. Da Zinn selbst in zehn stabilen Isotopen vorkommt (Isotope eines Elements unterscheiden sich in der Zahl der Neutronen im Atomkern), lässt sich für jedes Zinnvorkommen ein typisches Verhältnismuster der Isotope zueinander angeben. Auch das liefert einen verlässlichen Fingerabdruck. Der Vergleich des Himmelsscheibenzinns mit Zinnminen aus dem Erzgebirge, dem Vogtland und Cornwall zeigte, dass es bestens mit dem Zinn aus Cornwall übereinstimmt. Die Handelsbeziehungen zwischen England und Deutschland sind also mindestens gut 4000 Jahre alt.
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Gold ist schon immer ein besonderes Metall gewesen. Im Fall der Himmelsscheibe erwies sich seine Analyse als ebenso schwierig wie aufschlussreich. Zunächst einmal musste die Scheibe dafür auf Reisen gehen. Auch hier kamen Methoden mit pompösen Namen zum Einsatz. Im Forschungszentrum Rossendorf erfolgte eine protoneninduzierte Röntgenanalyse (PIXE), und am Berliner Elektronensynchrotron (BESSY) wurde mit Röntgenfluoreszenzanalyse angeregt durch Synchrotronstrahlung noch eins draufgesetzt. Die Ergebnisse waren überraschend. Das Gold, aus dem die verschiedenen Himmelsobjekte gefertigt waren, stammte aus unterschiedlichen Quellen.
Zunächst einmal zeigte sich, dass das große, runde Objekt (Sonne oder Mond), die Mondsichel und die Sterne aus demselben Gold bestanden, und zwar aus einem mit deutlich über 20 Prozent bemerkenswert silberhaltigen Gold. Zudem fiel es durch einen relativ hohen Kupfer- und Zinnanteil auf. Allein ein einziger Stern tanzte aus der Reihe, und zwar jener, den man mit der Nummer 23 versehen hatte. Nummer 23 war ausgerechnet der Stern, der am linken Scheibenrand ein Stück nach innen versetzt worden war, weil er sonst dem dort später angebrachten (aber mittlerweile verlorenen) Horizontbogen im Wege gewesen wäre. Tatsächlich wies er dieselbe etwas zinnreichere Goldsignatur auf wie der erhaltene Horizontbogen am rechten Rand der Scheibe. Das bestätigte die These, dass die Horizontbögen zu einem späteren Zeitpunkt auf der Himmelsscheibe befestigt worden waren. Ein Stern musste dazu versetzt werden, vermutlich ist er beim Ablösen so stark beschädigt worden, dass der Goldschmied einen neuen anfertigte.
Nach diesen Beobachtungen überrascht es kaum, dass sich ausgerechnet die Sonnenbarke hinsichtlich des Goldes am deutlichsten vom Rest unterschied – sie besaß lediglich einen Silberanteil von rund 14 Prozent. Weil es sich bei dem Schiff um eine eher mythische denn astronomische Zugabe zu handeln schien, könnte sie zu einer anderen Zeit oder vielleicht auch von einem gänzlich anderen Personenkreis auf die Scheibe gebracht worden sein.
Damit untermauerte die Goldanalyse eindrücklich die Vermutung der Archäologen, dass das Bild der Himmelsscheibe in mehreren, zeitlich deutlich voneinander getrennten Arbeitsgängen verändert worden war. Auch das ist ein schlagendes Argument für die Echtheit der Scheibe. Welcher Fälscher hätte sich all diese Details ausgedacht und die ideellen und materiellen Inhalte aufeinander abgestimmt? Viele Fälschungen sind aufgeflogen, weil die Analyse des Goldes zeigte: Es handelte sich um modernes Industriegold, das mit seinen 99,99 Prozent von einer für prähistorische Zeiten unvorstellbaren Reinheit war.
Und wo kam das Gold der Himmelsscheibe her? Anfangs vermuteten die Forscher Siebenbürgen im heutigen Rumänien, wo es im sogenannten Goldenen Viereck ähnlich silberreiches Gold gab. Aber da sollte, wie wir bald sehen werden, das letzte Wort noch nicht gesprochen sein.
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Der Chemiker und Leiter der Restaurierungswerkstätten des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle Christian-Heinrich Wunderlich ist, als ihr Leibarzt, vorrangig für das Wohlbefinden der Himmelsscheibe verantwortlich und hatte die Säuberung und behutsame Restaurierung geleitet. Auch ihn beschäftigte die Bronze der Himmelsscheibe, dabei stand vor allem der technologische Aspekt im Vordergrund: Was verrät dieses mit 2050 Gramm erstaunlich schwere Bronzewerk über seinen Macher, den Schmied der Himmelsscheibe?
