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Armeen der Bronzezeit

Wie die Himmelsscheibe von Nebra ist der Bornhöck, der größte mitteleuropäische Grabhügel der Bronzezeit, eine Provokation: Beide sind das Produkt menschlicher Anstrengungen, die wir uns bisher in diesem Teil Europas zu dieser Zeit nicht vorstellen konnten. Sie zwingen uns, Antworten zu finden, wie so etwas überhaupt möglich war. Der Bornhöck repräsentiert ja nicht nur eine gewaltige Arbeitsleistung. Der in ihm bestattete Fürst stellt die Krone einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft dar; als neu entdeckte Spitze lässt er die gesellschaftliche Pyramide der frühen Bronzezeit so steil in die Höhe aufragen, wie wir das nur aus den Hochkulturen kennen. Für hiesige Verhältnisse hatte man es geradezu mit einem Pharao des Nordens zu tun. Und das provoziert die Frage: Wie konnte sich ein Regime halten, das mit massiver sozialer Ungleichheit einherging? Was war die Grundlage der Herrschaft? Worauf beruhte die Macht? Um uns Pierre Bourdieus Frage in Erinnerung zu rufen: Wie brachte der eine da oben die vielen da unten dazu, sich in ein normiertes System sozialer Abstufungen zwängen zu lassen und für monumentale Grabanlagen zu schuften?

Reichtum genügt als Antwort nicht. Die guten Böden, das Salz, die zentrale Lage als Drehscheibe des Bronzezeithandels schufen die Überschüsse, mit denen sich die Elite finanzierte. Doch das weckte auch Begehrlichkeiten – wir haben gesehen, wie sich zuvor die Kulturen abwechselten und zu welchen Konflikten es dabei kam. Hier boten keine natürlichen Grenzen wie Wüsten oder Gebirge Schutz. Trotzdem zeigt die Archäologie: Die Menschen lebten mindestens 400 Jahre in Frieden, wohnten in unbefestigten Siedlungen übers Land verteilt, nicht gezwungen, sich dicht zusammengepfercht hinter Mauern oder Erdwerken zu verschanzen. Was also ist das Geheimnis der Herrscher von Aunjetitz?

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Die Antwort verdanken wir wieder einmal dem Autobahnbau. Diesmal einem Zubringer von der B85 zur neuen A71 bei Dermsdorf. Autobahnkundige Leser werden aufhorchen: Nur eine Ausfahrt weiter liegt die Raststätte »Leubinger Fürstenhügel«. Unter der Leitung von Mario Küßner legten die Ausgräber des Thüringischen Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie dort eines der größten bisher in Mitteldeutschland entdeckten Häuser der Bronzezeit frei. 44 Meter lang und 11 Meter breit, lag es für sich allein. Schon hieß es in der Presse, der dreischiffige Pfostenbau sei eine »Kathedrale der frühen Bronzezeit«, die »Prunkhalle des Fürsten von Leubingen«. Schließlich befand sich dessen Grab in Sichtweite.

Mit der einen Schmalseite touchierte das Langhaus einen schnurkeramischen Grabhügel. Vor der anderen Schmalseite aber – dem Eingang – stießen die Archäologen auf ein Keramikgefäß, das in der Mittelachse des Hauses platziert war. Randvoll gefüllt mit Beilen. 98 Stück. Dazu noch zwei Stabdolche als Gussrohlinge, alles in allem 25 Kilogramm schwer. Nun sind solche Depots in der Bronzezeit keine Seltenheit. Gerätschaften aus Metall wurden allerorten als Horte der Erde anvertraut – von der Atlantikküste bis zum Schwarzen Meer, von Südschweden bis zum Mittelmeer. Auch die Himmelsscheibe von Nebra mit ihren Beifunden ist ein Hort. Manche Forscher vertreten die Ansicht, es handle sich um versteckte Schätze oder vergessen gegangene Händlerdepots. Doch insgesamt überwiegt die Auffassung, in ihnen die Objekte eines ganz besonderen Handels zu sehen – des Handels mit den Göttern. Die Menschen übergaben sie der Erde, um eine Schuld zu begleichen; sie opferten sie, um die Götter oder die Mächte der Natur zu einer Gegenleistung zu verpflichten. Denn eine Gabe verlangt nun einmal nach einer Gegengabe.

