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Das Geheimnis der Macht
Wir beschäftigen uns ja nicht aus rein antiquarischem Interesse mit einer bronzezeitlichen Kultur schwer aussprechbaren Namens (auch wenn es da ganz andere Kaliber gibt, zum Beispiel die Novotitarovskaja-Kultur). Nein, wir erkunden die Kultur von Aunjetitz, weil wir überzeugt sind, dass wir ihr die Himmelsscheibe von Nebra verdanken. Basierend auf den im ersten Teil des Buchs vorgestellten Forschungen müssten wir es mit einer Gesellschaft zu tun haben, die ein Interesse an einem Kalender hatte, der das Sonnen- und das Mondjahr in Einklang brachte. Dann kann es sich nicht nur um Bauern, Hirten oder Stammeskrieger handeln, dann müssen wir das erste staatsähnliche Gebilde Mitteleuropas vor uns haben.
Das ist eine Behauptung, die vielerorts für Stirnrunzeln sorgen wird. Wir bewegen uns schließlich in Zeiten weit über 1000 Jahre vor den germanischen Stämmen, jenen »Barbaren«, denen in aller Regel gerade einmal Anführer, Häuptlinge, vielleicht noch »Heereskönige« zugebilligt werden. Wie also können wir in der noch viel graueren Vorzeit von »Fürsten«, »Staat« oder »Reich« sprechen, ganz so, als befänden wir uns in der »zivilisierten« Sphäre orientalischer Hochkulturen?
Und überhaupt: Können wir denn sicher sein, dass die Fürsten etwas mit der Himmelsscheibe zu tun hatten? Weder im Grab von Leubingen noch von Helmsdorf fanden wir Hinweise auf astronomische Vorlieben, einen Sonnen- oder Plejadenkult. Der Umstand, dass es vom Deponierungsort der Himmelsscheibe auf dem Mittelberg Luftlinie nur 30 Kilometer nach Leubingen und keine 40 Kilometer nach Helmsdorf sind, reicht als Beweis nicht aus. Zumal zwischen dem Vergraben der Himmelsscheibe um 1600 vor Christus und den bisher bekannten Fürstengräbern über 200 beziehungsweise 300 Jahre liegen. Da braucht es schon mehr, um die These zu stützen, dass einer der Fürsten von Aunjetitz der Meister der Himmelsscheibe war. Denn wenn das stimmt, macht es die Sache noch unglaublicher. Dann existierte das Reich von Nebra für Jahrhunderte.
Deshalb müssen wir zunächst belegen, dass es sich bei den Fürsten tatsächlich um die Herren der Himmelsscheibe handelt. Daraus würde die Hypothese folgen, dass wir es im Herzen Europas wirklich mit einem Novum zu tun haben: Dann entstünde hier erstmals eine viele Generationen währende Herrschaft über ein gut 18 000 Quadratkilometer umfassendes Territorium (das Bundesland Sachsen-Anhalt ist heute nur wenig größer). Das lässt kaum etwas anderes als die Annahme zu, dass wir es tatsächlich mit dem ersten Staat Mitteleuropas zu tun haben. Da diese These zentral für die weitere Erforschung des Reichs von Nebra ist, werden wir ihre Konsequenzen in diesem Kapitel in einem zweiten Schritt diskutieren.
Bevor wir dann die Konsequenzen ziehen und uns auf die Suche nach all den vielen anderen Fürsten begeben, die in dieser Zeit geherrscht haben müssen, werden wir unsere Hypothese in einem dritten Schritt noch einmal anhand der beiden Fürsten von Leubingen und Helmsdorf überprüfen: Liefern Bestattungen tatsächlich Hinweise auf Herrschaftsstrategien und Gesellschaftsstrukturen, die eines Staatswesens würdig wären? Wir wollen ja keine prähistorischen Luftschlösser bauen.
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Erinnern wir uns an jenen Tag im Mai 2001 in Berlin. Damals saß einer von uns beiden auf einem Biedermeiersofa und betrachtete zum ersten Mal auf den Raubgräberfotos die Himmelsscheibe von Nebra und all jene Gegenstände, mit denen sie auf dem Mittelberg vergraben worden war. So miserabel die Bilder waren, etwas ließ sogleich an die Fürstengräber von Leubingen und Helmsdorf denken. Es war das Kompositionsmuster des Himmelsscheiben-Ensembles, es erinnerte an die Zusammensetzung der Grabbeigaben unter den mächtigen Grabhügeln. Und zwar an etwas, für das Archäologen den wenig poetischen Terminus »Überausstattung« verwenden. Gemeint ist damit: mehr Dinge, als eine Person allein gebrauchen kann.
In Leubingen stieß der Archäologe Friedrich Klopfleisch auf drei Dolche, drei Meißel, zwei Beile, einen Stabdolch, alles aus Bronze, und eine Axt aus Stein. In Helmsdorf waren es immerhin noch ein Beil, ein Dolch, ein Meißel, eine Steinaxt; wobei es dort auch mehr Stücke gewesen sein könnten, war der Erhaltungszustand der Bronze im Helmsdorfer Grabhügel doch nicht der beste: »Wolken von Grünspan« habe er vorgefunden, berichtete Ausgräber Größler. Doch das war noch nicht alles. Beide Fürsten besaßen eine identische Ausstattung an Gold: je zwei Gewandnadeln, zwei Lockenringe, ein Spiralröllchen und einen massiven Armring. Tatsächlich folgt auch das Nebra-Depot der Himmelsscheibe dem Prinzip der Überausstattung mit dem Hang zur Doppelung: zwei Beile, zwei Schwerter, zwei Armspiralen, ein Meißel. Zusätzlich bieten Scheibe und Schwerter jene exquisite Kombination von Bronze und Gold, die typisch für die Aunjetitz-Fürsten ist.