Sie besteht aus einer für die Bronzezeit ungewöhnlich weichen Bronze mit einem Zinngehalt von lediglich 2,6 Prozent – typische Bronzestücke enthalten gut 8 bis 15 Prozent Zinn. Das war eine bewusste Entscheidung, glaubt Wunderlich, denn anders als die meisten kompakten Bronzeobjekte der Zeit war die Himmelsscheibe nicht gegossen, sondern aus einem Bronzefladen kalt geschmiedet worden. Diesen Gusskuchen, er dürfte einen Durchmesser von 15 bis 20 Zentimetern gehabt haben, auf die Endgröße von 32 Zentimetern auszutreiben war mit weicher Bronze viel leichter zu bewerkstelligen. Auf der nicht verzierten Rückseite der Scheibe hat das Aushämmern sichtbare Spuren hinterlassen. Die Dicke der Scheibe nimmt von innen (4,5 Millimeter) nach außen (1,5 Millimeter) hin ab.
Trotz des weichen Metalls war das alles andere als einfache Arbeit. »Bronze zu schmieden erfordert ein hohes Maß an Kunstfertigkeit und Materialkenntnis«, sagt Wunderlich. »Beim Prozess der kalten Umformung wird das Metall zunehmend härter und spröder. Schmiedet man zu lange, reißt das Metall.« Deshalb hat der Schmied die Himmelsscheibe immer wieder zum Glühen gebracht und so die entstandenen Spannungen im Material beseitigt. Erst als sie wieder erkaltet war, griff er erneut zum Hammer. Doch auch so ließen sich Risse an den Rändern der Scheibe nicht völlig vermeiden. Behutsames Überschmieden brachte sie oberflächlich zum Verschwinden.
Die eigentliche technologische Besonderheit der Himmelsscheibe liegt in der Art und Weise, wie der bronzezeitliche Handwerksmeister die goldenen Himmelskörper auf ihr befestigte. Im Mitteleuropa der frühen Bronzezeit waren solche Techniken zuvor unbekannt. Die hauchdünnen Goldbleche – sie sind nur 0,2 bis 0,4 Millimeter stark – sind ja nicht auf die Bronzeunterlage geklebt oder gelötet worden. Sie liegen einfach auf. Halt geben ihnen die Ränder, die in das Scheibenmaterial eingelassen sind. »Damit sind zwei verschiedene Verfahren kombiniert worden, mit denen Metallgegenstände in mehreren Farben gestaltet werden konnten«, erklärt Wunderlich. Das war das Plattieren, also das Überziehen von Metallobjekten mit Goldblechen. Und dann kam das Tauschieren dazu: das Einlegen von Metallen in andere Metalle. Auch diese Einzeltechniken waren aus der frühen Bronzezeit in Mitteleuropa bisher nicht bekannt.
9 Hält eine halbe Ewigkeit: Beim Tauschieren wird das Goldblech in die dafür geschaffene Rinne geschoben und durch das Zurückhämmern der Bronze befestigt.
Die Technik des Tauschierens wurde in Ägypten praktiziert, auch in Mykene war sie hoch entwickelt. In den Schachtgräbern fanden die Ausgräber Schwerter mit perfekt gearbeiteten naturalistischen Darstellungen. Ein Prachtdolch zeigt Krieger, die, mit Speer und Schild bewaffnet, auf Löwenjagd gehen. Das ist so realistisch, dass man glaubt, das Löwengebrüll zu hören. »Vermutlich hat der Meister der Himmelsscheibe von Nebra solche Arbeiten gekannt oder zumindest genaue Beschreibungen von ihnen erhalten«, sagt Wunderlich. Das fantastische Niveau der mykenischen Vorbilder erreichte der Scheibenschmied jedoch nicht.
Um die Goldbleche zu befestigen, schlug der Schmied zunächst, den Umrissen der Motive folgend, stark unterschnittene Rillen in die Bronze. Dafür benutzte er einen Hartbronzemeißel, der – wie Experimente zeigten – einen Zinngehalt zwischen 12 und 16 Prozent besaß und während der Arbeit immer wieder nachgeschliffen werden musste. In diese Rillen wurden die zurechtgeschnittenen Goldbleche eingepasst; anschließend trieb der Schmied die Bronzewülste, die durch das Aufmeißeln der Rillen entstanden waren, über die Ränder der Goldbleche zurück. Damit waren die Goldobjekte fixiert. Eine sichere Befestigungsmethode. Schließlich blieben so gut wie alle Goldobjekte über dreieinhalb Jahrtausende an ihrem Platz.