Doch der Fund von Dermsdorf brachte uns auf eine andere, eine ganz banale Idee, nämlich die, dass diese Beile vor allem das sind, was sie sind: Beile, also Waffen. Mitunter werden bronzezeitliche Beile wie auch die oft in Bündeln vorkommenden Ösenhalsringe als vorgeschichtliche Metallbarren betrachtet; es war immer schon ökonomischer, das fertige Metall zu transportieren als das Erz. Aber ginge es hier allein um die Barren, verwunderte erstens der Umstand, dass im Dermsdorfer Fund auch gebrauchte Beile enthalten waren (andere Beilhorte bestehen sogar komplett aus benutzten Exemplaren); zweitens erstaunten dann die beiden Stabdolchklingen.

Nimmt man die Beile indes als Beile und die Stabdolche als Stabdolche und folgt dem offensichtlichen Bezug zum Langhaus, drängt sich eine einfache Deutung auf: Bei dem Haus handelte es sich um die Unterkunft oder den Versammlungsort jener Männer, deren Waffen dort deponiert waren. Aus der Ethnografie kennen wir vielerorts Männerhäuser. Sie dienten als Versammlungs-, Aufenthalts-, oftmals auch als Schlafstätte der Männer, zudem als Depots für Waffen, Masken und Kultgerät. Frauen und Kindern war der Zutritt untersagt.

Demnach wäre dies ein Haus für 100 Männer gewesen. Betten der Bundeswehr haben heute eine Breite von 90 Zentimetern. 100 von ihnen würden also nebeneinandergestellt 90 Meter ergeben. Die beiden Längsseiten des Hauses ergeben zusammen 88 Meter. Da die Durchschnittsgröße von Männern in Aunjetitz bei knapp 1,68 Meter lag und auch das Totenbett des wohlgenährten Fürsten von Helmsdorf mit einer Breite von 65 Zentimetern auskam, waren die bronzezeitlichen Schlafstätten sicher einige Zentimeter schmaler und hätten somit noch den beiden Anführern den ihnen gemäßen Platz geboten. Denn das wäre die nächste Konsequenz aus unserer Theorie: Wir haben es mit 98 Beil- und zwei Stabdolchträgern zu tun. Zu allen Zeiten gilt: Jede Truppe von Kriegern hat Anführer. Stabdolche waren eine in Europa weitverbreitete Waffe, bei der eine Dolchklinge wie ein Beil an einen Holz- oder Bronzestab geschäftet war. Sie diente ausschließlich dem Menschentöten und tauchte im Kontext herausgehobener Personen auf. Ein Stabdolch ist eine Insignie der Macht.

Die Nähe des Langhauses von Dermsdorf zum Leubinger Fürsten wird kein Zufall sein (auch zeitlich passt es). Handelte es sich um seine Leibgarde? Hatte er hier seine Truppe stationiert? Auch die Überausstattung an Waffen im Fürstengrab ergibt dann Sinn: So, wie ein Stabdolch einen Offizier repräsentiert, stehen doppelte Dolche und Beile für die fürstliche Befehlsgewalt. Der Fürst inszeniert sich also im Grab nicht nur als Herr des Metalls und Erbe der Riesen der Vorzeit, sondern auch als Befehlshaber seiner Armee.

Die Lage ist strategisch klug gewählt. Von hier lässt sich der Norden des Thüringer Beckens überwachen, der von den Höhenzügen des Kyffhäusers, der Hohen Schrecke und der Hainleite nach Norden begrenzt wird, und die wichtige Fernverbindung der Porta Thuringica kontrollieren. Möglicherweise hat der Fürst die Waffen an seine Truppen ausgegeben, diese deponierten sie nach seinem Tod vor dem gemeinsamen Kulthaus. Der neue Fürst gab dann wieder neue Waffen an jene Krieger aus, die ihm dafür den Eid leisteten. Die metallurgischen Hortanalysen stützen diese These: Die Beile innerhalb eines Horts bestehen meist aus so ähnlichem Metall, dass es aus ein und derselben Quelle stammen muss. Gerade wenn sie Abnutzungsspuren aufweisen, belegt das, dass sie von einer Gruppe gemeinsam gebraucht und gemeinsam deponiert wurden.