Nun war schon erstaunlich genug, dass über 110 Jahre hinweg ein identischer goldener Fürstenornat bestand, der allenfalls in den Verzierungen ein wenig variierte. Trotzdem waren die von Nicole Lockhoff und Ernst Pernicka durchgeführten Goldanalysen noch einmal eine Überraschung. Die massiven Armringe aus beiden Gräbern stimmten hinsichtlich der Spurenelemente so sehr überein, dass sie aus einer Goldquelle kommen mussten. Auch je eine Gewandnadel aus Leubingen und aus Helmsdorf und die kleinen Spiralröllchen waren aus den gleichen Sorten Gold gefertigt. Ein verblüffendes Traditionsbewusstsein, dass konstante Goldquellen über viele Generationen hinweg für bestimmte Objektgattungen verwendet wurden.
Das Wichtigste aber: Es war das Cornwall-Gold, das für die Gewandnadeln benutzt wurde! Jenes mit dem so typischen Muster von hohen Anteilen an Silber, Kupfer und Zinn. Es war die Sorte Gold, aus dem die astronomischen Objekte der ersten und zweiten Bearbeitungsphase der Himmelsscheibe gefertigt waren. Und es war jenes Gold, aus dem auch die Griffmanschetten der beiden Nebra-Schwerter bestanden. Das Gold der Himmelsscheibe und das Gold der Fürsten stammen aus derselben Quelle.
Damit haben wir eine symbolische und eine materielle Verbindung zwischen dem um 1940 vor Christus bestatteten Fürsten von Leubingen, dem nach 1830 vor Christus bestatteten Fürsten von Helmsdorf und den um 1600 gefertigten und deponierten Schwertern sowie der Himmelsscheibe. Es ist also nicht nur so, dass es in den zwischen Leubingen und Helmsdorf liegenden 110 Jahren noch mindestens vier, fünf Fürsten gegeben haben muss. Der Umstand, dass der fürstliche Goldornat bereits in Leubingen in kanonischer Form vorlag, lässt zudem vermuten, dass sein Herr nicht der Allererste gewesen war, den seine Untertanen mit solcher Grandezza bestatteten. Insofern können wir also mit mindestens 400 Jahren Fürstenherrschaft rechnen. Zudem haben wir hier den Beweis für eine wohl fast ebenso lange stabile Handelsbeziehung durch halb Europa.
Wenn damit auch als gesichert gelten kann, dass die elitäres Wissen tragende Himmelsscheibe der elitären Sphäre der Fürsten von Aunjetitz entstammt, ist trotzdem weder jener von Leubingen noch der von Helmsdorf ein ernsthafter Kandidat, als ihr Schöpfer in die Annalen einzugehen. Denn das Kupfer, aus dem die Himmelsscheibe hergestellt wurde, wurde nach derzeitigem Forschungsstand erst ab dem 18. Jahrhundert vor Christus in den österreichischen Alpen abgebaut. Aber wir sagten es ja bereits: Es muss noch viel mehr Herrscher gegeben haben.
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Sehen wir uns nun die Konsequenzen an: Die Verbindung mit der Himmelsscheibe wertet die Fürsten gewaltig auf. Die traditionelle Sichtweise sah in ihnen, kulturanthropologisch korrekt gesprochen, Häuptlinge. Dank der lokalen Salz- und möglicherweise auch Erzvorkommen schienen diese zu erstaunlichem Reichtum gelangt zu sein. Sie galten als Ausnahmeerscheinungen, die ebenso plötzlich wieder verschwanden, wie ihre mächtigen Grabhügel aufgehäuft worden waren. Trotzdem schien man zu spüren, dass der Begriff »Häuptling« nicht recht passte; es wurde weiterhin von »Fürsten« gesprochen, wenn auch in Anführungszeichen. Allenfalls von Prunk- statt Fürstengräbern redeten einige Wissenschaftler.
Doch die Häuptlingsthese gerät nun mächtig ins Wanken. Das kalendarische Wissen der Himmelsscheibe verlangt nach einer avancierteren Gesellschaft. Vor allem aber stehen 400 Jahre kontinuierliche Herrschaft dagegen. Kann Aunjetitz dann das Reich von Häuptlingen sein? Oder ist es der erste Staat auf mitteleuropäischem Boden? Folgt man dem Soziologen Stefan Breuer, geht die Antwort Richtung Staat. Häuptlingstümer seien aufgrund der Rivalitäten »ständig von Abspaltungen bedroht und deshalb meist nur von kurzer Dauer«, schreibt der Soziologe. Selbst die eindrucksvollen, mehrere Stämme umfassenden Verbände der Mississippi-Kultur – die als »Paramount Chiefdoms« bezeichnet werden – verfügten nur »über eine durchschnittliche Lebensdauer von maximal 50 bis 150 Jahren«. Auch in anderen Regionen sei »Instabilität ein wesentliches Merkmal, das Häuptlingstümer von Staaten trennte«. Der Staat hingegen, so Breuer, sei gewiss dies: »Herrschaft im Raum, über ein angebbares Gebiet und die darauf lebenden Menschen. Wenn man jedoch wissen will, ob es sich bei einer bestimmten Gebietsherrschaft um einen Staat handelt und nicht bloß um einen politischen Verband, kommt man ohne die longue durée, und damit die Dimension der Zeit, nicht aus.«
Bei 400 Jahren Herrschaft mit konstanten Handelsbeziehungen müssten wir also zum Stempel »Staat« greifen. Was uns zögern lässt: In der Checkliste für die Frage »Staat – ja oder nein?« können wir im Fall von Aunjetitz so wesentliche Punkte wie »Schrift« oder »Städte« nicht ankreuzen. Doch um hier eine endgültige Entscheidung zu treffen, ist es an dieser Stelle noch zu früh. Da uns jedoch die Frage bei den weiteren Forschungen begleiten wird und in Sachen Staat ohnehin einige Missverständnisse kursieren, wollen wir uns kurz mit ihr auseinandersetzen.