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Die Restauratoren konnten dem Schmied bei der Arbeit über die Schulter schauen. »Das war keine Routinearbeit. Wir haben typische Anfängerfehler gefunden«, sagt Wunderlich. Typisch? »Ja, wir haben die Scheibe selbst nachgeschmiedet und mit Unterstützung von Goldschmiedestudenten der Kunsthochschule Burg Giebichenstein Sonne, Mond und Sterne auf ihr befestigt.« Pro Stern brauchte es etwa eine Stunde Arbeit. »Dabei sind uns die gleichen Fehler unterlaufen.«
Gleich zwei Sterne zeigen solche anfängerhaften Unregelmäßigkeiten: Beim ersten Aufmeißeln der Befestigungsrillen wird Bronze zu einem Wall nach außen geschoben. Wird der Wall aber zu weit getrieben, lässt er sich nicht mehr glatt zurück über das eingelegte Goldblech treiben. Ein Wulst entsteht. Das ist bei Stern Nr. 3 der Fall, der zuoberst der Scheibe leuchtet und etwas kleiner und unregelmäßiger gearbeitet ist als seine Kollegen. »Da hat es dem Goldschmied noch an Übung gefehlt, deshalb glauben wir, dass dies der erste Stern auf der Himmelsscheibe war.« Und da die Sterne nach unten hin zunehmend besser gelungen sind, liegt die Vermutung nahe, der bronzezeitliche Handwerker habe sich von oben nach unten durch den Himmel gearbeitet.
10 Anfängerfehler: Stern Nr. 3 (oben links) zeigt als zuerst eingesetzter Stern einen Bronzewulst, ebenso der versetzte Stern Nr. 23 (Mitte). Die Fiederung der Sonnenbarke weicht Stern Nr. 22 aus (unten).
Der zweite Stern mit solch einem Wulst ist der Stern 23. Der tanzte ja schon deshalb aus der Reihe, weil es sich bei ihm um jenen etwas zinnreicheren Goldstern handelte, der nach dem Anbringen des linken Horizontbogens neu angefertigt wurde. Detektiven gleich rekonstruierten die Restauratoren das Geschehen: Der ursprüngliche Stern ist durch das Anbringen der Tauschierrinne für den Horizontbogen beschädigt worden. Entweder hat er sich dann gelöst, oder er wurde entfernt, weil er zu nahe am neuen Horizont saß. Ein winziger Rest des abgetrennten ersten Goldsterns ist bis heute in der Tauschierrille zu erkennen. Wegen des Defekts musste also ein neuer Stern her. Der wurde aus demselben Gold gefertigt wie die Horizontbögen, die im gleichen Arbeitsgang appliziert wurden. Und wir haben es mit einem neuen Handwerker zu tun. »Der machte das auch zum ersten Mal und beging wieder den gleichen Anfängerfehler«, sagt Wunderlich und lacht. Zunächst nahm er für den neuen Tauschierkanal den abgelösten Stern als Schablone, was dazu führte, dass er den Ersatzstern größer als die anderen machen musste. Und dann hämmerte auch er beim Anlegen des Kanals zu viel Material auf, sodass beim Zurücktreiben der Bronze wieder der markante Wulst entstand. »Dem ersten Handwerker wäre dieser Fehler kein zweites Mal passiert.«
Weitere Indizien sprechen dafür, dass hier ein neuer, in solcher Präzisionsarbeit ungeübter Schmied am Werk war. Die Rillen, die für die Befestigung der Horizontbögen eingeschlagen wurden, sind deutlich schlechter gearbeitet als jene der großen Himmelsobjekte. »Wenn dann die Goldbleche weniger sorgsam eingearbeitet wurden, ist es kein Wunder, dass einer der beiden Horizontbögen abgefallen ist«, sagt Wunderlich. Er war schlicht nicht gut genug befestigt. Wobei die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, dass er bei der Deponierung der Scheibe in der Erde des Mittelbergs bewusst abgerissen wurde, um sie rituell für den irdischen Gebrauch zu entwerten.
