16
Die zwei Hügel

Es ist schon kurios, dass die wohl bedeutendste Kultur der mitteleuropäischen Vorzeit, die zugleich am Anbeginn unserer eigenen Geschichte steht, den meisten Menschen heute nichts sagt. Aunjetitz, das klingt nach böhmischen Dörfern. Das aber wenigstens zu Recht! Sie ist wirklich nach einem böhmischen Dorf benannt worden, nach dem kleinen Weiler Únětice (deutsch: Aunjetitz) wenige Kilometer nordwestlich von Prag. Der Mediziner und Archäologe Čeněk Rýzner (18451923) hatte dort zwei Gräberfelder ausgegraben. Seine Funde dienten fortan als Referenz für gleichartige Objekte, die in Böhmen, Mähren und Niederösterreich, der Westslowakei, der Oberlausitz und Schlesien, besonders aber in Mitteldeutschland geborgen wurden. Doch erst die durch die Himmelsscheibe von Nebra ausgelöste Forschungsoffensive hat gezeigt, auf was für eine bemerkenswerte Kultur Čeněk Rýzner gestoßen war.

Wo vor allem Bestattungssitten und Keramik Auskunft geben, wird es zur Herausforderung, großartige Geschichten zu erzählen. Glücklicherweise können wir heute selbst Knochen zum Sprechen bringen und damit Antwort auf die Frage geben: Wer waren die Aunjetitzer? Die genetischen Analysen bestätigen die Beobachtungen der Archäologen: Wir haben es mit keiner neuen Bevölkerung zu tun. Stattdessen verschmelzen die Glockenbecher- und Schnurkeramikkultur zur frühbronzezeitlichen Aunjetitz-Kultur. Und diese Hybridkultur erweist sich als erstaunlich langlebig. Nach einer Formationsphase, die um 2200 vor Christus beginnt, dominiert sie von etwa 2000 an für gut 400 Jahre Mitteldeutschland. Erst um 1600 vor Christus verschwindet sie – gerade zu der Zeit, als die Himmelsscheibe unweit von Nebra im Boden deponiert wird.

Die Kartierung der Aunjetitzer Gräber zeigt: Sie liegen so gut wie ausschließlich auf den allerbesten Ackerböden. Dort war ein homogenes kulturelles Gebilde entstanden. Das reichhaltige Keramiksortiment besticht durch seinen hohen Wiedererkennungswert, die Aunjetitzer Tassen sind zumindest unter Archäologen legendär für ihre modern anmutende Eleganz. Wäre dies ein Buch allein für Bronzezeitexperten, müssten wir jetzt zu sperrigen Begriffen wie »Circumharzer Gruppe« wechseln; so aber erlauben wir es uns, auch weiterhin von Aunjetitz zu sprechen, obwohl wir damit nur den mitteldeutschen Bereich bezeichnen. Hier, östlich des Harzes, kam es zu gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich in dieser Form in den anderen Regionen, die zur Kultur von Aunjetitz gerechnet werden, nicht finden und die es uns legitim erscheinen lassen, hier ein eigenständiges Reich zu postulieren.

001.jpg

20 Legendäre Tassen: Die dunkle, polierte Keramik der Aunjetitz-Kultur erscheint geradezu klassisch modern, ganz so, als wolle sie dem neuen Bronzezeitalter entsprechen.

Während in den heroischen Vorgängerkulturen des Endneolithikums die Männer ihre Waffen mit ins Grab nahmen, findet sich nun in den normalen Gräbern kein Kriegsgerät mehr. Auch werden die Männer plötzlich genauso wie die Frauen ins Grab gelegt: Die Aunjetitzer betten ihre Verstorbenen ohne Unterschied nach Geschlecht auf der rechten Körperseite mit angewinkelten Beinen und Blick nach Osten. Was steckt hinter diesem massiven Wandel der Bestattungssitten? Ein Verlust des Heroischen? Doch es gibt Ausnahmen, und diese nahmen mehr Waffen mit ins Grab, als ein Mann tragen kann, und ruhen unter mächtigeren Grabhügeln, als sie zuvor in Europa für einzelne Menschen aufgehäuft wurden – und das nur wenige Kilometer von Nebra entfernt.

***

Unsere aufgeräumten, an die Bedürfnisse einer industrialisierten Landwirtschaft und eines effizienten Verkehrswesens angepassten Landschaften von heute geben einen falschen Eindruck vom einstigen Geschichtsreichtum. Jahrtausende dominierten allerorten Großsteingräber, Wallanlagen, Burgen, Viereckschanzen, Hohlwege und Grabhügel. Nur in agrarisch kaum genutzten Regionen wie in manchen Teilen Großbritanniens und Skandinaviens oder auf Inseln wie Sardinien und Malta zeigt sich noch ein Abglanz der einstigen Fülle. Insbesondere in den Lössgebieten Mitteleuropas aber, in denen seit Jahrtausenden kontinuierlich Landwirtschaft betrieben wird, ist die einstige Denkmalfülle so gut wie vollständig weggeackert.