Aus der modernen Perspektive erscheint der Staat als beste aller Welten. Schon der griechische Philosoph Aristoteles sah in ihm die natürliche Form menschlichen Zusammenlebens. Es war das 19. Jahrhundert, das sich im Zeichen von Nationalstaat, Kolonialismus und Imperialismus aufmachte, die ganze Welt damit zu beglücken. Evolutionistische Fortschrittsmodelle dienten dazu, die eigene Überlegenheit über staatenlose, vulgo »primitive« Kulturen zu begründen. Bis heute stellen wir uns die Menschheitsgeschichte gern als das Erklimmen einer Stufe nach der anderen vor. Die Versuche, politische Systeme evolutionistisch zu typologisieren, werden zwar kritisiert, leben aber fort. Sehen wir uns die zentralen Begriffe an, von denen keiner unumstritten ist.
Es beginnt mit den Jägern und Sammlern, die uns schon beschäftigt haben. Die Menschen leben in kleinen egalitären »Gruppen« (selten findet noch der altertümliche Begriff »Horde« Verwendung). In diesen Face-to-Face-Gesellschaften kennt prinzipiell jeder jeden, Entscheidungen werden ausgehandelt, einen gesonderten Bereich des Politischen gibt es nicht. Dort, wo die Populationen größer wurden und das Zusammenleben sich nicht mehr im überschaubaren Rahmen abspielte, brauchte es neue Ordnungssysteme: »Lineages« bezeichnen Abstammungsgemeinschaften, die sich in der Regel über den Vater, seltener in der Mutterlinie definieren; mehrere Lineages bilden dann einen »Stamm«. Der Begriff »Clan« wird manchmal synonym mit Lineage, manchmal auch synonym für Stamm verwendet. Im Allgemeinen gilt: Während eine Lineage sich auf einen konkreten gemeinsamen Vorfahren bezieht, steht hinter einem Clan meist ein mythischer, nicht mehr fassbarer Urahn.
Diese »segmentären« (weil aus gleichrangigen Segmenten gebildeten) oder auch »akephalen« (hauptlosen) Gesellschaften zeichnen sich durch eine Abneigung gegenüber politischer Dominanz aus, ganz gleich, ob diese von einzelnen Personen oder Gruppen beansprucht wird. Trotzdem können sie mehrere Zehntausend Menschen umfassen.
Wo aber politisch ambitionierte Individuen (in den allermeisten Fällen sind das Männer) um Status, Besitz und Macht konkurrieren, spielt der strategische Einsatz von Gütern eine entscheidende Rolle. Geschenke oder große Feste dienen dazu, Loyalitäten und Abhängigkeiten zu schaffen und Gefolgschaften aufzubauen. Die Macht eines »Big Man« basiert auf seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit und seinen persönlichen Anführerqualitäten, dem Charisma. In Big-Man-Gesellschaften wird die erreichte Macht nicht vererbt, die Machtposition ist stets gefährdet.
Und zwar nicht nur durch Rivalen. Wir dürfen nicht vergessen: Die Gattung Homo hatte für Jahrhunderttausende unter egalitären Bedingungen gelebt. Führer gab es nur im Konfliktfall, danach ordneten sie sich wieder in die Gruppen ein. Da es an Besitz fehlte, war allein die persönliche Reputation als guter Jäger oder weise Frau für die relativ geringen Statusunterschiede in einer Gruppe verantwortlich. Wenn Menschen versuchen, dauerhaft über andere Menschen zu herrschen, sehen sie sich Widerständen gegenüber.
Wo es gelingt, die Autorität eines Anführers von einer Generation auf die nächste zu vererben, ist von »Häuptlingen« die Rede. Da manchen das Suffix »ling« als Herabsetzung erscheint, tauchen oft die Alternativen »Chief« und »Chiefdom« (anstelle von »Häuptlingstum«) auf. Um seine Macht abzusichern, führt der Chief seine Herkunft auf einen Urahnen oder die Götter zurück. Häuptlinge können sich dort etablieren, wo größere Populationsdichten und höhere Produktivität zu finden sind. Hier entsteht das, was Soziologen stratifizierte, also geschichtete Gesellschaften nennen: Die Menschen gehören jeweils zu einer bestimmten, mehr oder minder klar umrissenen sozialen Schicht oder Kaste.