Gab es an anderen Punkten ebenfalls solche Männerhäuser? In Zwenkau, südlich von Leipzig, fand sich ähnlich strategisch günstig positioniert ein Langhaus, das es sogar auf eine stolze Länge von 57 Metern brachte. Dreischiffig wie in Dermsdorf, lag es abseits einer Siedlung, die aus ansonsten zweischiffigen Häusern bestand. Wieder war das Haus direkt über schnurkeramischen Hinterlassenschaften angelegt worden, diesmal waren es zwei Gräber, die von einem Kreisgraben eingefasst waren. Legt man nun den gleichen Quotienten wie für Dermsdorf an, wäre dieses ein Haus für 126 Männer gewesen. Bemerkenswerterweise fand sich im einige Kilometer entfernten Schkopau ein Depot von 124 Beilen. Das wird zwar nicht zum Zwenkauer Stützpunkt gehört haben, zeigt aber, dass es diese Kontingentgröße tatsächlich gab. Denn zählt man zu den 124 einfachen Beilträgern noch zwei Anführer dazu, die ihre Stabdolche womöglich anderswo deponierten, kommt man tatsächlich auf 126 Mann.

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Armeen bereits in der frühen Bronzezeit? Bisher hielt man das für ein Ding der Unmöglichkeit. Zumeist werden für das Neolithikum und die Bronzezeit nur sippengebundene Fehden oder überfallartige Raubzüge angenommen, größere kriegerische Auseinandersetzungen brachte man frühestens mit dem Ende der Bronzezeit und der Eisenzeit in Verbindung. Liest man indes Quellen, die aus römischer Perspektive über die Völker nördlich der Alpen berichten, stellt sich die Frage nach deren Vorgeschichte. Denn das, was damals Rom in Angst und Schrecken versetzte, kann ja nicht einfach aus dem Nichts aufgetaucht sein. Bereits der erste größere Zusammenprall mit den als barbarisch empfundenen keltischen Stämmen führte 387 vor Christus bei der Schlacht an der Allia zu einer verheerenden römischen Niederlage, die mit der Plünderung Roms endete. Auch die folgenden Kriege mit dem Norden entsetzten die mediterranen Betrachter – vor allem wegen der großen Anzahl von »Barbaren« und deren Kampfkraft. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die antiken Quellen maßlos übertreiben, und deshalb nur zehn Prozent der angegebenen Truppengrößen annehmen, ergäbe das im Fall der Kimbernkriege immer noch ein Heer von 40 000 Kriegern. Da sich Wirtschaftsweise und Bevölkerungszahlen in den beiden vorchristlichen Jahrtausenden nicht grundsätzlich geändert haben, wären also die Grundlagen für die Existenz größerer Truppenkontingente bereits in der Bronzezeit gegeben gewesen.

Diese Annahmen werden unterstützt durch eine der wichtigsten archäologischen Entdeckungen der letzten Jahre in Deutschland. So idyllisch sich die Tollense durch die grüne Talaue im südlichen Mecklenburg-Vorpommern windet, so grausig war das, was die Archäologen dort vorfanden. Aus den Uferböschungen ragten Skelettreste, Pfeilspitzen steckten in Armknochen, Holzkeulen muteten mal wie Baseball-, mal wie Krocketschläger an. Die großflächige Ausgrabung förderte Skelett über Skelett zutage, die fast ausschließlich von jungen Männern stammten. Ihre Verletzungen lassen keinen Zweifel: Hier tobte vor 3300 Jahren eine Schlacht. Die Leichen wurden geplündert und dann liegen gelassen. Das Tal muss einst ein bestialischer Ort des Schreckens gewesen sein. Die Schätzungen der Archäologen gehen von bis zu 6000 am Kampf beteiligten Kriegern aus. Die Machart der Pfeilspitzen wie die Isotopenanalysen der Zähne sprechen für einen großen Anteil von Kriegern aus dem Süden. Die Schlacht an der Tollense datiert um das Jahr 1300 vor Christus; das sind gerade 300 Jahre, nachdem die Himmelsscheibe von Nebra auf dem Mittelberg vergraben wurde. Armeen auch in der frühen Bronzezeit? Kein Ding der Unmöglichkeit.