Viele Kulturen bestatteten ihre Toten unter Erdhügeln. Alte Karten verzeichnen noch ganze Hügelgräberlandschaften – die Menschen lebten inmitten einer Topografie der Ahnen. Spätestens im 19. Jahrhundert galt es dann, jeden Quadratmeter Ackerfläche zu nutzen; im Feld liegende Hügel wurden als Hindernisse beseitigt, zumal sich herumgesprochen hatte, dass viele von ihnen aus fruchtbarer Erde bestanden, mit der sich die Bodenqualität verbessern ließ. Und die Steine, die sich zuweilen im Kern fanden, waren im Straßen- und Hausbau begehrt. Knochen und Grabbeigaben wurden geplündert oder zerstört, in seltenen Fällen an Liebhaber verkauft. Kein Denkmalschutzgesetz kümmerte sich um die Monumente der Vorzeit. Um zu retten, was zu retten war, entstanden Geschichtsvereine und erste Provinzialmuseen. Dahinter standen begeisterte Bürger, die auch die heimische Vergangenheit für archäologiewürdig hielten und sie den Kulturen des Mittelmeers und des Orients an die Seite stellen wollten. Die Ur- und Frühgeschichte begann sich als eigenständige Disziplin zu formieren.

F27.tif

21 Koloss der Vorzeit: Einst dominierten Grabhügel unsere Landschaften. Nur wenige waren so groß wie der des Fürsten von Leubingen, der das seltene Glück hatte, die Zeiten zu überdauern – gut dreißig Kilometer von Nebra entfernt.

Das ist der Hintergrund für zwei spektakuläre Ausgrabungen, die vor über 100 Jahren tiefe Einblicke in die höchsten Sphären von Aunjetitz gaben. Die gut acht Meter hohen Grabhügel von Leubingen und Helmsdorf wiesen solch herausragende Funde auf, dass sie auf den Namen »Fürstengräber« getauft wurden. Ob der Begriff »Fürst« eine Übertreibung oder eine Untertreibung darstellt, wird uns noch beschäftigen. Erst einmal werden wir ihn verwenden.

In beiden Fällen liegen uns detaillierte Ausgrabungsberichte vor. Dass sie außerhalb der Fachwelt kaum Aufmerksamkeit erfahren haben, ist historischen Zufälligkeiten geschuldet: Der Ausgräber von Leubingen konnte wegen schwerer Krankheit keine Abschlusspublikation vorlegen. Im Fall von Helmsdorf starb der Archäologe kurze Zeit später, und bald schon brach der Erste Weltkrieg aus. Noch war das Grab Tutanchamuns nicht geöffnet, sonst hätte damals wohl die Rede vom »Fluch der Fürsten« die Runde gemacht, der all jene ereile, die es wagten, die letzte Ruhe der Bronzezeitherrscher zu stören.

***

Zwar hat der Grabhügel von Leubingen durch die Ausgrabungen einiges an Höhe verloren; doch wer ihn heute besteigt, ist immer noch von zwei Dingen fasziniert: von der dominierenden Position, die er inmitten des Thüringer Beckens einnimmt, und von der enormen Herausforderung, vor der Friedrich Klopfleisch (18311898) stand. Wie macht man sich an die Ausgrabung eines Monstrums, das 1877 die Maße von 34 Metern Durchmesser, 145 Metern Umfang und 8,5 Metern Höhe besaß? Insbesondere wenn man wie der Professor für Kunstgeschichte von der Universität Jena darum bemüht ist, die heimische Archäologie auf wissenschaftliche Füße zu stellen und weniger rabiat vorzugehen, als es damals allgemeine Praxis war?

Klopfleisch gehört zu den Pionieren der Ur- und Frühgeschichte; er erkannte die Möglichkeit, die graue Vorzeit mittels vorherrschender Keramikstile chronologisch zu gliedern. Begriffe wie »Bandkeramik« und »Schnurkeramik« sind seine Schöpfungen. Als er erfuhr, dass in Leubingen ein »mächtiger uralter Grabhügel« zur Lehmgrube degradiert werden sollte, war er zur Stelle. Mit einem Dutzend Arbeiter, die mit Hacken und Picken, Spaten und Schaufeln von sechs Uhr morgens bis sieben Uhr abends schuften würden. Tageslohn: 2,25 Mark (mit Bier) oder 2,50 Mark (ohne Bier).

»Die zweckmäßigste Art, Grabhügel zu untersuchen« – das war das ganze 19. Jahrhundert hindurch ein viel diskutiertes Thema. Zunächst hatte sich die Ringgrabenmethode bewährt, bei der die Ausgräber sich von außen langsam zum Mittelpunkt vorarbeiteten. Später setzten die Archäologen auf die flächige Abtragung. Beides aber erwies sich angesichts der Leubinger Dimensionen als nicht praktikabel. Also entschied sich Klopfleisch für ein unkonventionelles Vorgehen: vom höchsten Punkt trichterförmig in die Tiefe graben. Doch kaum hatten die Arbeiter die ersten Spatenstiche gesetzt, stießen sie auf Skelette – und es wurden immer mehr. Am Ende waren sie bis in eine Tiefe von zwei Metern auf etwa 70 Bestattungen gestoßen. Die slawischen Beigaben zeigten: Die Hügelkuppe war im Mittelalter zum Friedhof umfunktioniert worden.

Nachdem Klopfleisch die Bestattungen dokumentiert und Schädel zur anthropologischen Vermessung entnommen hatte, gruben sich die Arbeiter weiter in die Tiefe. Um der Erdmassen Herr zu werden, stachen sie von der Seite zusätzlich eine 15 Meter lange Gasse aus. Bretter, durch Querbalken gestützt, sicherten die bedrohlich aufragenden Erdwände. »Gott sei Dank war kein einziger ernster Unfall zu beklagen«, notierte Klopfleisch im Grabungsbericht.