Um die nächste Stufe zu beschreiben, die der Staaten, wird traditionell auf die Definition des Soziologen Max Weber zurückgegriffen. Weber bestimmte den Staat als »diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes … das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht«. Ethnologen wie Karl-Heinz Kohl sehen es ähnlich: »Ein bedeutsamer Unterschied von ›Häuptlingsgesellschaften‹ gegenüber staatlich organisierten Gesellschaften besteht in der Nichtexistenz eines Gewaltmonopols.«
Der Übergang ist fließend: »Die ersten Staaten ähnelten in vieler Hinsicht großen (d.h. aus einer Vielzahl von Dörfern bestehenden) Häuptlingsreichen«, schreibt Jared Diamond. »In puncto Größe setzen sie den Trend von der Gruppe über die Stammesgesellschaft zum Häuptlingsreich fort.« Je größer, umso komplexer und spezialisierter: Überschüsse werden abgeschöpft und umverteilt, um die elitengestützte Zentralgewalt, eine Verwaltung und den »Erzwingungsstab«, also Formen von Polizei oder Soldaten, zu unterhalten. In Staaten emanzipiert sich das politische System von den alten Verwandtschaftsbeziehungen, Institutionen treten an ihre Stelle. Das ist der Kontext, in welchem ab dem 4. Jahrtausend vor Christus in Mesopotamien die ersten Staaten entstanden, die auch die ersten Formen der Schrift entwickelten, um Verwaltung und Herrschaft so effizient wie möglich zu gestalten.
Aber das bedeutet längst noch keine Verbesserung der Lebensbedingungen: Für Gesellschaften, die den Pfad zu dem einschlagen, was gemeinhin als »Zivilisation« gilt, Städte, Schrift und intensive Arbeitsteilung entwickeln, um schließlich Staaten zu werden, konstatiert der Sozialwissenschaftler Peter Turchin: »Solche Gesellschaften werden hochgradig ungleich und despotisch.« Wir haben es also mit keinem unwiderstehlich ablaufenden, menschheitsverbessernden Fortschrittsprozess zu tun. Das Leben in Staaten ist die längste Zeit der Geschichte nur für einen geringen Teil der Menschen der Idealzustand gewesen.
Es gibt Kulturanthropologen wie Marvin Harris, die kein Blatt vor den Mund nehmen: »Die letzten fünf oder sechs Jahrtausende lang haben neun Zehntel aller Menschen, die je gelebt haben, ihr Dasein als abhängige Bauern oder Angehörige irgendeiner anderen dienstverpflichteten Kaste oder Klasse gefristet. Mit der Entwicklung des Staates mussten gewöhnliche Menschen, die sich den Reichtum der Natur nutzbar machen wollten, bei jemand anderen die Erlaubnis dafür einholen und dafür mit Steuern, Tributen oder Extraarbeit zahlen.« Und Harris setzt noch eins drauf: »Unter der Vormundschaft des Staates lernten Menschen erstmals, wie man sich verbeugt, buckelt, auf dem Bauch rutscht, kniet und Kratzfüße macht. In vieler Hinsicht war der Aufstieg des Staates der Abstieg der Menschheit aus der Freiheit in die Knechtschaft.«
Solchen Sichtweisen wird oft vorgehalten, sie verklärten das Leben in staatenlosen Gesellschaften. Aber es spricht einiges dafür, dass Anthropologen wie James C. Scott recht haben, wenn sie zu dem Schluss kommen, dass das Leben »außerhalb des Staates – das Leben als ›Barbar‹ – oftmals materiell einfacher, freier und gesünder gewesen war als das Leben all jener, die innerhalb der Staaten nicht zur Elite gehörten«.
Der Ethnologe Robert L. Carneiro vertrat deshalb die Ansicht, dass sich die frühen Staaten mit ihren steilen Hierarchien nur dort bilden konnten, wo natürliche Grenzen wie Wüsten, Meere oder Gebirgsketten die Abwanderung der unterdrückten Menschen verhinderten. Mit »Caging« brachte das der Soziologe Michael Mann in Anlehnung an Carneiros Theorien auf den Punkt: Ohne einen Käfig kamen die frühen Staaten nicht aus. So verkehrt ist das nicht: Schließlich wird das, was Weber »Erzwingungsstab« nannte, immer mal wieder als eine Form der Räuberbande, der Schutzgelderpressung gedeutet. Der amerikanische Historiker Charles Tilly bezeichnete die frühen Staaten als »größte Fälle organisierten Verbrechens«, und auch Steven Pinker schlägt in diese Kerbe. Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588–1679) habe falschgelegen, als er in seiner ebenso berühmten wie folgenreichen Schrift Leviathan behauptete, der Naturzustand der Menschen sei der Krieg aller gegen alle gewesen, erst der Staat habe diesem unsäglichen Umstand ein Ende bereitet. »Anders als Hobbes’ Theorie besagt, war keiner der frühen Staaten ein Gemeinwesen, das durch einen zwischen seinen Bürgern ausgehandelten Gesellschaftsvertrag mit Macht ausgestattet worden wäre«, schreibt der Harvard-Psychologe Pinker. »Es war eher eine Art Schutzgeldkartell, in dem mächtige Mafiosi den Einheimischen Ressourcen abpressten und ihnen im Gegenzug Sicherheit gegenüber feindseligen Nachbarn und untereinander anboten.«
Prinzipiell also hat Jared Diamond nicht unrecht, wenn er anmerkt, dass im Prinzip nur ein »gradueller Unterschied« zwischen Kleptokraten und weisen Herrschern bestünde, »der davon abhängt, wie hoch der Prozentsatz des Tributs ist, der in den Taschen der Elite verschwindet, und wie sehr dem einfachen Volk mit dem, wozu der umverteilte Tributanteil verwendet wird, gedient ist«.
Wir werden darauf zurückkommen. Hier ging es nur darum zu zeigen, dass erstens Staat nicht automatisch Fortschritt für alle bedeutet und sich zweitens die Entwicklung zu immer komplexeren Gesellschaften allenfalls über sehr lange Zeiträume hin bemerkbar machte und von zahlreichen Rückschlägen begleitet war: »Auf 1000-mal Vereinigung kam 999-mal Auflösung«, schreibt Diamond. Staaten sind in den alten Zeiten meist fragile Gebilde gewesen, ständig vom Kollaps bedroht. »Boom and Bust« nannten wir das an früherer Stelle.