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Tollense.tif

28 Krieg in der Bronzezeit: Die Archäologen gehen von bis zu 6000 Kriegern aus, die vor gut 3300 Jahren in der Schlacht an der Tollense aufeinandertrafen. Karol Schauers Rekonstruktion beruht auf den zahlreichen im Talgrund gemachten Funden.

Wir sind überzeugt, damit den Schlüssel zum Verständnis des Reichs der Himmelsscheibe gefunden zu haben. Sehen wir uns zunächst die weiteren Konsequenzen an, die aus der These resultieren, dass sich hinter den Waffenhorten tatsächlich existierende Kriegerverbände verbergen und ihre Zusammensetzung die militärische Hierarchie widerspiegelt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zahlreiche Horte bereits im 19. Jahrhundert beim Pflügen entdeckt wurden und damit nie sichergestellt ist, ob auch alle Objekte ins Museum gelangten. Manches Beil blieb in der Erde, war vielleicht schon früher gefunden worden oder wurde als Souvenir behalten – bei so vielen Stücken scheint es ja nicht schlimm, wenn eines fehlt. Da aber die Horte regelhaft in Gefäßen deponiert wurden, ist von einer gewissen Vollständigkeit auszugehen.

Auffällig ist, dass die Horte in der Regel nicht etwa nur aus Beilen oder Dolchen, sondern oft aus verschiedenen Waffentypen bestehen. Diese weisen spezifische Verteilungsmuster auf, die sich auch in der Gesamtsumme aller Waffen widerspiegeln. Insgesamt fanden sich in Mitteldeutschland 1174 Beile, dazu 36 Stabdolche, 20 Dolche und 11 Doppeläxte. Auf etwa 30 Beilträger kam also ein Stabdolchträger, auf 60 Beilkrieger ein Dolchträger und auf etwa 120 Beilträger der Träger einer Doppelaxt. Dieses Muster erinnert an die Kommandostruktur von Armeen. Jede Einheit hat einen Anführer, dessen Rang umso höher ist, je mehr Soldaten ihm unterstellt sind. Die Zahlenverhältnisse ähneln denen, wie wir sie aus dem römischen Heer der Kaiserzeit mit Zenturie, Manipel, Kohorte, Legion kennen oder dem preußischen Heer, das in Zug, Kompanie, Bataillon, Regiment gegliedert war. Die Waffen fungieren also zugleich als Rangabzeichen und bilden die Militärhierarchie ab. Das Beil steht für einen einfachen Soldaten, ein Stabdolch für das bronzezeitliche Äquivalent eines Unteroffiziers, der Dolch für einen Offizier, die Doppelaxt möglicherweise für eine Art General.

Faszinierend an neuen Theorien ist, wenn sie sich als fruchtbar erweisen und ihrerseits zu weiteren Hypothesen führen, die sich dann bestätigen. Bronzewaffen im Museum erscheinen uns heute alle mehr oder minder als gleich grün patiniert. Sieht man sich aber unter der Prämisse, dass sie militärische Ränge repräsentieren, die Metallzusammensetzung an, fällt auf: Die vielen Beile bestehen mehr oder minder alle aus Kupfer. Die Waffen der angenommenen Offiziere aber, die Dolche, Stabdolche oder Doppeläxte, haben in der Regel Beigaben von Arsen, Antimon oder Zinn. Das macht sie nicht nur härter als die Beile der einfachen Soldaten. Vor allem verändern die Legierungen die Farbe zu Silber und im Fall von Zinn zu Gold. Das stärkt ihren Charakter als Repräsentationswaffen und Distinktionsmittel: Die Hierarchie springt so noch viel mehr ins Auge.

