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Kalenderkünste

Wenn der Hamburger Astronom Rahlf Hansen das Rätsel der Sternenbotschaft gelöst haben sollte, hat er damit nur ein noch viel größeres Rätsel in die Welt gesetzt. Eine Schaltregel, die das Mond- und das Sonnenjahr miteinander verknüpfte, die aber erst gut 1000 Jahre später in einer Hochkultur beschrieben wurde – was sollte die hier verloren haben? Die Forschung geht traditionell von agrarischen Stammesgesellschaften für die frühe Bronzezeit in Mitteleuropa aus. Welcher Bauer, welcher Häuptling sollte dieses komplexe Wissen in einem genialen Bild aus Gold und Bronze codiert haben, das in seiner Eleganz fast wie ein prähistorischer Vorgänger von Einsteins e = mc2 anmutet?

Eine Bauerngesellschaft verfügte weder über die Expertise noch die nötigen Mittel, die es für eine solche Wissensproduktion brauchte. Vor allem hatte sie gar keinen Bedarf an einem ausgeklügelten Lunisolarkalender, der auf einer geradezu gesetzmäßigen Regulierung beruhte. Der Astronom Wolfhard Schlosser trägt das Problem in eher verklausulierter Form vor: Rahlf Hansens These setze »unausgesprochen voraus, dass dem bronzezeitlichen Menschen in Mitteldeutschland am Ausgleich von Sonnen- und Mondjahr gelegen war, dass er deren Längen und Startzeitpunkte also bereits gut gekannt haben muss«. Fragt man den Astronomieprofessor ganz konkret: »Herr Schlosser, brauchten die Bauern eine solche Schaltregel?«, entgegnet er: »Nein, sie brauchten keine Schaltregel. Aufgrund des Sonnenlaufs und der Sternenauf- und -untergänge konnten die Bauern seit alters sagen: Jetzt ist es sinnvoll zu säen.«

Die Bauern brachten das Mondjahr, wenn sie es denn benutzten, einfach nach Sicht und Bedarf mit dem Sonnenjahr in Einklang. Die ethnografischen Befunde sprechen eine deutliche Sprache: »In den noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersuchten oralen Gesellschaften Afrikas, Asiens oder Ozeaniens erfolgt die kalendarische Orientierung an Folgen von Phänomenen aus den Bereichen des Wetters und der Wachstumsphasen von Pflanzen, vor allem Kulturpflanzen«, schreibt der Historiker Jörg Rüpke in seiner Kulturgeschichte des Kalenders Zeit und Fest. »Der Bezug auf die eigene Lebensgrundlage und landwirtschaftliche Produktion ist überall deutlich zu erkennen, im Fall von Fischergesellschaften kann sich die Jahresgliederung auch an der jährlichen Wanderung und Ankunft bestimmter Fische orientieren.« Es gehe nie darum, präzise Kalender zu entwickeln, sondern darum, die Abfolge wirtschaftlicher und sozialer Aktivitäten wie Feste benennen zu können und sie in Einklang mit dem Sonnenjahr zu bringen. »Dabei ist es viel wichtiger, die richtige Wetterperiode als das richtige abstrakte Datum zu treffen.« Informelle Regelungen kennt man aus vielen Kulturen. Die Mursi etwa, ein nomadisches Volk von Hackbauern und Rinderzüchtern im Südwesten Äthiopiens, machen das heute noch so. Oft wird nach langer Diskussion einfach darüber abgestimmt, ob nun ein Zusatzmonat einzuschieben sei oder nicht.

Wenn also das elaborierte Wissen der Himmelsscheibe nicht recht in die hiesige bronzezeitliche Welt zu passen scheint, bleiben uns zwei Optionen. Erstens: Die Scheibe ist gar nicht von hier. Dagegen aber sprechen die Herkunft ihrer Materialien und die von der Ausrichtung ins heutige Mitteldeutschland passenden Horizontbögen. Option zwei macht die Himmelsscheibe zur Provokation: Dann ist das Verständnis, das wir von unserer eigenen Vergangenheit haben, verkehrt! Dann können wir es hier nicht mit einer simplen Bauerngesellschaft zu tun haben. Und damit wären wir bei der nächsten Rätselfrage: mit was aber dann?