Was wir aus alldem mitnehmen: Wenn das Scheitern, die Implosion der Normalfall war, demonstriert das die eigentliche Besonderheit des Reichs von Nebra: Hier gelang es, für mindestens 400 Jahre eine Herrschaft über die allseits begehrten fruchtbaren Böden aufrechtzuerhalten. Das ist die Zeit vom Dreißigjährigen Krieg bis heute! Wie konnte das gelingen? Und welchen Preis hatten die Menschen dafür zu bezahlen?
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Auch hier gilt: Die modernen Begriffe versperren den Blick auf das historische Geschehen. Begriffe schreiben die Dinge fest, sie behaupten, man habe es mit einer »Entität« zu tun, mit etwas konkret Seiendem, über das immer entschieden werden kann, es sei dieses oder jenes, aber nichts anderes. Wir haben es hier jedoch nie mit etwas Fertigem, Statischem zu tun, das anhand einer Checkliste klassifiziert und dann in die passende Schublade gesteckt werden kann. Wir beobachten ein Werden, über dessen Sein noch nicht entschieden ist.
Auch der französische Soziologe Pierre Bourdieu betont, dass der Staat keine »Entität« sei; nichts, was man »mit dem Finger berühren« könne oder über das sich sagen ließe: »Der Staat tut dies« oder »der Staat tut das«. Viel produktiver sei es, den Blick auf die tatsächlichen Handlungen zu lenken, also auf jene politischen Akte, die Wirkung erzielen, weil sie als »legitim« anerkannt werden, weil die Menschen an die Existenz jenes Prinzips glauben, mit dem diese Akte begründet werden. Was etwas verklausuliert klingt, führt für Bourdieu zur banalen, jedoch alles entscheidenden Frage: »Wie kommt es, dass die Beherrschten gehorchen?«
Das ist die Frage, die beantwortet werden muss, will man verstehen, wie es zu Jahrhunderte währender Herrschaft kommen kann. Denn Beherrschtwerden ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Bourdieu zitiert den schottischen Philosophen David Hume: »Nichts erscheint denen, die die menschlichen Angelegenheiten mit philosophischem Blick betrachten, erstaunlicher als die Leichtigkeit, mit der die vielen von den wenigen regiert werden, und die stillschweigende Unterwerfung, mit der die Menschen auf ihre eigenen Gefühle und Leidenschaften zugunsten derjenigen ihrer Führer verzichten.«
Folgt man Bourdieu, lassen wir uns beim Blick in die Geschichte von den verkehrten Phänomenen beeindrucken, von Dingen wie »Rebellionen, Subversionen, Insurrektionen, Revolutionen, während das Verblüffende, das Erstaunliche gerade das Umgekehrte ist: dass der Ordnung so oft gehorcht wird«. Problematisch sei gerade das Unproblematische: »Wie kommt es, dass die soziale Ordnung so leicht aufrechtzuerhalten ist, obwohl doch, wie Hume sagt, die Regierenden wenige, die Regierten aber viele sind und also zahlenmäßig die Übermacht haben?«
Halten wir fest: Uns interessiert weniger die Frage, in welche Schublade das Reich der Himmelsscheibe von Nebra wohl passen könnte. Uns interessieren viel spannendere Fragen: Wie entsteht hier erstmals Herrschaft in für Mitteleuropa unbekannten Dimensionen? Und wie gelang es den Fürsten, diese für Jahrhunderte aufrechtzuerhalten? Ein naturräumlich begrenzter Käfig stand ihnen im Herzen Europas keiner zur Verfügung. Und was hat die Himmelsscheibe damit zu tun?
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Nun haben wir reichlich Theorie betrieben. Bevor wir uns auf die Suche nach weiteren Herrschern begeben, gilt es zu prüfen, welche Hinweise die Fürsten von Leubingen und Helmsdorf selbst liefern, dass wir es im Fall von Aunjetitz mit einer viel komplexeren Gesellschaft zu tun haben, als man das in den letzten 100 Jahren für möglich gehalten hätte. Wir wollen ja keinem Phantom hinterherjagen.
Erinnern wir uns: Die Kultur von Aunjetitz, das haben kombinationssichere Archäologen rekonstruiert, ist hervorgegangen aus einer Verschmelzung der Kulturen der Schnurkeramik und der Glockenbecher. Beides sind heroische Gesellschaften gewesen. Über die Jahrhunderte hinweg vermischten sie sich, wobei die Glockenbecher in der Fundüberlieferung immer dominanter wurden, während die Erkennbarkeit der Schnurkeramiker schwand. Indizien, dass Gewalt dafür verantwortlich war, gibt es keine.
Nun bestätigen die genetischen Untersuchungen, dass sich hier tatsächlich Populationen vermischt haben. Während in der Mittelelbe-Saale-Region die schnurkeramischen Individuen gut 76 Prozent genetisches Steppenerbe aufweisen und die Glockenbecher 39 Prozent, pendelt sich dieser Wert bei Menschen aus Aunjetitz auf rund 54 Prozent ein. Auffallend, dass bei den Aunjetitzern der spezifische Anteil des genetischen Jäger und Sammler-Erbes höher war als bei Schnurkeramikern und Glockenbechern. »Das war hier ein richtiger Melting Pot«, sagt der Genetiker Wolfgang Haak. »Am Beginn der Frühbronzezeit muss es hier zudem noch Menschen gegeben haben, die deutliche Anteile mittelneolithischer Bauern-Signaturen in ihren Genomen hatten.« Vor diesem Hintergrund fangen die Fürstengräber von Leubingen und Helmsdorf zu schillern an. Sie illustrieren, wie sich die Vermischung von Populationen kulturell niederschlägt, und geben einen Einblick in jene Inszenierungsstrategien, mit denen die Fürsten ihre Herrschaft absicherten.