Die Schaufeln fraßen sich durch eine vier Meter mächtige Erdschicht hinab; fette schwarzbraune Erde war das. Dann wurde der Boden eisenhart, die Arbeiter griffen zur Hacke. Anscheinend war hier die Erde feucht eingestampft und durch Trocknen ausgehärtet worden. Vermutlich sollte die gut 70 Zentimeter dicke Schale das Hügelinnere vor eindringendem Wasser schützen. Doch die Plackerei war nichts im Vergleich zu dem, was nun kam: Steine, nichts als Steine.

Um zu erkennen, womit er es überhaupt zu tun hatte, ordnete Klopfleisch an, einen Schnitt zum östlichen Hügelrand hin anzulegen, um bis auf den Boden zu gelangen. Das Ergebnis verblüffte: Das Grab war durch einen 20 Meter breiten, über zwei Meter hohen Steinkegel geschützt. Wie Dachziegel waren die einzelnen Steine geschichtet. Um zu verhindern, dass der Steinpanzer auseinanderdriftete, waren die äußersten Felsbrocken in einem Graben verkeilt.

Geologen bescheinigten Klopfleisch, dass die Steine aus einem Umkreis von 30 Kilometern herbeigekarrt worden sein mussten – roter Sandstein vom Kyffhäuser und weißer Sandstein aus der Umgebung von Nebra. »Was lässt uns aber diese sichere Tatsache für einen tiefen Blick in die Verhältnisse jener Urzeit tun, aus welcher unser Grabhügel stammt!«, staunte Klopfleisch. »Wir sehen hier im Geiste die mächtigen Reihen holzrädriger Wagen oder Karren vor uns, welche, durch den leitenden Willen eines Stammesoberhaupts befehligt, den umliegenden Gau nach geeigneten Steinen … durchsuchen. Dies alles setzt bereits die Entwicklung eines mächtigen Gemeinwesens und die Anfänge eines Verkehrslebens voraus, welches schon fahrbarer, wenn auch noch unvollkommener Straßen sich bediente.« Auf 3270 Kubikmeter taxierte Klopfleisch das Gesamtvolumen des Grabhügels.

Den Steinkern zu öffnen war Knochenarbeit. Stunde um Stunde wuchteten die Arbeiter Steine beiseite. Langsam befreiten sie ein eigenartiges Bauwerk aus seinem Steinmantel. Sie stießen auf »eine uralte Form menschlichen Wohnens«, wie Klopfleisch notierte, ein sorgfältig konstruiertes Haus des Todes. »Nachdem über den gesamten Hügelgrund ein an schwärzlicher Branderde mit eingemischten Tierknochen und Tongefäßscherben erkenntliches Gesamt-Totenopfer dargebracht worden war, ward im Hügelmittelpunkte ein 2,10 m breites und 3,90 m langes Oblongum [Rechteck] abgegrenzt, das ein 0,60 m breiter Graben von derselben Tiefe umgab.« Diese Fläche war mit Steinplatten gepflastert. Auf ihr erhob sich eine zeltartige Konstruktion. 18 je gut 20 Zentimeter dicke Eichenbalken bildeten das Grundgerüst. Sie ruhten links und rechts mit den Enden im Graben, wo sie mit Steinen verkeilt waren. In dachartiger Schräge liefen sie über der Mittellinie zusammen. In den Dachfirstbalken war auf der einen Seite ein 1,70 Meter hoher und 0,50 Meter dicker Baumstamm als Stütze verzapft.

Auf dieser Grundkonstruktion ruhten mit Holznägeln befestigte Bohlen, die anscheinend direkt von der Oberfläche mächtiger Baumstämme abgespalten waren. Wo Fugen klafften, hatten die Zimmerleute sie sorgfältig mit einer mörtelähnlichen Substanz verschlossen. Als oberste Deckung schließlich diente eine auch nach Jahrtausenden immer noch 15 Zentimeter dicke Schicht Schilf. Einst müssen mächtige Lagen Schilfgras die Totenhütte bedeckt haben.

Totenhütte? Totenvilla trifft es besser. Denn im Inneren hatten die Zimmerleute über die Steinpflasterung einen hölzernen Dielenboden verlegt. 3,90 Meter lang und 2,10 Meter breit, waren die Dielen mit den schrägen Dachstützen verzapft. Ein Meisterwerk prähistorischer Handwerkskunst, das sich jahrtausendelang der gewaltigen Stein- und Erdlast entgegenstemmte. Nur ein wenig hatte es sich zur Seite geneigt. Seinen Bewohnern dagegen hatte die Reise durch die Zeit mehr zugesetzt.

In der Mitte des Dielenbodens lag in Nord-Süd-Richtung ein »menschliches Skelett ausgestreckt«, so Klopfleisch, »das von einem Greise herrührte, wie die abgenutzten Zähne und die häufigen Spuren von Altersgicht an den Knochen desselben bewiesen«. Klopfleisch glaubte, ein zweites Skelett identifizieren zu können, das quer über die Hüfte des ersten gelegt war. Es schien ihm von einem »jugendlichen Individuum im Alter von etwa 10 Jahren« zu stammen. »Leider war das letztere Skelett fast gänzlich und das erstere ebenfalls so stark zerstört, dass nur noch wenige charakteristische Reste entnommen werden konnten. Von Feuerspuren fand sich an diesen Knochen nichts.« Um wen konnte es sich handeln? Neben den Toten schimmerte Gold.

F16.tif

22 »Ein fürstliches Kind«: Die Skizzen des Ausgräbers Klopfleisch vom Fürstenhügel in Leubingen. Rechts unten sein Rekonstruktionsversuch der angeblichen kreuzförmigen Bestattung eines Greises mit einem Kind. Darüber Ansichten der Grabkammer unter dem Steinpanzer und links ein Hügelquerschnitt.