Ein weiteres Indiz für die Armeethese: Die allermeisten Aunjetitzer Beilhorte sind durch sieben teilbar. Dabei gibt es Hinweise, dass damals schon das Dezimalsystem benutzt wurde: Kupferne Spangenbarren im bayerischen Oberding etwa waren mit Baumbast zu Bündeln von je zehn Stück zusammengeschnürt, von denen wiederum zehn ein Paket ergaben, das 100 Spangenbarren umfasste. Die Dominanz der Sieben in den Beilhorten deutet deshalb womöglich auf einen funktionellen Grund hin. Sieben ist eben nicht nur die Plejadenzahl, sie ist auch die »Millersche Zahl«. Der Psychologe George A. Miller hatte in Experimenten nachgewiesen, dass Menschen im Schnitt nur sieben Informationseinheiten gleichzeitig im Kurzzeitgedächtnis präsent halten können. Schon der englische Philosoph John Locke (16321704) war zu dem Ergebnis gekommen, dass Menschen, die eine größere Anzahl von Gegenständen einen kurzen Augenblick lang zu sehen bekommen, bei bis zu sieben Objekten eine Trefferquote von fast 100 Prozent haben. Bei mehr als sieben fällt diese Quote schlagartig ab. Die Kapazität des menschlichen Auffassungsvermögens scheint damit der Grund zu sein, dass militärische Trupps als kleinste Kampfeinheiten fast immer aus sieben bis acht Personen bestehen. Im Gefecht gilt es, auf einen Blick zu erkennen, ob alle da sind. Warum sollten nicht auch in Aunjetitz sieben Krieger die kleinste Einheit gebildet haben?

Doch ist das nicht alles reine Spekulation? Nun gebietet das gute alte scholastische Prinzip der Parsimonie, auch als »Ockhams Rasiermesser« bekannt, unter verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten jener den Vorzug zu geben, welche die sparsamste ist, also die mit der geringsten Anzahl von Prämissen auskommt. Und die Annahme, dass ein Haufen Waffen nun einmal ein Haufen Waffen ist, ist an Einfachheit schwerlich zu übertreffen. Und sie erklärt eine ganze Reihe von Auffälligkeiten, die ansonsten rätselhaft bleiben.

Zunächst passt die Existenz von Truppen bestens zu dem Befund, dass in Aunjetitz die große Masse der Männer ohne Waffen ins Grab gelegt wurde – im Gegensatz zu den Kulturen davor und danach. Allein der Fürst und einige Vertreter der Elite, vielleicht die Kommandanten, erhielten Waffenbeigaben. Deshalb auch die Überausstattung der Fürsten: Sie inszenieren sich als die Herren der Waffen. Dann passt eine strenge Militärordnung bestens zur penibel stratifizierten Gesellschaft von Aunjetitz. Eine reglementierte Hierarchie, in der Menschen durch in die Augen springende Attribute ihren Rang signalisieren – wir erinnern an die Ösenkopfnadeln –, ist eine Innovation der frühen Bronzezeit. Ein Armeewesen liegt genau in dieser Konsequenz.

Entsprechend ist es auch kein Zufall, dass wir eine Ballung der Beilhorte ausgerechnet rund um Dieskau finden, der reichsten Region mit dem Bornhöck als absolutem Ausnahmegrab. Die größten Horte bestehen hier aus gut je 300 Beilen. In Sachen Grab, Gold und Truppen gilt: Der König beansprucht ein Vielfaches von dem, was einem Fürsten wie dem von Leubingen zustand.

Schließlich erklären Armeen, wieso es den Aunjetitzern gelang, sich für Jahrhunderte auf den besten Böden festzusetzen und den Handel zu kontrollieren. Invasionsversuche sind archäologisch keine nachzuweisen. Trotz intensiver Suche entdeckte die Arbeitsgruppe um Peter Ettel, Professor für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Jena, weder Befestigungsanlagen noch Höhensiedlungen. Die Menschen siedelten über das Land verstreut; dort, wo es am praktischsten, nicht, wo es am sichersten war. Die Dörfer mit ihren in Ost-West-Richtung orientierten Langhäusern reihten sich perlschnurartig entlang der Flüsse, dahinter lagen direkt die Felder. Bisher fanden wir kein einziges Haus, das bei einem kriegerischen Ereignis in Schutt und Asche gelegt worden wäre. Wir haben es ja ausführlich dargestellt: Über Jahrtausende war dieses schwarzerdige Paradies heiß umkämpft; sollte es nun einfach so dagelegen haben, offen für jedermann – und keiner wollte es? Oder gewährleisteten an strategischen Punkten stationierte Truppen den Schutz?