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Um zu beurteilen, welcher gesellschaftlichen Voraussetzungen es bedurfte, um solches Wissen zu kultivieren, wie es die Plejadenregel dokumentiert, werden wir uns nun dort umschauen, wo dieses Wissen tatsächlich existierte. Wie hielten es die Kulturen Mesopotamiens mit dem Kalender? Und wie mit den Schaltregeln?

Seit dem vierten vorchristlichen Jahrtausend gab es dort erste Staaten, die Reiche der Akkader, Babylonier, Assyrer wechselten sich ab. Die Erfindung der Keilschrift, die zunächst reine Verwaltungsfunktionen erfüllte, trug ihren Teil zur kulturellen Blüte bei. Bereits im dritten vorchristlichen Jahrtausend hatte sich dort die Praxis etabliert, den zwölf Monaten des Mondjahres gelegentlich einen Schaltmonat hinzuzufügen.

Für den Mondkalender war der Mond unter ständiger Beobachtung zu halten. Ein Monat begann, wenn im Westen kurz nach Sonnenuntergang nach einem Neumond wieder die neue Sichel am Himmel erschien. Um herauszufinden, ob der aktuelle Monat 29 oder 30 Tage währte, musste am Ende des Zyklus der Himmel genau inspiziert werden, um das Auftauchen der neuen Sichel zu registrieren. Erst dann wusste man definitiv, wie viele Tage der zurückliegende Monat gedauert hatte.

Durch das konstante Ausschauhalten nach dem Neulicht registrierten die Beobachter jede Auffälligkeit in der Nähe des Mondes. Deshalb wird ihnen auch sein Wechselspiel mit den Plejaden nicht unbemerkt geblieben sein, wie es sich im ersten Jahrtausend vor Christus im MUL.APIN-Konvolut astronomischer Erfahrungssätze niedergeschlagen hatte und das Rahlf Hansen auf der Himmelsscheibe identifizierte.

Entscheidend für uns ist aber: Trotz des vorhandenen Wissens wendete man in Mesopotamien keine festen Schaltregeln an. Für das frühe 2. Jahrtausend vor Christus – die Zeit der Himmelsscheibe – liegen Hinweise auf sehr unregelmäßige Schaltungen vor. Drei, ja manchmal vier Jahre hintereinander musste jedes Jahr ein zusätzlicher Monat eingeschaltet werden, um dafür zu sorgen, dass der Frühlingsmonat auch wirklich im Frühling stattfand. Mond- und Sonnenjahr gerieten mitunter gewaltig aus dem Tritt.

Ab der Mitte des 8. vorchristlichen Jahrhunderts haben wir eine annähernd vollständige Übersicht über alle Schaltmonate. Dabei zeigt sich, dass mit den Jahrhunderten das Schalten immer regelhafter geschieht und sich erst 8-, später 19-Jahres-Zyklen herauskristallisierten. Seit der Herrschaft des Perserkönigs Xerxes (519465 vor Christus) hatte sich dann der Letztere endgültig durchgesetzt. Er orientierte sich nicht an den Plejaden, sondern operierte mit sieben Schaltmonaten, die auf 19 Jahre verteilt wurden: 235 Mondmonate entsprechen bis auf einen Fehler von zwei Stunden und fünf Minuten 19 Sonnenjahren. Heute ist dieser Zyklus nach dem Athener Astronomen Meton benannt (auch wenn der ihn gar nicht erfunden hat).

Halten wir kurz inne: Erst Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus sah man an Euphrat und Tigris die Notwendigkeit, eine feste Schaltregel zu installieren. Da ruhte die Himmelsscheibe schon 1000 Jahr in der Erde des Mittelberges. So eine Schaltregel scheint also keine Killerapplikation gewesen zu sein! Obwohl sie längst bekannt war, verzichtete selbst eine der entwickeltsten Hochkulturen der Welt auf ihren Einsatz. Warum?

Einmal, weil auch für die Bauern der Hochkulturen Ähnliches galt, wie wir es bereits für ihre europäischen Kollegen beschrieben haben. Der Wissenschaftshistoriker Bartel Leendert van der Waerden hat es so formuliert: »Ebenso wie in Ägypten das landwirtschaftliche Jahr mit dem Morgenerst des Sirius anfing und ebenso wie Hesiodos sein Bauernjahr durch Sternphasen und Sonnenwenden gliederte, so wird auch in Babylonien der Bauer auf gewisse jährlich wiederkehrende Himmelserscheinungen geachtet haben, die ihm z. B. den Anfang der Regenzeit im Voraus ankündigten.«