Die Grabbeigaben würden ihm helfen, das Geheimnis zu lösen. Da war ein in Scherben gegangenes Tongefäß, das einst Speisen oder Trank für die Reise ins Jenseits enthielt. Imposant war der mächtige, über 30 Zentimeter lange »Serpentinhammer«; eine kolossale Gerätschaft, den konnte nicht jeder schwingen. Dann entdeckte Klopfleisch ein Arsenal von Bronzedolchen unterschiedlicher Größe, sie lagen paarweise gekreuzt. Zwei Beile aus Bronze könnten sowohl Waffen als auch Zimmermannswerkzeuge gewesen sein. Drei weitere schwer identifizierbare Bronzegegenstände hielt er für Bohrer. Und schließlich war da noch etwas, das Klopfleisch als »Streichschale, jedenfalls zum Schärfen der Waffen und Geräte bestimmt« ansprach. All diese Gerätschaften konnten seiner Ansicht nach nur zum männlichen Skelett gehören. Und das Gold?

F15.tif

23 Eine Kunst für sich: Klopfleisch zeichnete auch die fürstlichen Grabbeigaben aus Bronze und Gold. Es fällt die Vielzahl der Grabbeigaben auf, für die Archäologen die wenig poetische Bezeichnung »Überausstattung« verwenden.

Den ersten Hinweis gaben ihm zwei kunstvoll gearbeitete Nadeln, jede etwa zehn Zentimeter lang, sie trugen oben eine Öse und waren nach unten wie ein Säbel gebogen. Klopfleisch hielt die massiv goldenen Stücke für Haarnadeln. Dazu gehörte wohl auch die kleine Spirale aus Golddraht, die auf einen Faden gezogen als aparter Haarschmuck zwischen den beiden Nadeln gefunkelt haben könnte. Und dann war da als prominentestes Stück der schwere goldene Armring. Zwei kleine aus Golddraht gefertigte Ringe rundeten die Kollektion ab. Da es sich um kostbaren Schmuck handelte, glaubte Klopfleisch, ganz Mann seiner Zeit, dass dies die Beigaben einer weiblichen Person waren: Hatte er das Grab einer jungen Prinzessin gefunden?

Bei Gemeinschaftsgräbern stellt sich stets die Frage, was die gemeinsam Bestatteten verbindet. Starben sie zufällig zur gleichen Zeit? Unwahrscheinlich. Also könnten beide Opfer desselben Ereignisses sein: einer Gewalttat, eines Unglücks, einer Seuche. Oder musste die eine Person der anderen in den Tod folgen? Diener starben nach ihren Herren, Witwen durften ihren Mann nicht überleben. Die Mythen des Altertums sind voll von Geschichten, in denen Heldenbegräbnisse mit Menschenopfern einhergingen. Natürlich kannte Klopfleisch sie.

Deshalb war für ihn allein die Frage: Wer war hier wem ins Grab gefolgt? Der Greis dem »fürstlichen Kind«? Die junge Frau ihrem Herrn? Klopfleisch musste nicht lange grübeln. Werkzeuge und Waffen konnten nur dem Mann gehören, der kostbare Goldschmuck dagegen war das Geschmeide einer Frau. Damit war für ihn das Rätsel gelöst: »Denn hat es nicht in unserem Hügel den Anschein, als ob dem mit reichen Goldschmuck ausgestatteten fürstlichen Kinde sein Lieblingssklave oder altersgrauer Mentor, ausgestattet sowohl mit vielen Waffen als nützlichem Werkzeug, in den Tod gefolgt sei?« Wir kommen darauf zurück.

Wie alt aber war das Grab? Hier sehen wir, wie schwer man sich mit Datierungen tat in Zeiten, in denen verlässliche Methoden fehlten. Klopfleischs Einschätzung lautete: »Es dürfte daher der Leubinger Bronzefund wohl mindestens noch dem 5. Jahrhundert v. Chr. entstammen.« Er glaubte, hier den »Grabhügel eines keltischen Stammes zu erblicken« – und lag damit gute 1500 Jahre verkehrt. Moderne Analysen der Jahrringe des in der Totenhütte verbauten Eichenholzes lieferten ein ebenso exaktes wie beeindruckendes Datum: das Jahr 1942 vor Christus.

Klopfleischs Leistung schmälert das nicht. Die Leubinger Grabbeigaben sind heute im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle zu bestaunen. Der Grabhügel selbst wurde wieder verschlossen und thront bis heute im Thüringischen Becken, nur eine Delle kündet vom archäologischen Eingriff. Mittlerweile rauscht die Bundesautobahn A71 an ihm vorbei, der neue Rastplatz trägt den Namen »Leubinger Fürstenhügel«.

Leider scheinen die Knochen aus dem Grab schon früh verloren gegangen zu sein, nicht einmal ein Zahn ist überliefert. Wen Klopfleisch da wirklich gefunden hatte, das zeigte sich erst gute drei Jahrzehnte später, als ein zweiter solcher Hügel ausgegraben wurde.

***

Der Geschichte wohnt zuweilen ein merkwürdiger Sinn für Humor inne. Ausgerechnet der Kupferbergbau war es, der einem der mächtigsten Grabhügel der kupferbasierten Bronzezeit das Ende bereitete. Das, was gut 1900 Jahre vor Christus erst den Reichtum schuf, der solche monumentalen Grabmäler ermöglichte, eliminierte diese gut 1900 nach Christus wieder. Die metallurgische Revolution frisst ihre Kinder – auch wenn sie manchmal Jahrtausende dafür braucht.