Erinnern wir uns an die gewaltigen Mahlsteinfunde aus dem Bornhöck: Während ansonsten Familien das Mehl für den Eigenbedarf selbst mahlten, waren diese Steine nicht nur zu groß dafür, sie benötigten eigene Konstruktionen, die in gesondert errichteten Gebäuden installiert waren. Roberto Risch wies darauf hin, dass die Arbeit an ihnen wohl nur von Sklaven oder Kriegsgefangenen verrichtete Zwangsarbeit gewesen sein konnte. Nicht nur, dass die mögliche Existenz von Sklaven ein weiteres ins staatliche Gesamtbild passendes Puzzlestück darstellen würde; die monströsen Mahlsteine selbst sind der Beleg für die zentrale Sammlung, Verarbeitung und Verteilung von Ressourcen. Es ist kein abwegiger Gedanke, dass sie dazu dienten, das Mehl für die Soldaten zu produzieren. Übrigens wieder eine bemerkenswerte, aber zufällige Parallele über die Jahrtausende hinweg: Die Mahlsteine, die das Mehl für die Truppen der Bronzezeit produziert haben könnten, ruhen heute im Hallenser Museumsdepot – das in einer gigantischen ehemaligen Heeresbäckerei der Wehrmacht unweit der Saale untergebracht ist. Hier wurden Kommissbrote für Soldaten zu Abertausenden gebacken.

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Damit hätten wir also in Aunjetitz das vorgefunden, was Max Weber mit dem sperrigen Wort »Erzwingungsstab« bezeichnete: das Monopol auf legitime Gewaltausübung. Die meisten Staatsdefinitionen sehen darin das Hauptunterscheidungskriterium zwischen Häuptlingstum und Staat. Demnach hätten wir es hier also neben der langen Dauer des Reichs von Nebra, der Existenz von komplexem Wissen und einer ausgeprägten Hierarchisierung mit einem weiteren fundamentalen Argument für ein Staatswesen zu tun. Das aber hatte seinen Preis: Unter dem System von Aunjetitz lebten die Bauern vermutlich sicher und lange Zeit in Frieden, mussten aber erhebliche Abgaben leisten, um die Soldaten ebenso wie den Prunk der Fürsten zu finanzieren. Dank der hochproduktiven Böden war diese Last jedoch wahrscheinlich leichter zu erbringen als andernorts.

Zugleich erklärt sich so, dass der Reichtum der Aunjetitzer Fürsten eben nicht primär, wie traditionell vermutet, in der Ausbeutung der Rohstoffquellen Salz und Kupfer im Harzvorland lag, sondern in der Sicherung der perfekten verkehrsgeografischen Lage. Diese erlaubte es den Fürsten, den Handel zwischen Nord und Süd über Jahrhunderte hinweg zu kontrollieren. Und das Kontrollieren muss man im Fall von Aunjetitz sehr ernst nehmen. Während hier und bei den befreundeten südlichen Nachbarn in Böhmen der baltische Bernstein weitverbreitet war, zeigt die archäologische Kartierung, dass die Ausbreitung des »baltischen Goldes« in den fernen Süden effektiv verhindert wurde. Kaum ein Stück Bernstein erreichte Griechenland, den Vorderen Orient oder auch nur Italien in dieser Zeit. Umgekehrt unterbanden die Fürsten den Weg des Kupfers nach Skandinavien und verzögerten dort die Bronzezeit um Jahrhunderte. Ohne Waffengewalt wäre solch eine Handelsblockade undenkbar.

