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Kräfte des Kosmos
Den wenigsten Stonehenge-Besuchern von heute ist bewusst, wie sehr ihr Tun dem der Menschen vor 4500 Jahren gleicht. Folgt man den Theorien von Mike Parker Pearson, dem Leiter des größten Ausgrabungsprojekts in Stonehenge der letzten Jahre, traf man sich einst zunächst im gut drei Kilometer nordöstlich gelegenen Durrington Walls. Dort begingen die Menschen zur Wintersonnenwende ein Festmahl, zogen in Sichtweite des heute so mysteriös erscheinenden Ringheiligtums Woodhenge hinunter zum Fluss Avon, bestiegen Boote und landeten da an, wo die Prozessionsstraße, die Avenue, hinauf zum gewaltigen Steinkreis führte. Überwältigt von der Aura des heiligen Orts erreichten sie ihr Ziel. Über das, was dann passierte, können wir archäologisch wenig sagen. Für Parker Pearson ist Stonehenge ein Ort der Ahnen gewesen.
Zwar gehört der Ahnenglaube nur noch zum Glaubensinventar der wenigsten von uns, dennoch sammeln sich auch heute Stonehenge-Pilger am gut drei Kilometer nordwestlich gelegenen Besucherzentrum, das mit seiner abenteuerlichen Architektur den Eindruck erweckt, ein wiedergeborenes Steinzeitheiligtum zu sein. Eine Ausstellung stimmt die Menschen auf den Besuch ein, auf Picknickbänken nehmen sie eine letzte Stärkung zu sich, bevor sie den Shuttlebus besteigen. Durch die Salisbury Plain geht es geradewegs zum Steinkreis, die letzte Strecke muss zu Fuß zurückgelegt werden. Andächtig bestaunen die Besucher die Steinriesen, flüstern, als wären sie in einer Kirche, und kehren dann zurück, um im English-Heritage-Shop noch Stonehenge-Devotionalien zu erstehen.
Warum zieht der Steinkreis die Menschen in Massen an? Wir denken dabei gar nicht an die New-Age-Jünger und Druiden-Wiedergänger mit ihren Sicheln, die zur Sommersonnenwende in die Grafschaft Wiltshire einfallen, sondern an die ganz normalen Touristen. Ihre Zahl geht in die Millionen. Sie nehmen einiges auf sich, um einmal an diesem einzigartigen Ort gewesen zu sein. Warum?
»Der Wunsch nach Wissen und die Liebe zum Mysterium sind zwei der mächtigsten menschlichen Impulse, und Stonehenge befriedigt sie beide«, schreibt Rosemary Hill. Damit hat die Historikerin zweifellos recht. Doch Stonehenge zieht die Menschen noch aus einem weiteren Grund an. Einem, der an die religiösen Wurzeln des Homo sapiens rührt und den wir verstehen müssen, wenn wir das Geheimnis des Reichs von Nebra und seiner Herrscher ergründen wollen. Schließlich geht es hier um jene »symbolische Macht«, von der Pierre Bourdieu sprach, die so unmerklich wirke, dass man ihre Existenz vergesse. Zugleich bereitet es uns besser auf die außergewöhnlichen Grabungsergebnisse vor, denen wir in diesem Kapitel begegnen werden.
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Um touristische Phänomene wie einen Stonehenge-Besuch zu erklären, wird gewöhnlich auf deren performative Dimension verwiesen: Im Planen, Reisen, Besichtigen und Berichten über das Erlebte werden gesellschaftliche Werte bekräftigt, die Reisenden erfahren eine Bestätigung ihrer selbst. In der Konsumgesellschaft von heute gelte schließlich: Ich bin, wo ich überall war! Indes, das ist beileibe nicht alles. Wer auch immer nach Stonehenge kommt, das erste Mal der »Mona Lisa« in die Augen blickt oder in die Sixtinische Kapelle tritt, spürt etwas; den überwältigt ein Gefühl der Erhabenheit, er fühlt sich verzaubert von der Magie des ganz besonderen Orts. Und obwohl es in Stonehenge verboten ist: Jeder kennt das Verlangen, wenigstens einmal einen der Steine zu berühren. Rational ist das nicht.