Um das Kupfererz, das der Paul-Schacht bei Helmsdorf ans Tageslicht holte, abzutransportieren, beschloss die »Mansfeldsche Kupferschieferbauende Gewerkschaft« im Jahr 1906, die Gleise der Bergwerksbahn direkt zum Schacht zu legen. Die Strecke führte mitten über jene Landmarke, die der Volksmund »großer Galgenhügel« nannte. Das rief Hermann Größler (18401910) auf den Plan. Der Gymnasiallehrer und Vorsitzende des Vereins für Geschichte und Altertümer der Grafschaft Mansfeld war überzeugt, dass der große Galgenhügel ein Werk von Menschenhand sei und sicher ein »Hünengrab« enthalte, wenn nicht gleich mehrere, so groß, wie er war.

Bereits 40 Jahre früher war der nördlich gelegene »kleine Galgenhügel« abgetragen worden, und dabei waren, wie die Anwohner zu erzählen wussten, Grabaltertümer zutage getreten – welcher Art, wusste niemand mehr. Größler hatte deshalb schon eine Weile ein Auge auf den großen Galgenhügel bei Helmsdorf geworfen, aber sich eingestehen müssen, dass an »eine Erschließung desselben … zunächst nicht zu denken [war], weil – ganz abgesehen von der Genehmigung des Grundeigentümers – die Kosten einer Ausgrabung oder Abtragung des Hügels voraussichtlich sehr erhebliche sein mussten«. Als aber der Galgenhügel dem Kupferschieferbergbau zum Opfer fallen sollte, war Größler sofort vor Ort.

Da die heimische Archäologie so etwas wie das Freizeitvergnügen der gebildeten Stände im Kaiserreich war – viele Honoratioren waren Mitglieder in Geschichtsvereinen und gingen am Wochenende auf Ausgrabungen wie andere in die Kirche –, war es ein Leichtes, die Verantwortlichen für sein Vorhaben zu gewinnen. Die Vermessung des Hügels von Helmsdorf ergab, dass er mit seinen 34 Metern Durchmesser die gleiche Größe wie der Leubinger Hügel besaß (auch wenn der Durchmesser des letzteren größer gewesen sein könnte, wie aktuelle Ausgrabungen nahelegen). Das galt auch ungefähr für die Höhe, denn wenn man in Leubingen die zwei Meter starke, erst mittelalterlich aufgestockte Begräbnisschicht abzog, so Größler, hätte der Hügel dort einst eine Höhe von 6,50 Metern gehabt. Und damit war der Helmsdorfer Hügel, wie er stolz vermerkte, mit 6,82 Meter der höhere.

Die Ausgräber hatten dieses Mal leichteres Spiel: Da der komplette Hügel beseitigt werden sollte, transportierte die Bahn die Erdmassen gleich ab. Die Grabungskampagne begann mit einem makabren Fund: Auf der Kuppe stießen die Arbeiter auf die Fundamente des Galgens, der dem Hügel seinen Namen gegeben hatte. Daneben entdeckten sie vier paarweise über Kreuz gelegte menschliche Skelette – vermutlich hingerichtete Delinquenten – und die Reste eines Pferdeskeletts.

Nach gut drei Wochen des Schaufelns zeigte sich am 9. Dezember 1906, dass Größler recht gehabt hatte: Ein massiver Steinkern trat zutage. Es dauerte aber noch bis Ende Januar 1907, bis er komplett freigelegt worden war. Auch hier war die Ähnlichkeit zu Leubingen groß, selbst wenn der Kegel mit 13,5 Metern Durchmesser und einer Höhe von 3,45 Metern deutlich steiler angelegt war. Er war von einer gut einen Meter starken Trockenmauer eingefasst, die aus regelmäßig aufeinandergelegten Steinblöcken bestand, jeder im Schnitt einen Meter lang und bis zu 40 Zentimeter dick. Die restliche Erde wurde abtransportiert, die Arbeiter trugen den Steinpanzer Stein um Stein ab. Als die letzte Schicht zu erkennen war, beraumte Größler die offizielle Graböffnung für Samstag, den 2. März 1907, an.

Es sollte ein gesellschaftliches Ereignis werden. Mit dem Zug reisten Beamte der Mansfeldschen Kupferschieferbauenden Gewerkschaft sowie Mitglieder des Altertumsvereins an, darunter Königliche Bauräte, Bergdirektoren, ein Oberpfarrer, der Direktor des Provinzialmuseums in Halle und der einstige Besitzer des Hügels, der Baron von Krosigk aus Helmsdorf nebst Gemahlin. »Es kennzeichnet den Wandel der Zeiten, dass hier die Umstände gestatteten«, bemerkte Größler, »mit Hilfe der Dampfkraft dicht an ein vorgeschichtliches Grab heranzufahren, das seit Jahrtausenden in schweigsamer Verlassenheit dagelegen hatte.«

Mit der schweigsamen Verlassenheit war es jetzt zu Ende. Eine lärmende Schar Schaulustige hatte sich versammelt. Größler war alles andere als begeistert: »Die einige hundert Köpfe zählenden unwissenschaftlichen Zuschauer aus der Nachbarschaft waren der Mehrzahl nach Kinder; doch auch humpelnde Alte und Weiber mit Säuglingen hatten sich eingefunden, die wohl zumeist der Wahn herbeigelockt hatte, hier werde ein Geldschatz ausgegraben werden.« Größler hatte vorgesorgt: »Auf meine Bitte war darum auch, um allen unliebsamen Störungen durch Raublustige vorzubeugen, der Hügel in den vorhergehenden Nächten durch eine Wache gesichert worden.«