Nun wollen wir ja keine neuen Forschungsfelder für Militärhistoriker eröffnen. Wir rekonstruieren die Welt der Himmelsscheibe von Nebra, um zu überprüfen, ob diese zu den ambitionierten Forschungsergebnissen passt, die wir im ersten Teil des Buchs vorgestellt haben. Das können wir getrost bejahen, haben wir es hier doch mit einem frühen Staatswesen zu tun, das über lange Zeiten hinweg den Fernhandel in Sachen Zinn, Kupfer, Bernstein, sicher auch von Salz organisierte und sich dazu auf einen Militärapparat stützte. Auf dieser Basis erwuchs tatsächlich ein Bewusstsein für kalendarische Notwendigkeiten, wie es sich in der Himmelsscheibe manifestiert hat. Ob es nun um Dienstzeiten der Soldaten ging, Koordinierung von Truppenablösungen an den Außengrenzen, Fragen der Versorgung, der Abgaben und Verteilung der Überschüsse, oder um die Koordinierung des Fernhandels, all das funktionierte mit taggenauen Terminierungsmöglichkeiten besser.

»Synchronisierung«, schreibt Pierre Bourdieu, »ist eine stillschweigende Voraussetzung für das gute Funktionieren der sozialen Welt.« Je komplexer die Gesellschaft, desto größer der Synchronisierungsbedarf. Deshalb brauchen Staaten Kalender. »Die Konstitution des Staates fällt mit der Konstitution gemeinsamer zeitlicher Bezugspunkte zusammen.« Sie erst schaffen eine »öffentliche Zeit«, etwas, das nur für uns heute eine Selbstverständlichkeit ist. Alle »Staatengründer sind«, schreibt Bourdieu, »wenn es denn möglich ist, durch anthropologische Vergleiche so weitreichende Genealogien herzustellen, mit diesem Problem konfrontiert«, nämlich ihre Untertanen demselben Zeitregime zu unterwerfen. Kurzum, das Reich von Aunjetitz mit seinem Sinn für Hierarchien, in denen die Menschen ihre festgelegten Plätze hatten, war sehr empfänglich für jeden Versuch, Ordnung in den Zeitenlauf zu bringen. Die auf der Himmelsscheibe fixierte Schaltregel muss da wirklich wie ein Geschenk des Himmels erschienen sein.

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Unsere Theorie postuliert für die frühe Bronzezeit Mitteleuropas unvermutete Dinge. Auch wenn es um die archäologische Evidenz oft nicht so gut bestellt ist, wie wir uns das wünschen würden, halten wir unsere bisherige Beweisführung für plausibel. Auch wirft sie neue, spannende Fragen auf: Sollte es Armeen denn nur hier im mitteldeutschen Aunjetitz gegeben haben? Geben wir ein prominentes Beispiel: Stonehenge. Schon lange sieht man Parallelen zwischen der Kultur von Wessex im Südwesten Englands und der von Aunjetitz. Der Fürst des in Sichtweite von Stonehenge gelegenen Grabhügels von Bush Barrow hatte neben prächtigen Beigaben – darunter zwei faszinierende geometrisch verzierte Rauten aus Gold – einen steinernen Keulenkopf, drei Dolche und ein Beil aus Kupfer im Grab. Einer der Dolchholzgriffe war mit Abertausenden winziger Goldnägel verziert.

Dolche und Beile finden wir im nur 1000 Meter entfernten Stonehenge wieder – und zwar eingeritzt in die aufrecht stehenden Sarsensteine. Die Gravuren haben bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren. Im Jahr 2011 wurden mittels Laserscan 115 Beile und drei Dolche identifiziert, stilistisch datiert in die Zeit zwischen 1750 und 1500 vor Christus. Könnten nicht auch die Beile und Dolche auf den Steinen von Stonehenge Repräsentationen tatsächlicher Kriegertruppen und ihrer Offiziere sein, die im Dienste der Wessex-Fürsten standen und sich hier verewigten? Angesichts der engen Beziehungen zwischen Wessex und Aunjetitz drängt sich damit die Frage auf: Verfügten auch die Herren von Stonehenge über Armeen?

Wenn wir mit alldem behaupten, dass es an einem Ort, den bisher niemand wirklich im Sinn hatte, wenn es um fortschrittliche prähistorische Kulturen ging, zum wohl ersten Staatsgebilde Mitteleuropas kam, König und Armeen inklusive, dann sollten wir eine gute Erklärung dafür haben, wie und warum das ausgerechnet hier geschehen konnte. Die werden wir jetzt präsentieren.