Für den rechten Horizontbogen hat der Schmied zwei Sterne ganz entfernt. Ihre Umrisse zeichnen sich noch unter dem Gold ab. Dieser Handwerker könnte es auch gewesen sein, der keine Hemmungen hatte, die Schärfe seines Werkzeugs an der Himmelsscheibe selbst auszuprobieren. Auf ihrer Rückseite findet sich eine stark unterschnittene Kerbe von gut fünf Zentimetern Länge: eine Test-Tauschiergrube. Der neue Schmied wusste schlicht nicht, wie weich die Scheibenbronze war und wie hart sein Meißel sein musste. Also probierte er es aus. Auch das ist ein deutlicher Beleg dafür, dass zwischen dem Anfertigen der Himmelsscheibe und ihrer Umarbeitung einiges an Zeit vergangen sein musste.
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Die von den Archäologen und Astronomen vermutete Biografie der Scheibe, die aus mehreren Veränderungen besteht, lässt sich also bis ins kleinste Detail am Material belegen. Das gilt auch für die dritte Umarbeitung: die Anbringung der Sonnenbarke am unteren Scheibenrand. Auch die ist weniger präzise ausgeführt als die Objekte der ersten Phase. Und sie unterscheidet sich nicht allein wegen der anderen Goldsorte von der zweiten Phase mit den Horizontbögen.
Während der zweite Schmied keine Hemmungen besaß, zwei Sterne zu entfernen und einen zu versetzen, scheute sein Nachfolger vor solch radikalen Schritten zurück: Er quetschte das Schiff zwischen Rand und Stern Nr. 22 hinein. Und als er das Schiff mit seiner Fiederung versah, also jener feinen, punzierten Strichelung, die an Ruder erinnert, geriet diese Arbeit nicht nur deutlich ungelenker als jene, die den Vollmond (oder die Sonne) mit einem feinen Strahlenkranz umgibt. Nein, die Fiederung des Schiffs weicht dem nahen Stern aus. »Schmied Numero drei kümmert sich nicht mehr um die ursprüngliche Abstandsregel, dass die Sterne den wesentlichen Körpern nicht zu nahe kommen dürfen«, erklärt Wunderlich. Diese Regel sorgte ja für die Harmonie der ersten Version der Himmelsscheibe. »Jetzt musste er zusehen, wie er das Schiff im bestehenden Bildprogramm unterbringt.«
Der Blick des Restaurators ist ein anderer als der des Archäometallurgen. Wunderlich vermutet einen optischen Grund dafür, dass die Sonnenbarke aus anders geartetem Gold besteht. Sonne, Mond und Sterne zeichneten sich bekanntlich durch einen Silberanteil von über 20 Prozent aus, das galt auch für die Horizontbögen (die aber etwas mehr Zinn enthielten). Das Schiff dagegen war mit 14 Prozent deutlich ärmer an Silber. Warum? Wegen der Farbe! Denn die wird vom Silbergehalt bestimmt. Während Feingold prächtig orangegelb leuchtet, werden Goldlegierungen mit steigendem Silbergehalt blasser und leicht grünstichig. Aber nicht nur das. Silber läuft an, es korrodiert und wird, wie man das von Silberbesteck kennt, goldener. Das passiert auch mit silberhaltigem Gold.
Sollte also der Schmied, der die Himmelsbarke anbrachte, zunächst zu jenem Gold gegriffen haben, aus dem das ursprüngliche Bildprogramm bestand, wird er schnell festgestellt haben: Das passt farblich nicht! Es ist zu hell und zu blass. Denn das silberreiche Gold der Himmelsscheibe war in den Jahren angelaufen, goldener geworden. Also suchte sich der Schmied aus seinem Vorrat ein Gold heraus, das farblich harmonierte – und das war jenes silberarme, also goldenere Gold. Leider lässt sich aus den Farbunterschieden, die den Patinierungsgrad des ursprünglichen Goldes widerspiegeln, nicht ermitteln, wie lange das erste Gold der Gestirne schon auf der Scheibe angebracht war. Der Korrosionsprozess hängt von zu vielen verschiedenen Umweltfaktoren ab.