Das gilt auch für die Himmelsscheibe: Es gibt Besucher, die sagen, sie habe der Donner gerührt, als sie ihr im dunklen Allerheiligsten des Museums gegenübertraten. Und die häufigste Frage, die allen gestellt wird, die an ihrer Erforschung beteiligt waren, lautet: »Was haben Sie gefühlt, als Sie die Himmelsscheibe zum ersten Mal in Händen hielten?« Nun könnten solche Phänomene als Relikte jener Zeiten beschrieben werden, in denen die Religion das Leben der Menschen dominierte, als ein profanes Weiterleben von Pilgerreisen und Reliquienkult. Dann aber müssten sie in unserer säkularisierten Zeit zurückgehen und bald ganz verschwunden sein. Das Gegenteil ist der Fall. Vom Taj Mahal bis zu den Vatikanischen Museen: Weltweit ziehen besondere Orte mehr und mehr Besucher an. Schon weiß man vielerorts kaum noch, wie man der Massen Herr werden soll.
Die Religionswissenschaft hat die These vom Verschwinden des Religiösen längst widerlegt. Von William James über Jean Piaget bis hin zu Pascal Boyer und Justin L. Barrett zeigten Psychologen, dass Menschen über angeborene Dispositionen verfügen, die sie empfänglich machen für das, was wir hier erst einmal das »Außeralltägliche«, das »Besondere« nennen wollen. Trotzdem dominiert noch immer ein eindimensionales Religionsverständnis, das unsere heutigen Vorstellungen von Religion in die Tiefe der Vergangenheit projiziert. Dabei müssen wir grundlegend zwischen einem biologischen, also evolutionär entwickelten religiösen Substrat, das im Prinzip bei allen Menschen vorhanden, aber eben wie die Musikalität unterschiedlich ausgeprägt sein kann, und den Religionen selbst unterscheiden. Diese sind kulturelle Gebilde, die sich von Zeit zu Zeit und von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden entwickelt haben. Sie bauen auf dem natürlichen Substrat auf, können aber durchaus in Widerspruch zu diesem geraten.
Da über vorgeschichtliche Glaubensinhalte archäologisch wenig auszusagen ist, begnügt man sich oft mit Verweisen auf das »Kultische« oder verweist stereotyp auf die Prämisse, Religion habe uns schon immer dazu gedient, mit dem Mysterium des Todes fertigzuwerden. Bloß verkennt das, dass die längste Zeit der Menschheitsgeschichte der Tod kein allzu großes Rätsel für die Vertreter der Gattung Homo war.
Natürlich sind Menschen nie gern gestorben. Was sie aber danach erwartete, darüber zerbrachen sie sich ursprünglich nicht allzu sehr den Kopf. Menschen sind geborene Dualisten: Seele und Körper sind für sie zwei verschiedene Dinge. In Gedanken, erst recht in Traum und Trance, können wir unsere Körper verlassen, begegnen wir verstorbenen Menschen. Mit dem letzten Atemzug mag unsere sterbliche Hülle an ein Ende gekommen sein, für die Seele gilt das nicht. In so gut wie allen Kulturen der Welt haben Anthropologen den Glauben an das Weiterleben der Seelen als Geister oder Ahnen oder an die Reinkarnation, also die Wiedergeburt der Seele in einem neuen Körper, nachweisen können. Das ist, wenn man so möchte, die natürliche Form des Glaubens.
Damit einher geht, dass Menschen alles Geschehen spontan zunächst als soziales Geschehen deuten: Hinter jedem Ereignis steckt jemand, ein Wesen, das eine Absicht verfolgt. Wir sagten es schon: Die Evolution hat solches Denken befördert: Lieber einmal zu oft einen bösen Willen am Werk sehen, als einmal zu gutgläubig sein. Die Arglosen blieben auf der Strecke.
Wo keine konkreten Urheber für ein Geschehen zu entdecken waren, kamen all jene Mächte ins Spiel, die sich unter alltäglichen Umständen der menschlichen Wahrnehmung entzogen: Geister, Ahnen, Dämonen, die wesenhaften Kräfte der Natur oder Götter welchen Geschlechts und welcher Gestalt auch immer. Die Menschen glaubten, in einer numinosen, allseits beseelten Welt zu leben. Auch gab es noch keine Unterscheidung zwischen rational und irrational, zwischen Wissenschaft und Religion.