Nun machten sich die Arbeiter daran, vor großem Publikum das Innere aus seiner Steinhülle zu schälen. Das Grab trat »aus der mit dünn aufliegender aschiger Erde bedeckten Aufschüttung als ein hüttenähnlicher Holzbau mit steilem Dach hervor«. 6,80 Meter lang, 5 Meter breit, 1,60 bis 1,70 Meter hoch. Die Konstruktion ähnelte der des Leubinger Totenhauses. Wieder bestand das Grundgerüst aus mächtigen Eichenbohlen. Doch kam die Helmsdorfer Totenstätte ohne Dachfirstbalken aus, auch fehlte ein Dielenboden, dafür war der Grund mit Steinen gepflastert und mit Schilf ausgelegt. Wie in Leubingen waren die Fugen des Dachs mit einer Art Mörtel verschlossen, auch hier mussten darüber »sehr dichte Lagen von Schilf ausgebreitet« gewesen sein, »dessen Blätter nun aber infolge ihres hohen Alters so dünn wie das feinste Seidenpapier geworden waren«.

Wie Klopfleisch stieß Größler auf mächtige Baumsäulen, die im Grab das Dach zusätzlich stützten. Sie erschienen ihm als »Grenzmarken des Bestattungsraumes«, als »warnende Wächter«. Im Grabinnenraum fand er etwas, das er zum »wohl ältesten Erzeugnisse der Holzarbeiterkunst« erklärte: einen Eichensarg. Gezimmert aus einer 2,05 Meter langen, fast einen Meter breiten und 30 Zentimeter dicken Eichenbohle, oben und unten besaß diese Totenlade einen Giebel, mittels Nut und Feder waren Seitenwände montiert, und inmitten der Bohle hatte der Tischler eine Vertiefung von 1,70 Meter mal 65 Zentimeter herausgehauen: ein Bett für die Ewigkeit.

Auf ihm war der Tote aufgebahrt. Zumindest das, was noch von ihm übrig war; viele Teile des Skeletts waren fast völlig verschwunden. »Vom Schädel fanden sich nur noch einige ganz kleine Bruchstücke von der Größe eines Markstücks«, schrieb Größler. »Von dem Gebiss, insonderheit von den Zähnen, fand sich ebenfalls kein Überbleibsel.« Wobei er einschränkte: »Doch ist möglich, dass einige Zähne mit anschließenden Stückchen des Kiefers, deren Fundstelle ich nicht mehr sicher im Gedächtnis habe, die aber dem Hügel entnommen sind, von dem Einlieger der Lade herrühren.« Aus der schrägen Lage der Rückenwirbel schloss Größler, »der Tote müsse als liegender Hocker unter mäßiger Anziehung der Knie mit dem Gesicht nach Osten bestattet worden sein«. Ein anwesender Arzt identifizierte die Knochenreste als die eines erwachsenen Mannes.

Die Last des Grabhügels hatte das Totenhaus etwas demoliert, durch das Dach waren Erde und die von einem Opferfeuer stammende Asche hereingerieselt. Größler suchte nun nach Beigaben; manche lagen dort, wo einmal die Brust des Toten gewesen sein musste. Leider schreibt der Ausgräber nicht, ob er jeden Fund einer Trophäe gleich in die Höhe hob, um sie der anwesenden Menschenmenge zu zeigen. Gab es Rufe des Erstaunens? Johlten die Leute gar?

Auch die Grabbeigaben ähnelten denen von Leubingen auf frappante Weise. Wieder fand sich ein in Scherben gegangenes Vorratsgefäß, wieder lag dort ein mächtiger Steinhammer, dieses Mal über 500 Gramm schwer, aus dunklem Diorit. »Diesen Hammer, der die Gestalt der Steinäxte hat, wie sie aus megalithischen Gräbern gehoben sind«, also aus der Jungsteinzeit stammen, erhielt der frühere Hügelbesitzer Baron von Krosigk »zum Andenken«.

Dann folgten diverse Objekte aus Bronze, denen die Oxidation stark zugesetzt hatte. Größler vermutete, es handle sich um Beile, Dolche und Bohrer. Und dann endlich das, auf das die Menschenmenge so begierig gehofft hatte: Gold! Wieder war da ein massiver goldener Armring. Zwei Objekte hielt Größler zunächst für Ohrringe, bezeichnete sie dann aber als Hängespiralen, die als Schmuck getragen worden sein könnten. Wieder ist ein filigranes Spiralröllchen dabei: ein nur 1 Millimeter starker Golddraht, der sich 14-fach windet. Und schließlich entdeckte auch Größler zwei goldene »Säbelnadeln«. Jene, die mit »sorgfältig eingepunzten Tannenwedel- oder Fischgrätlinien verziert« ist und sich »in tadelloser Unversehrtheit erhalten« hat, gleicht den beiden Nadeln im Grab von Leubingen fast völlig. 30 Jahre nach Klopfleisch identifizierte Größler diese Ösenkopfnadel nun korrekt als vom »Aunjetitzer Typus«.

Auch wusste er, dass er hier keinen Grabhügel eines Keltenfürsten ausgrub, sondern den eines Herrschers der Bronzezeit. Dem Fürsten von Leubingen stellte Größler den Fürsten von Helmsdorf an die Seite. Moderne Dendro-Datierungen des Eichenholzes der Totenlade sollten zeigen, dass der dazu verwendete Baum im Winter 1829/1828 vor Christus gefällt wurde. Das Helmsdorfer Grab ist damit mehr als ein Jahrhundert jünger als das Grab von Leubingen. Umso mehr überrascht die große Ähnlichkeit in Grabarchitektur und Ausstattung.