Der planwirtschaftlich arbeitenden Verwaltung dagegen war die Unberechenbarkeit eines unregelmäßig geschalteten Jahres ein Dorn im Auge. Das galt schon für den unvorhersehbaren Wechsel der Monatslänge, die mal 29, mal 30 Tage dauerte. Der Assyriologe Stefan Maul erklärt, wie man sich behalf: »Rechnungsführer, die für die langfristige Planung von Arbeitseinsätzen, für Lohnzahlungen, Rationenzuteilungen und Geldgeschäfte zuständig waren, hatten schon im dritten vorchristlichen Jahrtausend ein für administrative Belange geltendes Verwaltungsjahr durchgesetzt, das ganz unabhängig vom Lauf des Mondes aus zwölf Monaten mit jeweils 30 Tagen bestand.« Solch ein 360-Tage-Jahr ist der Traum eines jeden Bürokraten. Kein Wunder, dass hier eine der dauerhaftesten Traditionen der Weltgeschichte begründet wurde. Im Bankwesen gilt noch heute: Ein Monat hat 30, ein Jahr 360 Tage.

Dieser Verwaltungskalender zeigt, dass es staatlicherseits ein ausgeprägtes Bedürfnis nach kalendarischer Regelmäßigkeit gab. Warum also verweigerten sich Assyrer und Babylonier trotzdem einer einheitlichen Schaltregel? Einen Extramonat einzuschieben ist eben alles andere als eine rein astronomische Angelegenheit. Das hat Konsequenzen für alle Bereiche des Alltags. Feste mussten verschoben, Dienstzeiten an Tempeln verlängert werden, Steuern und Tribute drohten einen Monat später einzutreffen. Welch eine sensible Angelegenheit das war, zeigt eine Anweisung des babylonischen Königs Hammurapi aus dem 18. Jahrhundert vor Christus. Er ordnete einen Schaltmonat an, verfügte aber zugleich, die Tribute dafür einen Monat früher abzuliefern.

Die Herrscher waren es, sagt der britische Astronomiehistoriker John Steele, die sich sperrten, die Macht über den Kalender in die Hände der Experten zu legen. Sie wollten weiterhin je nach Belieben einen Schaltmonat anordnen können oder eben nicht – damit die Gelder flossen, wenn sie dieser bedurften. Erst als sich die orientalischen Reiche zu Imperien wie dem der Perser auswuchsen und dazu immer größere Bürokratieapparate entstanden, sahen die Könige ein, dass es die Effektivität des Staatsbetriebs steigerte, wenn man sich auf einen sauber prognostizierbaren Jahresverlauf verlassen konnte, der nicht durcheinandergewirbelt wurde, nur weil der Monarch ganz dringend auf das Eintreffen der Tribute angewiesen war. So etablierte sich im Lauf des ersten Jahrtausends vor Christus zur Freude der Händler und Bürokraten, der Priester und Diplomaten ein regelmäßiger Schaltzyklus. Trotzdem blieb es immer das Vorrecht des Königs, offiziell die Einfügung eines Schaltmonats zu verfügen. Der Herrscher beugte sich also nicht den Experten; die Größe und Komplexität des Reichs waren es, die diesen Rationalisierungsschub nötig machten und dazu führten, dass der Herrscher seine Selbstherrlichkeit ein Stück weit aufgab.

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Eine allgemeine Lehre daraus zu ziehen ist nicht leicht. Zuallererst lässt sich mit Clive Ruggles, dem Herausgeber des monumentalen Handbook of Archaeoastronomy and Ethnoastronomy, feststellen, dass das Wissen um Schaltregeln allein dort auftauchen kann, wo die dafür notwendigen astronomischen Beobachtungen nicht nur dauerhaft und systematisch durchgeführt wurden, sondern auch ein stabiles Darstellungssystem existierte: »Das macht eine soziale Hierarchie nötig, die spezialisierte Astronomen unterhalten kann, die aber auch stabil genug ist, dass deren Aufzeichnungen bewahrt und über Generationen hinweg gelesen werden können.« Ob es dafür unbedingt der Schrift bedarf, hält Ruggles für »diskutabel«.