Religion startete also als Versuch, die Welt zu verstehen. Sie ging einher mit der Entwicklung von Kultur zu Kultur verschiedenen, aber oft sehr ähnlichen Strategien, die Absichten der übersinnlichen Mächte zu erkunden und die Gunst jener Wesen zu gewinnen, von denen man annahm, dass sie das Schicksal der Menschen bestimmen. Riten, Opfer, Geisterbeschwörungen und Divination gehören in diesen Kontext. Im Hintergrund stand stets die Annahme, mit den übernatürlichen Mächten auf dieselbe Weise verfahren zu können wie mit Menschen. Entsprechend sollte man nur gut über sie sprechen, für ihr Wohlbefinden sorgen, sie bei Verstimmungen mit Geschenken beschwichtigen oder sie mit Opfern für die Zukunft gewinnen. Schließlich steckten sie auch hinter allem Unheil: Krankheiten und Katastrophen galten die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch als Werk von Dämonen, missgünstigen Ahnen oder als Strafe zorniger Götter. Der evolutionäre Vorteil solchen Glaubens: Auch ohne Wissenschaft konnten die Menschen ihre Erfahrungen im Umgang mit der Welt organisieren und nach Wegen suchen, das Unheil zukünftig zu vermeiden, indem sie all jene Handlungen vermieden, die im Verdacht standen, den Zorn der Götter zu erregen.
All das war für Jahrzehntausende der Menschheitsgeschichte überlebensnotwendig und hat sich tief in unsere Psychologie eingeschrieben. Die wenigen Jahrtausende Wissenschaft waren ein zu kurzer Zeitraum, um daran grundlegend etwas zu ändern. Menschen besitzen deshalb noch in unserer modernen Welt ein feines Sensorium für besondere Mächte, das uns die längste Zeit der Evolution gute Dienste geleistet hat. Wie sehr und auf welche Weise sich das entfaltet, hängt wie bei der Musikalität von individuellen Anlagen, Sozialisation und Kultur ab. Entsprechend sind nicht wenige Menschen religiös gänzlich unmusikalisch.
Mögen also in der westlichen Welt die Kirchenbesuche zurückgehen – die Menschen werden nicht areligiös, sondern suchen neue Wege, ihre Glaubensbedürfnisse auszuleben. Dahinter stehen all die alternativen Transzendenzerfahrungen unserer Tage; all das, was heute unter dem Signum »Spiritualität« firmiert. Dass auch Kunst, Geschichte und Museen in dieser Hinsicht die offizielle Religion beerbt haben, ist schon oft konstatiert worden. Ihnen verdanken wir die heiligen Hallen unserer Tage. Sie versorgen unser biologisch fundiertes Sensorium für »Außeralltägliches« mit selbst für Atheisten akzeptablem Nachschub. Dieser religiösen Ader entspringt unser Faible für besondere Orte und mysteriöse Gegenstände, die im Verdacht stehen, in Verbindung mit jenen höheren Gewalten zu sein, die unser Schicksal bestimmen. Das bedeutet noch lange nicht, dass wir daran glauben müssen. Aber die Evolution hat uns nun mal zu Wesen gemacht, deren Aufmerksamkeit sofort erregt wird, sobald solche Geheimnisse im Spiel sind. Man weiß ja nie!
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Kehren wir nun in die Vorgeschichte zurück. Damals waren die Menschen bemüht, die sinnliche wie übersinnliche Welt zu erkunden und Wege zu finden, auf deren vielgestaltige Mächte einzuwirken. Die Kontaktaufnahme war an besonderen Orten möglich, sie konnte durch besondere Personen, in besonderen Zuständen wie Traum, Trance oder Rausch oder zu besonderen Zeiten wie den Sonnenwenden erfolgen. Auch besondere Objekte taugten als Medien der Vermittlung. All das möchten wir als »charismatisch« bezeichnen. »Charisma« bezeichnet im Griechischen eine mit Wohlwollen verliehene Gabe; wer sie erhielt, stand in der Gnade übernatürlicher Mächte. Als charismatisch sollen für uns alle jene Orte und Personen, Gegenstände und Gelegenheiten gelten, von denen die Menschen glaubten, sie seien vom Göttlichen begünstigt und deshalb für die Teilhabe an der anderen Welt, dem Heiligen, prädestiniert.
Warum wir dem hier so viel Raum gewähren: Es ist das Charisma, das Privileg des besonderen Zugangs zu den Mächten des Schicksals, das am Anbeginn der Herrschaft steht. Das Charisma stellt die vielleicht wichtigste Quelle symbolischer Macht dar. Die Forschung stimmt weitgehend Max Webers Feststellung zu, dass Herrschaft unter den Menschen als charismatische Herrschaft begonnen und die ersten Staaten als charismatische Staaten entstanden sind. Für Weber war das Charisma die »außeralltäglich geltende Qualität einer Persönlichkeit, … um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften begabt oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ›Führer‹ gewertet wird«. In prähistorischen Zeiten war das Charisma immer übernatürlichen Ursprungs: Die besonderen Gaben eines Herrschers, seien sie körperlicher, geistiger oder auch ökonomischer Natur, waren himmlische Geschenke. Das spendete Legitimation: Wer wollte nicht solch einem Liebling der Götter folgen? Vor allem: Wer wagte es, sich ihm in den Weg zu stellen?