Auch wenn die Kultur der Schnurkeramik zum Ende des 3. Jahrtausends hin verblasst, greifen die Fürsten doch auf manches aus deren heroischem Arsenal zurück. So hatten die Schnurkeramiker aus der Steppe die imposante Sitte mitgebracht, die Toten unter weithin sichtbaren Hügeln aus Erde und Steinen zu begraben. Archäologen wie Gordon Childe und Marija Gimbutas prägten dafür den Begriff »Kurgankultur«. Die Fürsten aber steigerten das: Ihre Grabhügel waren um ein Vielfaches größer als die der Schnurkeramiker. Für Mitteleuropa, wo man zwar große Megalithgräber – »Hünengräber« – kannte, die aber in aller Regel Kollektivgräber waren, war das eine unerhörte individuelle Machtdemonstration.
Auch bei der Waffenüberausstattung griffen die Fürsten auf die Schnurkeramiker zurück: Manche von deren herausragenden Vertretern nahmen nicht nur eine Axt oder ein Beil mit ins Grab (Äxte übrigens haben ein Loch, Beile werden mit Schnüren oder Ähnlichem an einem Holzstab befestigt), sondern gleich mehrere in unterschiedlichen Kombinationen. Heroen brauchten schon immer mehr als eine Waffe: Bevor Gilgamesch und Enkidu losziehen, um den Wächter des Zedernwalds Humbaba zu töten, lassen sie sich gewaltige Beile und Schwerter machen. Inszenierungsstrategie Nummer eins der Aunjetitz-Herrscher: Der Fürst ist ein heroisches Individuum, das über allen anderen steht.
Inszenierungsstrategie Nummer zwei dagegen entstammt dem Arsenal der Glockenbecherkultur: Im älteren Grab von Leubingen finden sich Utensilien, die auf eine okkulte Profession verweisen: Metallurgie. Es gibt einen »Cushion Stone«, das ist ein rechteckiger, geschliffener Stein, der als Amboss oder Probierstein fungierte und den Klopfleisch für einen Schleifstein hielt. Auch das Set kleiner Meißel diente der Metallbearbeitung. Mit ähnlichem Werkzeug wird der Schmied der Himmelsscheibe Sonne, Mond und Sterne in der Bronze verankern. Die Botschaft: Die Fürsten sind Herren des Metalls.
Dann finden wir in beiden Fürstengräbern Statusobjekte, die nach Glockenbechersitte den hohen sozialen Rang ihres Besitzers symbolisieren: die Dolche zum Beispiel. Vor allem aber die goldenen Schläfen- oder Haarringe. Früher hielt man diese gewundenen Ringe für Ohr- oder Fingerschmuck. Dafür sind sie aber entweder zu groß oder zu klein. Tatsächlich wurden sie über eine Haarsträhne gezogen, sodass jedem Gegenüber die Würde ihrer Besitzer entgegenblitzte. Die ersten solcher Ringe finden sich in Gräbern des späten 4. Jahrtausends – und zwar im Kaukasus. Dank der neuen genetischen Erkenntnisse, die eine Wurzel der Glockenbecherleute im Osten enthüllten, scheint es nun so, als ob sie diese goldenen Insignien der Macht aus dem Kaukasus mit nach Europa brachten. Sie finden sich überall dort, wo sich die Glockenbecherkultur ausbreitete – vom heutigen Portugal bis auf die Britischen Inseln (auch der Amesbury Archer nahm zwei mit ins Grab). Inszenierungsstrategie Nummer drei: Die Fürsten sind Teil einer europäisch vernetzten Elite.
Inszenierungsstrategie Nummer vier lautet: mit Reichtum protzen! Dass die Fürstengräber viel größer waren als all die ihrer Vorgänger, sagten wir bereits. Auch die Goldausstattung stieß in neue Dimensionen vor. Nahmen die Eliten zuvor zwischen 5 und 15 Gramm Gold mit ins Grab, waren es jetzt 256 Gramm in Leubingen und 177 Gramm in Helmsdorf. Um das ansatzweise einschätzen zu können: Thomas Stöllner vom Deutschen Bergbau-Museum Bochum hat die Arbeitszeit berechnet, die bei einer goldreichen Mine in einem Haarring von 9,4 Gramm steckte. Er kam dabei auf 395 Stunden. In jedem einzelnen Gramm Gold steckte also eine gute 40-Stunden-Arbeitswoche. Allein mittels Masse signalisierten die Gräber: Ihre Fürsten spielten in einer ganz neuen Liga.
Das zeigten vor allem die massiven Goldarmringe, die mit 199,4 Gramm (Leubingen) und 128,2 Gramm (Helmsdorf) den Löwenanteil des Fürstengolds ausmachen. Sie sind Prunk pur. Vergleichbares hatte man in Mitteleuropa zuvor noch nicht gesehen. Der Eindruck, den sie machten, war so groß, dass hier eine langlebige Tradition begründet wurde, die das Reich von Aunjetitz überdauerte. Die späteren Provinzhäuptlinge werden sich mit einem goldenen Armring schmücken (wenn die auch oft nur hohl sind), und noch die fränkischen Könige des frühen Mittelalters werden welche tragen.