Dann ist zu konstatieren, dass – so zeigt es das Beispiel Mesopotamien – die Existenz einer fortschrittlichen Idee, wie einer astronomisch basierten Schaltregel, längst nicht heißt, dass sie auch angewendet wird. Sacha Stern weist in Calendars in Antiquity darauf hin, dass die Evolution des Kalenderwesens wenig mit dem zu tun hat, was man wissenschaftlichen Fortschritt nennt, und untermauert das mit dem Verweis, dass selbst griechische Städte wie Athen, in denen astronomisches Wissen leicht verfügbar war, »stur ihrem flexiblen, aber unvorhersehbaren Mondkalender treu blieben bis an das Ende der Antike«.

Ohnehin herrschte ausgerechnet im gerne als Geburtsstätte der Wissenschaft gefeierten Griechenland in Sachen Kalender ein »Tohuwabohu«. Das sagt der Historiker Alexander Demandt. »Die Zahl der griechischen Kalender dürfte dreistellig gewesen sein, näher bekannt sind 77.« Dabei wäre ein gemeinsamer Kalender durchaus wünschenswert gewesen, um etwa die Termine der panhellenischen Spiele bekannt zu geben. »In Olympia fanden sie im Hochsommer statt und endeten unter einem Vollmond«, sagt Demandt. »Welcher das sein würde, mussten die Festboten verkünden, die zuvor in alle Welt verschickt wurden.«

Vernünftig zu sein reicht allein also nicht. Es muss sich lohnen! Auch Sacha Stern konstatiert, es sei naiv, Kalendergeschichte als rein mathematisch-astronomische Frage zu betreiben. Hier geht es um Sozialgeschichte. Kalender sind eine Frage der Macht. Es geht darum, wer das Regime über die Zeit innehat.

Was bedeutet das alles für die Himmelsscheibe? Allein der Umstand, dass sich in Mitteldeutschland vor über 3600 Jahren eine verlässliche Schaltregel findet, impliziert, dass wir es hier nicht einfach nur mit einer lockeren, von Häuptlingen angeführten Bauerngesellschaft zu tun haben können. Eine solche hätte weder einen Bedarf an, noch überhaupt ein Bewusstsein für solch komplexes astronomisches Wissen besessen; ganz zu schweigen von den fehlenden Möglichkeiten, es zu gewinnen. Es müssen also gesellschaftliche Strukturen vorhanden gewesen sein, die eine rationale Verwaltung nötig machten. Es muss, in welcher Form auch immer, Institutionen und Experten gegeben haben. Sie erst führten dazu, dass der erste Schöpfer der Himmelsscheibe einen Nutzen der Plejadenregel gesehen haben könnte, der es wert war, sie in Stein zu meißeln, Pardon, in Bronze zu schmieden.

Verwaltung und Experten verweisen aber auf die Existenz eines Staatswesens. Vor gut 4000 Jahren mitten in Europa? Ein Ding der Unmöglichkeit, sagen die Wissenschaftler. Sieht man vom römischen Imperium ab, gab es bis zum Mittelalter nördlich der Alpen dergleichen nicht. Das ist die Lehrmeinung. Muss sie revidiert werden?

Nun haben wir aber auch beobachtet: Das vorhandene Kalenderwissen wird in den antiken Kulturen gar nicht konsequent angewendet. Der Verwaltung erscheint es zwar nützlich, aber im politischen Alltag dient es nicht den Interessen der Herrscher, es schränkt deren Macht ein. Erst wenn ihre Reiche so groß werden, dass sie nicht mehr ohne einen nach rationalen Prinzipien organisierten Staatsapparat auskommen, ändert sich das. Was also bedeutet das für uns? Sind wir auf der falschen Fährte?

Vielleicht aber sind wir auch nur blind. Vielleicht nehmen wir mit unseren modernen Scheuklappen nur einen Teil der historischen Wirklichkeit wahr. Kalender sind für uns so selbstverständlich, dass damit bereits alles erklärt zu sein scheint. Wir sehen, dass die Plejadenregel dazu taugt, Mond- und Sonnenjahr zu synchronisieren, und setzen deshalb einfach voraus, dass sie auch kalendarisch angewendet, ja, dass sie allein aus kalendarischen Bedürfnissen heraus gewonnen wurde. Damit haben wir aber den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht. Wir reduzieren die Himmelsscheibe auf einen einzigen Nutzen und erklären diesen dann zum Grund, warum sie überhaupt geschaffen wurde. Da aber vieles dafür spricht, dass die Schaltregel gar nicht genutzt wurde, erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass wir einen entscheidenden Punkt bisher übersehen haben. Machen wir nun also den ersten Schritt, dafür müssen wir der Himmelsscheibe ihren Zauber zurückgeben.