Charismatische Personen, Orte oder Gegenstände waren damit Schnittstellen zwischen dem Alltäglichen und Außeralltäglichen, zwischen der menschlichen und der göttlichen Sphäre. Der des schlampigen Umgangs mit Anglizismen unverdächtige Ägyptologe Jan Assmann sprach in diesem Zusammenhang von »Interfaces«. Ein charismatischer Ort wie Stonehenge fungiert tatsächlich als Interface, als Medium, das »die kosmischen und irdischen Vorgänge und Ordnungen miteinander verkoppelt«, wie Assmann es formuliert, hier wird eine »Verbindung zwischen oben und unten« hergestellt, hier findet ein Energiefluss statt, hier entsteht symbolische Macht.
Das Problem des Charismas: Es ist eine überaus flüchtige Essenz. Selbst eine als charismatisch empfundene Person kann ihre Aura mit der Zeit verlieren. Spätestens ihren Kindern und Nachfolgern ist sie in aller Regel verwehrt. Weber bezeichnete deshalb die »Veralltäglichung« des »Außeralltäglichen« als die eigentliche Herausforderung für die Entstehung von Staaten. Das Charisma muss das einzelne Menschenleben überdauern. Und hier kommen die heiligen Orte und Objekte ins Spiel. Sie fungieren als dauerhafte Medien, welche die flüchtige Essenz des Charismas verfestigen. Sie verleihen Gesellschaften Kontinuität. In Stonehenge geschieht das, weil hier die kosmischen Vorgänge mit dem Jahresrhythmus der Menschen synchronisiert werden. Die überwältigende Architektur macht das für alle dauerhaft sichtbar. Doch was ist der eigentliche Ursprung des Stonehenge-Charismas?
Für uns heute speist sich die Aura von Stonehenge aus den Jahrtausenden, die der Steinkreis den Elementen trotzte, aus der gewaltigen Arbeitsleistung und dem verloren gegangenen Wissen der Altvorderen sowie den Millionen Besuchern. All das flüstert uns ein, es mit einem ganz außergewöhnlichen Ort zu tun zu haben. Einen solchen wird sich kein Mensch entgehen lassen wollen. Aber was war es damals, vor 5000 Jahren, das ausgerechnet diesen Ort zu einer charismatischen Stätte machte, zu einem Interface, das die Sphären miteinander verband?
Es war eine Auffälligkeit der Landschaft – und das ist ein wirklich hübsches Beispiel für das, was wir über die Wahrnehmung der Welt in Zeiten, in denen es den Menschen an Verständnis der tatsächlichen Zusammenhänge fehlte, ausführten. Drei markante Rinnen verliefen im Boden des sanft ansteigenden Hanges in der offenen Kreidelandschaft. Irgendwann fiel den Menschen auf, dass diese Rinnen genau auf jenen Punkt der Anhöhe zeigten, hinter dem die Sonne zur Zeit der Wintersonnenwende unterging, und dass sie in die andere Richtung auf den Sonnenaufgang zum Mittsommertermin zuliefen. Da die menschliche Psyche nun einmal die finalistische Neigung besitzt, solche Phänomene als zu einem bestimmten Zweck »gemacht« anzusehen, war klar: Das ist ein Fingerzeig der Götter. Hier hatten göttliche Wesen die Rinnen eigenhändig in den Boden geritzt. Warum? Weil sie den Menschen bedeuten wollten, auf der Anhöhe ihr Heiligtum zu bauen. Schließlich galt die Wintersonnenwende, von der an die Tage wieder länger werden, als der Geburtstag der Sonne. Und die Bodenrinnen selbst wurden zum heiligen Prozessionsweg, der Avenue.
Die Forscher heute dagegen sagen: Wir haben das bedeutendste Monument der europäischen Vorgeschichte einem geologischen Zufall zu verdanken. Es war das Schmelzwasser der letzten Eiszeit, das sich drei markante Ablaufrinnen in das sanft abfallende Kreideplateau grub, zufälligerweise Richtung Sonnenwende. Auch das ein hübsches Beispiel – diesmal für die wissenschaftliche Entzauberung der Welt.