Inszenierungsstrategie Nummer fünf ist bemerkenswert: Das sind die Steinäxte in Leubingen und Helmsdorf. Die Archäologen von heute wissen, dass es sich im Fall der Leubinger Axt um einen steinzeitlichen Schuhleistenkeil handelte, der, als er dem Fürsten ins Grab gegeben wurde, bereits eine sagenhafte Antiquität mit einem Alter von über 2500 Jahren war. Damit wurden keine Bäume gefällt, er diente als Keil zum Spalten von Stämmen. Er ist von so ungewöhnlicher Größe und ausgezeichneter Verarbeitung, dass er selbst unter den vielen Tausend Stücken des Museums in Halle seinesgleichen sucht. Zwar ist die Helmsdorfer Steinaxt aus dunklem Diorit wohl nur 1000 Jahre älter als die Fürsten gewesen, mit ihrem Gewicht von 500 Gramm aber war auch sie ein imposantes Stück. Nicht umsonst hatte der Baron von Krosigk sie sich als Geschenk erbeten. Am Anbeginn der Bronzezeit indes wusste niemand etwas über die tatsächliche Herkunft solcher Äxte – und das provozierte die mythengebärende Fantasie der Menschen.
Noch im Volksglauben der Neuzeit galten steinzeitliche Äxte und Beile als vom Donnergott auf die Erde geworfene Blitze. Selbst in Kirchen wurden »Donnerkeile« neben anderen Raritäten ausgestellt. Eine Steinaxt, die der von Leubingen ähnelt, hängt an einer Kette im Dom von Halberstadt, daneben ein großer Knochen, von dem es mal hieß, er stamme von einem vorsintflutlichen Tier, mal war er der Wirbelknochen des biblischen Walfischs, in dessen Bauch der Prophet Jona saß.
Unbekannte Objekte, vor allem, wenn sie ungewöhnliche Ausmaße hatten, zogen die Menschen schon immer in ihren Bann. Ein eindrückliches Beispiel ist die Geschichte von den Kyklopen, jenen einäugigen Riesen, deren berühmtester Polyphem war. Wir kennen ihn als Unhold, der auf einer Insel Odysseus mitsamt Gefährten verspeist hätte, wäre Odysseus nicht auf die Idee gekommen, ihn zu blenden und anschließend mit der List zu täuschen, sein Name sei »Niemand«. Der Kern der Geschichte? Noch bis vor wenigen Jahrtausenden lebten auf manchen Mittelmeerinseln Zwergelefanten. Deren als Fossilien gefundene, immer noch gewaltige Schädel verwunderten die Griechen; vor allem das riesige mittig gelegene Nasenloch regte die Fantasie an. Das konnten ja nur die Schädel einäugiger Giganten gewesen sein! Mythen erklärten die Welt, sie waren die Wissenschaft ihrer Zeit.
Von daher glauben wir, dass auch die Fürsten von Aunjetitz in den gewaltigen Steinäxten Gerätschaften riesenhafter Vorfahren sahen. Welche andere Erklärung hätte es gegeben? Und sie werden sich ihrer bedient haben, um sich selbst als die Nachfahren der Riesen der Vorzeit zu inszenieren. Jede Herrschaft beruft sich mit Vorliebe auf glorreiche Vorfahren, so, wie es zur Zeit des ersten römischen Kaisers Augustus Vergil tat, der den aus dem brennenden Troja geflohenen Aeneas als Stammvater der Römer besang. Zu den Fürsten der frühen Bronzezeit mit ihren riesenhaften Grabhügeln passten Riesen als Vorfahren bestens. Dienten die gewaltigen Äxte einst als Zepter? Der britische Historiker Eric Hobsbawm hat für solche Legitimationsstrategien den Terminus »Invention of Tradition« geprägt, die Erfindung von Traditionen.
Und dann ist da noch Inszenierungsstrategie Nummer sechs: der Herrscher als großer Versöhner. Gerade dadurch, dass die Fürsten in ihren Gräbern ein buntes Potpourri aus Schnurkeramik und Glockenbecher verwenden, drängt sich der Verdacht auf, es sollte hier eine symbolische Versöhnung vollzogen werden. Zu einer solchen Einheitskultur würde passen, dass der Fürst von Leubingen auf dem Rücken liegend bestattet wurde. Wir erinnern uns: Schnurkeramiker lagen auf der Seite nach Süden blickend, Glockenbecher sahen nach Osten. Die Dimensionierung der Totenlade des Helmsdorfers spricht dafür, dass dieser auch auf dem Rücken aufgebahrt wurde und nicht, wie die Ausgräber angesichts des schlechten Skelettzustands vermuteten, auf der Seite. Sich als Friedensbringer zu inszenieren, der über den Interessensgegensätzen einer Gesellschaft steht und ihre Spaltungen überwindet, das ist bis heute eine geschickte Herrschaftsstrategie.
Wir finden also in den Fürstengräbern ein ganzes Arsenal an Legitimationsmitteln. Gerade die Bandbreite lässt vermuten, dass wir es mit einer komplexen, differenzierten Gesellschaft zu tun haben. Gewalt oder Reichtum allein reichten längst nicht mehr aus, um die vielen dazu zu bringen, den wenigen zu folgen (um noch einmal David Hume zu bemühen). Die Fürsten hatten eine Fülle von Strategien der Herrschaftsinszenierung kultiviert, von denen vielen eine große Karriere vergönnt sein sollte.