Ob er alles gefunden hatte, was dem Fürsten mitgegeben war? Größler war sich nicht sicher. »Da die schon beschriebenen, viel massigeren Waffen und Geräte aus Bronze einen hohen Grad der Auflösung erreicht haben, so kann es nicht befremden, wenn sich Perlen, Nadeln oder andere kleine Schmuckstücke aus derselben Legierung in Pulver oder formlose Reste verwandelt haben. Nur das lautere Gold hat sich unversehrt in blitzendem Glanze erhalten.«

Obwohl sich in der Helmsdorfer Totenhütte keine Spuren eines zweiten Toten fanden und damit Waffen und Werkzeuge, Keramik und Schmuck die Grabausstattung einer einzigen Person sein mussten, entfachte auch Größler die Menschenopferdiskussion. Unter dem Grab befand sich nämlich eine 1,40 Meter starke Aschenschicht – und nur einen halben Meter unter den Steinplatten der Grabkammer stießen die Arbeiter auf ein Skelett, die Beine angezogen, auf der rechten Seite liegend mit dem Gesicht nach Südosten. Die Knochen waren auf einer Seite angesengt. Der Tote scheint also in die heiße Asche gelegt und dann mit Erde bedeckt worden zu sein. Noch mal 40 Zentimeter tiefer lag ein weiteres Skelett, dieses aber war in einem so schlechten Zustand, dass Größler lapidar konstatierte: »… über welches nichts weiter zu sagen ist.«

Was war hier geschehen? Größler entwarf folgendes Szenario: »Die feierliche Bestattung des in ferner Urzeit verstorbenen Landesfürsten erforderte, wie uns die Beobachtung bei der Abtragung des Grabhügels lehrt, eine sehr umständliche Vorbereitung. Gewaltige Holzmassen, vielleicht in Scheiterform, aus allen Teilen des Herrschaftsgebietes – wie ein paar tausend Jahre später noch zur Zeit des Geatenkönigs Beowulf geschah – wurden auf die Höhe des Bergrückens gebracht, aufgeschichtet und ein gewaltiges Opferfeuer angezündet.« Und hatten nicht auch die Trojaner neun Tage lang Holz herbeigeschleppt, um Hektors Scheiterhaufen aufzurichten? »Nachdem die Glut sich gelegt hatte und durch aufgeschüttete Erde einigermaßen abgedämpft worden war, wurden zwei Gefolgsleute oder Diener ihres Herrn als Totenopfer getötet, auf der erst wenig abgekühlten Aschenschicht niedergelegt und mit Erde überschüttet.«

Das schien Größler nicht abwegig, auch in anderen Fällen seien im Hügel selbst oder in der Nähe weitere Bestattungen erfolgt. Warum sollte es sich bei den Toten nicht um seine Diener, Gefolgsleute oder Kriegsgefangene handeln, die den Fürsten in den Tod begleiten mussten? Auch hier stand Homer Pate. Heinrich Schliemanns Entdeckung Trojas am Hellespont lag ja nur wenige Jahre zurück. Und Größler kannte wie jeder Gebildete seiner Zeit die Ilias nur zu genau: »So wurden zu Ehren des erschlagenen griechischen Helden Patroklos nicht nur Schafe, Rinder, Rosse und Hunde, sondern auch zwölf gefangene Troer geschlachtet und mit ihm verbrannt.« Und hatte Herodot nicht von den Königen der Skythen berichtet, denen man »eins ihrer Weiber, ihren Mundschenk, ihren Koch, ihren Pferdewärter, ihren Botenläufer, Pferde und allerlei Gerät und Schmuck ins Grab mitgegeben habe«?

Um das aus dem gewaltigen Feuer entstandene Aschepostament herum sei dann die Ringmauer errichtet worden, innerhalb derer der Grabbau platziert wurde: »Nachdem dann der Tote – vermutlich unter feierlichen Bräuchen – in sein Haus eingeführt worden war, hat man dieses in einen Mantel von Steinen und Erde so weit eingehüllt, dass der ganze Holzbau unter dieser Bedeckung dem Auge entschwand.« Nun muss darauf aber nochmals ein Opfer- oder Gedächtnisfeuer angezündet worden sein, ein Teil des Giebels der Totenhütte sei ja verkohlt gewesen und Asche ins Grab gerieselt. Sein Zweck? Unglück vom Grab fernzuhalten, vermutete Größler. Dann häuften die Menschen den schützenden Steinmantel in Kegelform bis in eine Höhe von fast vier Metern auf, um schließlich Unmengen Erde darüber aufzuschütten. Sie schufen damit ein weithin sichtbares Denkmal, in welchem »wir«, so beendete Größler sein Szenario, »ein frühestes Denkmal der Ahnen unseres eigenen Volkes zu erblicken« haben.

Wir wissen nicht, wie das Publikum an diesem Samstagnachmittag des 2. März 1907 auf den Ausgrabungserfolg reagierte. Größler ließ die Fundstücke »in das nahe Revierhaus in Sicherheit« bringen, wo er in »Gegenwart einer zahlreichen Zuhörerschaft … einen kurzen Vortrag über die Eigenart und das Alter der Fundstücke hielt«. In den folgenden Wochen trugen dann die Arbeiter die letzten Reste des Grabhügels ab – und verlegten die Gleise für die Bergwerksbahn.