Nach 3100 vor Christus entstand die Grundstruktur von Stonehenge – ein kreisrunder Graben von etwas mehr als 110 Metern Durchmesser mit außen liegendem Wall. Neben einem kleinen Zugang im Süden war der Hauptzugang gen Nordosten gerichtet – just auf die göttlichen Furchen, die von hier oben Richtung Sonnenaufgang zur Sommersonnenwende wiesen. Innerhalb des Erdwerks stand eine Reihe von Pfosten und womöglich bereits drei aufrecht stehende Steine. Parker Pearsons Datierungen zeigen, dass auch die nach ihrem Entdecker, dem britischen Altertumsforscher John Aubrey, benannten Aubrey Holes, die im Inneren dem Graben folgen, aus der Anfangszeit stammten. Die Funktion dieser 56 Schachtgruben ist, wie eigentlich alles in Stonehenge, umstritten. Parker Pearson ist davon überzeugt, dass die kleineren Blue Stones, die aus 240 Kilometern Entfernung in Südwales hierher transportiert worden waren, ursprünglich in ihnen platziert waren.
Bereits von Anfang an wurden in Stonehenge Menschen bestattet, allein in dem von Parker Pearson ausgegrabenen Aubrey Hole Nr. 7 fanden sich die Überreste von über 60 Brandbestattungen. Auch das ist alles andere als verwunderlich. Die letzte Ruhe an einer Schnittstelle zur anderen Welt zu finden konnte womöglich verhindern, dass die Seelen der Toten den Weg verfehlten und als heimatlose Geister herumspukten. Zugleich war es für die Lebenden klug, die Ahnen an solch einem bedeutenden Punkt zu positionieren und ihnen damit entsprechenden Einfluss zu sichern. Stonehenge ist im 3. Jahrtausend vor Christus der größte Friedhof Englands.
Auch die Frage, wann der Hauptausbau der Megalithanlage, das Aufstellen der bis zu acht Meter hohen, zwischen 25 und 50 Tonnen schweren Sarsensteine, stattfand, ist Gegenstand großer Debatten. Lange nahm man die Zeit zwischen 2440 und 2100 vor Christus an. Damit wäre der Steinkreis ein Werk der Glockenbecherkultur gewesen, die – wie es nach aktuellem Forschungsstand scheint – damals massiv von den Niederlanden aus nach England expandierte. Nach den letzten Grabungsergebnissen wird die monumentale Leistung der Steinsetzungen früher datiert: auf die Zeit um 2500 vor Christus. Demzufolge haben die Glockenbecherleute Stonehenge übernommen und weiterbetrieben. Sie konnten sich der Aura des gewaltigen Orts nicht verschließen. Sie erkannten es als mächtige Quelle symbolischer Macht und exportierten die Idee auf den Kontinent.
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Das Exportprodukt haben wir ausgegraben. Ein überaus komplexes Heiligtum in Sachsen-Anhalt. Archäologen der Martin-Luther-Universität und des Landesamts für Archäologie Halle legten es auf einer Fläche von 1,5 Hektar frei. »Das deutsche Stonehenge«, titelten die Zeitungen, was natürlich übertrieben ist. Zumindest in Hinsicht auf optischen Eindruck und Arbeitsaufwand. Und auch der Name kann nicht mit Stonehenge konkurrieren: Pömmelte-Zackmünde. Kaum übertrieben ist es dagegen, was die Archäologie angeht.
20 Kilometer südöstlich von Magdeburg standen keine tonnenschweren Sarsensteine. Das Ringheiligtum wurde aus Tausenden von Baumstämmen errichtet, die fünf konzentrische Pfostenkreise bildeten, dazu gab es einen Wall und verschiedene Grabenstrukturen. Die mittlerweile rekonstruierte Anlage erhebt sich eindrucksvoll auf einer kleinen Anhöhe in der Flussniederung der Elbe, die keine zwei Kilometer entfernt träge vorbeiströmt.
Ausgrabungen in Stonehenge waren bisher nur punktuell erfolgt. »Es überrascht die Menschen immer wieder, zu erfahren, wie wenige archäologische Untersuchungen in und um Stonehenge herum erfolgten«, sagt der britische Archäologie Mike Parker Pearson. »Doch die Wahrheit ist: Das meiste von Stonehenge und dem Umland ist so gut wie nicht untersucht worden.« So spektakuläre Einsichten das von Parker Pearson geleitete »Stonehenge Riverside Project« in den letzten Jahren brachte, legten doch auch seine Ausgrabungskampagnen Stonehenges Vergangenheit nur partiell frei.