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Nun findet sich in den Fürstengräbern auch ein direkter Beleg für die sorgsam stratifizierte Welt von Aunjetitz: Das sind die goldenen Gewandnadeln, von denen beide Fürsten je zwei mit ins Grab nahmen. Wegen der gegossenen Ösen am oberen Ende heißen sie Ösenkopfnadeln, mittels eines Fadens verschlossen sie ein Gewand. Jeder, der die ebenso filigranen wie exakt gearbeiteten Nadeln aus der Nähe betrachtet, ist fasziniert von der hervorragenden Goldschmiedearbeit. Es sind kostbare, außergewöhnliche Stücke – in Gold zumindest. Denn ansonsten weist die aktuelle archäologische Bestandsaufnahme im Bereich Mitteldeutschlands 117 Ösenkopfnadeln aus. Wir wollen uns hier nicht mit den feinen Unterschieden ihrer Varianten aufhalten. Wichtiger ist, dass sie einen Spiegel der Aunjetitzer Gesellschaft darstellen. Am Landesamt für Archäologie in Halle wurden die Nadeln jüngst zusammengetragen. Dabei zeigte sich, dass ein festgelegter Kodex existierte, der vorgab, wer wie viele Nadeln aus welchem Metall mit ins Grab nehmen durfte. »Natürlich bleibt fraglich«, sagt die Archäologin Franziska Knoll, eine der Autorinnen der Studie, »ob innerhalb der Aunjetitzer Gesellschaft die Nadeln selbst als Statusanzeiger dienten, oder ob das nicht die kostbaren Gewänder waren, die von den Nadeln zusammengehalten wurden.«
Die entsprechende Analyse der Bestattungen deutet auf eine sorgsam stratifizierte Gesellschaft hin. Die da oben und die da unten sind selbst noch im Tod deutlich voneinander geschieden. An der Spitze der Grabbeigabenpyramide stehen die Fürsten mit ihrem kodifizierten Ornat. Allein ihnen waren zwei goldene Exemplare vorbehalten. Darunter erscheint als zweite Schicht jene derer, die einen oder zwei Schläfenringe aus Gold trugen und in der Regel zwei bronzene Ösenkopfnadeln besaßen: die Würdenträger des Reichs von Aunjetitz. Mitunter haben sie ein Beil oder einen Dolch dabei. Immer noch der Oberschicht zuzurechnen ist die dritte Schicht, der Bronzeschmuck, wie eine oder zwei Ösenkopfnadeln, beigegeben war. Einige entsprechend ausgestattete Kindergräber lassen vermuten, dass sozialer Status vererbt wurde. Als vierte, breite Schicht zeichnen sich jene ab, die lediglich Keramik, meist nur eine Tasse, mit ins Grab nehmen durften. Und an der Basis der gesellschaftlichen Pyramide finden wir als fünfte Schichte jene, die ohne Beigaben unter die Erde mussten – oder denen ein Grab sogar ganz verwehrt blieb.
Während den unteren Schichten ihre letzte Ruhe nur in einfachen Erdgräbern bereitet wurde, erhielten die besser gestellten Kreise Steinkistengräber, teils sogar mit Holzeinbauten. Wie luxuriös die Fürstengräber ausgestattet waren, haben wir bereits bestaunt. Wie im Leben galt auch im Tod: Die einen waren herausragende Personen, um die Masse wurde kein Aufheben gemacht.
In dieser Welt wurde kaum etwas dem Zufall überlassen, es existierte wenig Raum für Individualität. In anderen Gebieten, die traditionell der Aunjetitzer Kultur zugerechnet werden, sah das anders aus. »In Böhmen haben wir keine so reichen Grabhügel wie in Mitteldeutschland«, sagt Michal Ernée vom Archäologischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag, »dafür sind die normalen Flachgräber hier im Durchschnitt unvergleichbar reicher ausgestattet als die mitteldeutschen Gräber.« In Böhmen existiert auch kein direkter Zusammenhang zwischen der Grabarchitektur und dem Reichtum an beigegebenen Metallartefakten. »Es sind komplexe Steineinbauten aus mehreren Steinarten zu finden, in denen Menschen ganz ohne Beigaben lagen. Umgekehrt gibt es an Beigaben sehr reiche Bestattungen in einer flachen, einfachen Grabgrube ohne Steine oder Holzsarg.« Der Blick nach Böhmen macht deutlich, mit was für einer ungewöhnlich hierarchisierten und normierten Gesellschaft wir es in Mitteldeutschland zu tun haben.
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Jetzt haben wir in diesem Kapitel gehörigen Aufwand betrieben, um auf der schmalen Basis zweier Fürstengräber die ersten Umrisse eines Reichs zu skizzieren, das so komplex erscheint, dass es nicht nur als Kandidat für das erste mitteleuropäische Staatswesen gelten kann, sondern auch zur Himmelsscheibe passt. Aber ehrlich gesagt: Zwei Fürstengräber – ist das nicht ein bisschen wenig?
Bevor wir uns auf die Suche nach weiteren Grabhügeln begeben, müssen wir uns aber der sterblichen Überreste des Fürsten von Helmsdorf annehmen. Dank seines wenigstens fragmentarisch erhaltenen Skeletts ist er das einzige bisher konkret fassbare Individuum aus der Sphäre der Himmelsscheibe. Deshalb haben wir ihn genau unter die Lupe nehmen lassen. Und es ist nicht übertrieben, von sensationellen Dingen zu sprechen, die seine Knochen zu erzählen haben. Sie bestätigen ganz handfest, was wir in diesem Kapitel vor allem theoretisch postulierten: Die Entstehung von Herrschaft ist etwas, das einerseits einzelne Menschen in überaus privilegierte Positionen katapultierte, das sie aber andererseits auch auf heftigen Widerstand stoßen ließ.