Für Wunderlich war diese Beobachtung ein Beleg dafür, wie sensibel die bronzezeitlichen Schmiede in Sachen Farben und Oberflächen zu Werke gingen. Die Ästhetik lag ihnen sehr am Herzen. Das wirft die Frage nach dem ursprünglichen Aussehen der Himmelsscheibe auf. Das heutige Erscheinungsbild ist stark durch die intensiv malachitgrüne Farbe der korrodierten Bronze geprägt. So sah die Scheibe anfänglich nicht aus. Glänzte ihre Oberfläche metallisch in Bronze und Gold? Vermutlich nicht. Die goldenen Sterne hätten im Bronzemeer nur schwach gefunkelt. Der Kontrast wäre gerade im polierten Zustand viel zu gering gewesen. Auch läuft Bronze unbehandelt unregelmäßig und fleckig an. Die Scheibe wäre keine Schönheit gewesen.
»Sicher wird der Schmied einiges unternommen haben, die optische Attraktivität zu erhöhen«, sagt Wunderlich. »Wir haben das experimentell erprobt.« Da war der Chemiker ganz in seinem Element. Gemeinsam mit dem Archäometallurgen Daniel Berger probierte er Chemikalien aus, die bereits in der Bronzezeit bekannt waren: Pottasche, Soda, Ammoniak. Besonders letzterem schenkte man im Museumslabor Aufmerksamkeit. »Als wesentlicher Bestandteil abgestandenen Urins ist Ammoniak von alters her bekannt – allein schon wegen des stechenden Geruchs.« Urin wurde seit je zum Färben von Textilien oder zum Gerben bei der Lederproduktion eingesetzt. Und zumindest für das Mittelalter belegen Schriftquellen, dass Urin auch Einsatz in der Metallurgie fand.
Die Versuche zeigten: Zinnarme Bronze, die mit einer Lösung aus gegorenem Urin und Kupferverbindungen behandelt wird, bildet schwarz-blaue bis schwarz-violette Überzüge aus. War das Metall vorher sorgfältig poliert, erhielt die künstliche Patina den größten Glanz. Das Beste: Die Goldeinlagen blieben davon unbeeinflusst. Auf einfache Weise war ein attraktiver Effekt erzeugbar. Auch wenn es sich nicht mit letzter Sicherheit beweisen lässt: Auf der Urversion der Scheibe funkelten die Gestirne golden im Nachtblau des Himmels! »Das muss umwerfend ausgesehen haben«, sagt der Chemiker. »Praktisch war es auch: Die Scheibe erhielt dadurch gleich einen Korrosionsschutz.«
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Einlegearbeiten erhielten auch die Schwerter aus dem Fund von Nebra. Zwar nicht aus Gold, dafür aus Kupfer. Ihre Herstellung weicht trotzdem von der der Himmelsscheibe ab. Zunächst sind die Schwerter gegossen und nicht aus einem Bronzerohling getrieben. Die Computertomografie zeigt zahlreiche Hohlräume im Inneren, die durch das leichte Überschmieden der Klingen nicht verdichtet wurden. Die Schwerter waren also vermutlich eher zur Schau gedacht als zum Kampf. Mit einem Zinnanteil von zehn Prozent sind sie dennoch deutlich härter als die Himmelsscheibe.
Die filigranen, etwa zwei Millimeter breiten und einen Millimeter tiefen Tauschierkanäle, in welche die Kupferdrähte eingelegt wurden, sind aller Wahrscheinlichkeit nach bereits in den Wachsmodellen angelegt gewesen, mit denen die Tonformen für den Bronzeguss gefertigt wurden. Zumindest scheiterten Wunderlich und sein Team beim Versuch, ähnlich feine Rillen in Bronze einzuarbeiten. Um den eingelegten Kupferstreifen genügend Halt zu verleihen, rauten die Handwerker den Kanalboden an, in dem sich das weiche Kupfer verkeilte. Anschließend wurden die Unebenheiten an der Oberfläche geschliffen und alles poliert.
Eingefasst werden die tauschierten Streifen auf den Klingen beider Schwerter von Bündeln parallel verlaufender, sorgsam ziselierter Linien; die Ansatzstellen des benutzten Werkzeugs sind fast unsichtbar. Auch bei den Schwertern liegt die Vermutung nahe, dass der Schmied durch künstliche Patinierung die eingelegten Kupferdrähte schwarz gefärbt hatte. Ansonsten würden sich die Kupferdrähte so wenig von der goldenen Bronze abheben, dass sich die aufwendige Einlegearbeit gar nicht gelohnt hätte. Immerhin windet sich auf einer der Klingen eine dreiköpfige Schlange. Die durfte man in keinem Fall übersehen.