Ganz anders in Pömmelte. Hier konnten die Archäologen die vollständige, vorher nur vom Pflug berührte Anlage nach allen Regeln der Kunst ausgraben – und stießen in unmittelbarer Nähe auf ein zweites Heiligtum: Schönebeck. Was diese Ausgrabungen für uns besonders spannend macht: Von der Lage her passen Pömmelte und Schönebeck zu jener geografischen Breite, die sich aus den später auf der Himmelsscheibe befestigten Horizontbögen ermitteln lässt. Nebra selbst liegt dafür etwas zu südlich. Haben wir es in Pömmelte und Schönebeck mit jener Region zu tun, an der die Himmelsscheibe eine ihrer zentralen Umgestaltungen erfuhr?
Stonehenge ist ja nur eines, wenn auch das spektakulärste von vielen Henge-Monumenten, also runden, mitunter auch ovalen Einfriedungen mit Wall und Graben. In der Regel sind sie in Holz ausgeführt. Dass wir es mit keiner britischen Spezialität zu tun haben, erwähnten wir bereits. Auch Mitteleuropa war übersät mit Architekturen, deren Namen aus dem Wörterbuch der Verkehrsbürokratie zu stammen scheinen: »Kreisgrabenanlagen« oder »Rondelle«. Manche von ihnen sind bedeutend älter als die britischen Anlagen und stammen aus der Zeit zwischen 4900 und 4500 vor Christus. Dem fast 7000 Jahre alten Goseck sind wir bereits im ersten Teil des Buchs begegnet.
Über den Funktionszweck wird viel diskutiert. Oft ist die Rede von »Sonnenobservatorien«, »Sternentempeln« oder »Kalenderbauwerken«. Die Forschung sieht in ihnen heute multifunktionale Anlagen. Hier wurden Feste gefeiert, Märkte abgehalten, Rituale begangen; die Menschen kamen zusammen, um Heiraten zu arrangieren, sich im Wettkampf zu messen und den Ahnen zu huldigen. Auch Tote fanden hier ihre letzte Ruhe. Wenn zu solchen Gelegenheiten die Sonne an einem der Tore oder Palisadendurchlässe auf- oder unterging, legitimierte sie das Geschehen, dann befanden sich die Menschen im Takt mit den Mächten des Kosmos.
Hier stand also keine »Proto-Astronomie« im Vordergrund, hier war es der Himmel, der das irdische Geschehen heiligte. Die Holzpalisaden schufen einen künstlichen Horizont und fokussierten den Himmel auf die Menschen im Inneren. Die Anlagen fungierten damit über Jahrtausende hinweg als die wichtigsten Interfaces der europäischen Vorgeschichte. Sie waren charismatische Schnittstellen, die Legitimation produzierten. Welche Riten und Opfer konkret ausgeführt wurden, ist von Kultur zu Kultur, von Zeit zu Zeit verschieden und lässt sich mit archäologischen Mitteln nur schwer herausfinden. Stets ging es darum, mit den übernatürlichen Mächten in direkten Kontakt zu treten.
Die Kreisgrabenanlagen hatten einen segenhaften Nebeneffekt, der sich ganz konkret im Hier und Jetzt auswirkte. Sie lösten eines der zentralen Probleme der immer größer und anonymer werdenden Gesellschaften des Neolithikums (zwischen 6000 und 2000 vor Christus wuchs die Bevölkerung Europas schätzungsweise von einer auf acht Millionen Menschen). Sie stifteten Zusammenhalt und schufen Gemeinschaft. Bereits die gewaltigen Arbeitsleistungen, die in ihnen stecken, sorgten dafür. Das Ausschachten der oft mehrere hundert Meter langen Gräben mit Holzspaten, das Fällen und Zuhauen Tausender von Bäumen für die Palisadenringe – all das signalisierte: Das ist unser Werk, unser Prestige, unsere Macht! Im festlichen, von der Außenwelt abgegrenzten Rahmen erlebten sich die vielen als Einheit – nicht viel anders als in Fußballstadien heute. Die Rondelle produzierten Identität, indem sie definieren, wer »wir« sind: nämlich die innerhalb des Runds. Das lateinische »definitio« bezeichnet genau das: Abgrenzung. Die Kreisgrabenanlagen sind Arenen des Wir.
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Die Entdeckung der Himmelsscheibe rückte die mitteldeutschen Kreisgrabenanlagen in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses. Das von François Bertemes koordinierte DFG-Forschungsprojekt »Der Aufbruch zu neuen Horizonten. Die Funde von Nebra, Sachsen-Anhalt, und ihre Bedeutung für die Bronzezeit Europas« fahndete gezielt nach Anlagen, die aus der Zeit der Himmelsscheibe stammten. Das war Pionierarbeit, denn in der DDR hatte es keine Luftbildarchäologie gegeben. Nun wertete man systematisch die aus dem Flugzeug beobachteten kreisförmigen Strukturen aus, die an unterschiedlichem Bewuchs in Feldern zu erkennen waren. Die Experten identifizierten ein Dutzend Anlagen, deren Datierung unklar war. Sie besaßen Durchmesser zwischen 50 und 130 Meter, wurden geophysikalisch untersucht und mit Testschnitten sondiert. Die Ergebnisse waren verblüffend: Das zeitliche Spektrum reichte von der Jungsteinzeit bis zur Eisenzeit, also von 5000 bis 750 vor Christus. Es gibt nicht viele Architekturtypen, die über 4000 Jahre kaum bis gar keine Veränderungen erfuhren.