Und die Geschichte beweist in Helmsdorf ein zweites Mal ihren Sinn für Ironie. Auch die Zeit der Bergwerksbahn ist längst vorbei, aber an der Stelle, wo einst der imposante Fürstenhügel stand, wurde der Abraum aus dem Kupferschieferbergbau angehäuft und dabei eine 104 Meter hohe Kegelhalde geschaffen. Sie gilt heute als eine der Pyramiden des Mansfelder Landes. Geheimnisse aber stecken in ihr keine mehr.

***

Die Ähnlichkeit zwischen den Hügeln von Leubingen und Helmsdorf ist immens, auch Umfang und Höhe waren nahezu identisch – und so warfen schon in den Augen der Zeitgenossen die Grabungsergebnisse von Helmsdorf neues Licht auf die Funde aus Leubingen. Der Archäologe Paul Höfer (18451914) hatte gerade den Abschlussbericht über das Fürstengrab von Leubingen fertiggestellt, zu dem Friedrich Klopfleisch aufgrund seiner Krankheit nicht mehr gekommen war, als ihn die Ausgrabungen in Helmsdorf zu einem Nachtrag bewegten. »Die große Übereinstimmung mit Leubingen ist evident«, stellte er fest. Und sie blieb nicht ohne Konsequenzen: Ihr fiel Klopfleischs Prinzessin zum Opfer.

Höfer hatte auch schon vorher nicht an die These einer jungen Herrin glauben mögen, der ihr alter Diener oder Lieblingssklave in den Tod folgen musste. Ein solcher, davon war er überzeugt, wäre nicht im Zentrum des Grabs, sondern am Rande platziert worden. Auch hätte man ihn nicht mit so reichen Grabbeigaben ausgestattet, wäre er doch selbst eine Beigabe gewesen. Nun aber warfen die Helmsdorfer Erkenntnisse die ganze Theorie über den Haufen. Höfers Argumentation war diese: »Endlich: wenn goldene Schmucksachen von derselben Art und Zahl, wie sie in Leubingen gefunden sind, in Helmsdorf von dem dort bestatteten fürstlichen Manne getragen worden sind, so haben wir keinen Grund mehr, diese Goldzieraten für Frauenschmuck zu halten und sie dem in Leubingen mit bestatteten, wahrscheinlich geopferten Kinde zuzuschreiben.« Was zur Folge hat: »Das Geschlecht dieses Kindes, das nur in Rücksicht auf den vermeintlichen Frauenschmuck als weiblich bestimmt worden ist, bleibt dann fraglich. Der Goldschmuck von Leubingen ist dann nicht Opferschmuck gewesen, sondern der stolze Zierrat und Reichtum des großartig bestatteten Fürsten.«

Das können wir heute nur bestätigen: In Leubingen wie in Helmsdorf haben wir es jeweils mit dem typischen Fürstenornat eines Herrschers von Aunjetitz zu tun. Das wird uns noch einige Rätsel aufgeben. Wir gehen aber noch einen Schritt weiter und versehen die Existenz des Kindes von Leubingen selbst mit einem großen Fragezeichen. Was durchaus schade ist, haben wir es doch mit einem suggestiven Bild zu tun: der Fürst, über dessen Hüften der tote Körper eines Kindes drapiert worden war, sodass die beiden ein Kreuz ergaben. War hier der Sohn für den Vater geopfert, musste die Tochter ihm in den Tod folgen?

Wir haben schon gesehen, wie die Stereotypen in den Köpfen der Ausgräber ihre Interpretation bestimmten. Goldschmuck? Natürlich Frauensache. Man muss die Fantasiefreudigkeit der Archäologen des 19. Jahrhundert verstehen: Sie waren geboren und aufgewachsen in einer Welt, die sich an den Sagen der alten Griechen berauschte und einen fast verzweifelt zu nennenden Hang zum Heroischen besaß. Im deutschen Kaiserreich, dieser »verspäteten Nation«, war die Sehnsucht nach einer heldenhaften Vergangenheit besonders groß.

Bis heute präsentiert die Fachliteratur ihren Lesern gern die alte Zeichnung, auf der im Leubinger Grabhügel zwei übereinanderliegende Skelette ein Kreuz bilden. Wer aber im Archiv des Landesmuseums die originalen Notizen Friedrich Klopfleischs studiert, bemerkt, dass die flüchtigen Skizzen, die er während der Ausgrabung anfertigte, ein anderes Bild zeigen: Da liegt zwar etwas über dem Männerskelett, das Klopfleisch jedoch lediglich mit »auch Knochen« bezeichnete und das eher nach einem einzelnen Knochen aussieht als nach einem ganzen Skelett. Klopfleisch hatte ja selbst vom äußerst schlechten Erhaltungszustand der menschlichen Überreste gesprochen. Zudem lässt die Lage der Grabbeigaben keinen Raum für ein über die Seiten hinausragendes Kinderskelett. Heute drängt sich der Verdacht auf, dass in den Zeichnungen für die Abschlusspublikation das Arrangement der Interpretation Klopfleischs entsprechend angepasst wurde. Da wir kein Skelettmaterial aus Leubingen mehr besitzen, muss die Frage offenbleiben, ob es sich bei »auch Knochen« tatsächlich um mehr handelte als einen seltsam verlagerten Knochen, der vom Toten selbst stammte.

Die Frage aber, warum wir überzeugt sind, dass die beiden Personen, die vor nahezu 4000 Jahren in Leubingen und Helmsdorf mit in Mitteleuropa bis dahin nie gekanntem pompösen Aufwand bestattet worden waren, etwas mit der Himmelsscheibe von Nebra zu tun haben, werden wir jetzt beantworten.