Bei den Schwertern, die keinerlei Gebrauchsspuren aufwiesen, handelt es sich um außergewöhnliche Beispiele bronzezeitlicher Schmiedekunst. Auch die ebenfalls ziselierten Goldmanschetten zwischen Griff und Knauf faszinieren, sie gleichen denen dreier älterer Prunkdolche aus Schottland. Ansonsten weisen die stilistischen Ähnlichkeiten in eine ganz andere Himmelsrichtung, nämlich nach Osten, zu den Schwertfunden aus dem ungarischen Apa. Das ist keine Überraschung, sagt Wunderlich, schon lange ist der Karpatenraum für seine technologischen Kompetenzen bekannt. Das lag nicht zuletzt daran, dass man dort Kontakte in den östlichen Mittelmeerraum pflegte – zu den großen Kulturen der Zeit, Mykene und dem minoischen Kreta. »Es ist davon auszugehen, dass auf diesem Weg technologisches und handwerkliches Wissen bis in den Norden weitergegeben wurden.«
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Wir sagten es bereits: Christian-Heinrich Wunderlich ist der Leibarzt der Himmelsscheibe. Schon wenige Wochen nach ihrer Sicherstellung im Jahr 2002 hatte er mit der Restaurierung begonnen. Nachdem der Zustand bei der Auffindung akribisch dokumentiert worden war, machten sich die Restauratoren daran, die Scheibe von den Bodenanhaftungen zu befreien. Wochen dauerte es, bis die mit dem korrodierten Metall zementierten Bodenreste entfernt waren. Eine restauratorische Herausforderung erster Güte stellten die Goldoberflächen dar. »Sie waren mit grünlichen, glasharten Korrosionsschichten aus Malachit überzogen«, sagt Wunderlich. »Hätten wir sie mechanisch entfernt, wäre das darunterliegende Gold beschädigt worden.« Also entschied man sich für Chemie und entwickelte eine Paste, die behutsam auf das Gold aufgetragen wurde, um die Korrosionsspuren zu eliminieren.
Als Leibarzt war Wunderlich aber nicht nur für die Kosmetik, sondern auch für die Wiederherstellung der physischen Integrität der Himmelsscheibe verantwortlich. So wurden der kleine, für die Metallanalysen herausgeschnittene Bronzeblock wiedereingesetzt und die Fugen mit Wachs verschlossen; Narben blieben keine zurück. Verarztet werden musste auch die größte Wunde der Himmelsscheibe. Die Hacke der Raubgräber hatte ein mehr als daumenbreites Stück Gold aus dem großen Goldkreis herausgerissen. Wie eine Ziehharmonika war es zusammengeknittert und in zwei Teile gerissen. Keine Chance, es wieder an seinen Platz zu bringen. Heute ruht es in einer Archivschachtel tief im Museumskeller hinter dicken Panzertüren. Stattdessen fertigte Wunderlich ein neues Goldblech an und befestigte es mit mikrokristallinem Paraffin. »Das ist reversibel. Wir können es jederzeit wieder herausnehmen.« So strahlt der Vollmond – oder ist es doch die Sonne? – in seiner ganzen Fülle im Dunkel des Ausstellungsraums. Deutlich aber zeigt eine fein gezackte Narbe jedem Museumsbesucher, wo die Hacke der Raubgräber die Himmelsscheibe traf.
Geschichte wiederholt sich. Als die Restauratoren den Goldmond reparierten, sahen sie sich mit demselben Problem konfrontiert wie die Schmiede der Bronzezeit: Das neue Gold passte nicht zum alten. Diesmal lag es aber nicht an der Farbe, darauf war geachtet worden. Nein, der Hehler Achim S. hatte bei der Reinigung der Himmelsscheibe in der heimischen Badewanne in seiner Verzweiflung zu Ako Pads gegriffen und damit das Gold verschrammt. »Das neue Goldstück mit seiner glänzenden Glätte passte nicht dazu. Das sah aus wie die Faust aufs Auge«, erinnert sich Wunderlich. Und was war die Lösung? Wunderlich lacht: »Was sollten wir tun? Schweren Herzens haben auch wir zu Ako Pads gegriffen.«
Seither muss sich der Restaurator wenig um seinen Patienten sorgen. Die Himmelsscheibe ruht sicher hinter Panzerglas in einer staubdichten Vitrine. Die schwefelfreie Atmosphäre verhindert ein Anlaufen. »Die Aussichten der Himmelsscheibe«, wagt sich ihr Leibarzt an eine Diagnose, »stehen glänzend, auch die nächsten Jahrtausende in bester Verfassung zu überleben.«