Vor allem das Rondell von Pömmelte-Zackmünde im Salzlandkreis unweit der Elbe erschien vielversprechend. »Schon die auf der ersten kleinen Grabungsfläche entdeckten Funde sprachen für kultische Handlungen«, erinnert sich der Archäologe André Spatzier, der die Ausgrabungen leitete. Zudem datierte die Anlage in den Übergangshorizont vom Endneolithikum zur frühesten Bronzezeit, also genau in jene Phase um 2300 bis 2100 vor Christus, in der die Welt von Aunjetitz Gestalt annahm. So machte man sich daran, sie komplett auszugraben. Rasch zeigte sich: Besser hätten wir es nicht treffen können, um zu verstehen, wie sich der Anbruch einer neuen Zeit vollzog. Hier ist tatsächlich die Geburt des Reichs der Himmelsscheibe zu beobachten und damit zu verstehen, wie es zum wohl ersten Staatswesen auf mitteleuropäischem Boden kam.
Ist es nur ein Zufall, dass das Ringheiligtum von Pömmelte mit rund 115 Metern ziemlich exakt denselben Durchmesser wie Stonehenge hat? Die Holzarchitektur verweist auf die ebenfalls zum Stonehenge-Komplex gehörenden Anlagen Woodhenge und Southern Circle, auch sie bestanden aus mehreren konzentrischen Ringen aus Baumstämmen. Die Hauptnutzung von Pömmelte datiert in die Zeit von 2300 bis 2050 vor Christus. Die Keramikfunde sprechen eine deutliche Sprache: Die Schöpfer dieses Heiligtums gehörten der Glockenbecherkultur an. So, wie über ihre Netzwerke die metallurgischen Innovationen aus England flossen, nahmen also auch ihre Glaubensvorstellungen diese Route. In seiner Komplexität ist Pömmelte einzigartig im mitteleuropäischen Raum.
Wir wollen ja verstehen, wie sich die Glockenbecherdominanz über die Schnurkeramiker erklären lässt und wie das zur Genese der Aunjetitzer Kultur führte. Da ist zunächst die Wahl des Orts aufschlussreich. Ob die Nähe zum Fluss eine zeremonielle Bedeutung besaß, wie das Parker Pearson für den Avon in Stonehenge postuliert, vermögen wir nicht zu sagen. Ebenso wenig, ob hier vor über vier Jahrtausenden geologische Auffälligkeiten existierten, die als Fingerzeig der Götter verstanden werden konnten. Immerhin lag die Anlage so, dass sie bei Elbhochwasser auf einer Insel über den Fluten thronte – wie Avalon im See.
Sicher ist, dass der Ort schon für die Schnurkeramiker von charismatischer Bedeutung war. Spatziers Ausgrabungsteam stieß auf eine Totenhütte, über der sich ein Hügel erhoben haben dürfte. Axt und Flintbeil wiesen den Bestatteten als schnurkeramischen Krieger aus. Genau östlich davon lag ein fast exakt quadratisches Grabengeviert mit einer Kantenlänge von 15 Metern. Der eine Eingang wies zum Sonnenaufgang der Sommersonnenwende, der andere war auf den Untergang der Wintersonnenwende ausgerichtet. Das schnurkeramische Heiligtum war schon drei, vielleicht vier Jahrhunderte alt, als die Glockenbecherleute an diesem Ort ihr monumentales Ringheiligtum platzierten. Bewusste Indienstnahme der Ahnen? Oder gezielte Usurpation und Übertrumpfung alter Traditionen, um die eigene Überlegenheit zu demonstrieren?
Wie erst 2017 entdeckt wurde, ist auch der nicht weit von Stonehenge liegende Steinkreis von Avebury – mit einem Durchmesser von 330 Metern immerhin der größte Megalithkreis der Welt – dort angelegt, wo zuvor ein älteres Steinquadrat mit einer Seitenlänge von 30 Metern stand. Wir sehen erneut, Heiligtümer werden an charismatischen Orten angelegt, die sich durch ein vorheriges Geschehen, eine geologische Auffälligkeit oder einen bedeutsamen Vorgängerbau als Schnittstelle zwischen dieser und der anderen Welt auszeichnen. Noch christliche Kirchen werden dort erbaut, wo zuvor römische Tempel oder germanische Heiligtümer standen.
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Machen wir uns zu einem Rundgang auf. Die Pfostenabdrücke des äußersten Rings von Pömmelte waren noch deutlich zu erkennen. Die Holzpfähle standen hier nicht dicht an dicht, sondern locker gestaffelt. Zehn Meter weiter folgte ein Ring, der aus einer Abfolge einzelner, mal ovaler, mal rechteckiger Gruben bestand. Dann kam ein Kreisgraben von rund 78 Metern Durchmesser, gut einem Meter Tiefe und zwei bis drei Metern Breite. Außen war dem Graben ein Wall vorgelagert, innen folgte eine blickdichte Palisade.
Im Innenraum des Rondells standen zwei Pfostenkränze im Abstand von 8 und 14 Metern zum Kreisgraben, die einzelnen Pfosten meist über einen, mitunter bis zu zwei Meter auseinander. Es wird vermutet, dass sie durch oben aufliegende Balken verbunden waren und dadurch Stonehenge ähnelten: Auf je zwei Tragsteinen ruht dort je ein Deckstein. So entstand im Inneren eine mehrfach abgegrenzte Arena. In Pömmelte betrug der Durchmesser dieser Manege fast 50 Meter.
»Zum architektonischen Gesamtkonzept gehören vier Achsen, die als Zugänge zum Inneren der Anlage führen«, sagt Ausgräber Spatzier. Sie sind durch Unterbrechungen der Ringe und Gräben sowie durch symmetrische Pfostenstellungen gekennzeichnet. »Sie markieren keine Sonnenwendtermine«, erklärt der Astronom Wolfhard Schlosser, »sondern die Mittvierteljahresfeste.« Also jene Feiern, die zu den Tagen begangen wurden, die in der Mitte zwischen einer Tagundnachtgleiche (Äquinoktium) und einer Sonnenwende (Solstitium) liegen. Auch die Kelten feierten dort Feste wie Beltaine, Imbolc und Samhain, später datieren sie christliche Feiertage wie Mariä Lichtmess oder Allerheiligen. Damit hatte das Rondell von Pömmelte einen klaren solaren Bezug, zumal es in Richtung des Sonnenaufgangs zur Wintersonnenwende eine Unterbrechung des Kreisgrabens und des Ringgrabensegments gegeben hatte, die später aber aufgefüllt wurden.
»Es ist unwahrscheinlich, dass die Anlage als Observatorium zur Beobachtung von Himmelskörpern diente«, sagt Spatzier. Auszuschließen ist auch, dass wir es mit einem Verteidigungsbau zu tun haben, dafür sind die Pfostenringe viel zu durchlässig. Entsprechend gelten die über 50 gefundenen Pfeilspitzen aus Feuerstein nicht als Relikte eines Angriffs. Vielmehr vermuten die Ausgräber, dass sich die Glockenbecherkrieger im Bogenschießen maßen. War das Rondell von Pömmelte ein Olympia an der Elbe?
Rätselhaft sind die Menschen, auf die die Archäologen stießen, Skelette von Männern, Frauen und Kindern. Mysteriös, wie unterschiedlich sie behandelt wurden. In der östlichen Hälfte des Rondells, also Richtung Sonnenaufgang, lagen ein Dutzend Flachgräber. Soweit anthropologisch bestimmbar, handelte es sich ausschließlich um Männer. Sie waren zwischen 20 und 30 Jahre alt, im besten Kriegeralter also. Warum waren sie auserkoren, an diesem besonderen Ort bestattet zu werden? Beigabenlos? Hinweise auf die Todesumstände gab es keine. Ganz anders bei den Frauen und Kindern. Die waren nicht begraben worden. Die hatte man in Gruben gekippt.
Im Kreisgraben waren 29 Schachtgruben angelegt, bis zu über zwei Meter tief. Obskur ihre Füllung: Schichtweise waren verschiedene Dinge deponiert; nicht auf einmal niedergelegt, zwischen manchen Deponierungen lagen Jahrzehnte. Spatzier hat folgendes Muster rekonstruiert: Zuunterst fanden sich Abdrücke zylindrischer Vorratsbehälter aus organischem Material, in denen die anderen Objekte gelegen haben. Dabei handelte es sich in der Masse um Keramik, vor allem solche, die als Krüge, Becher und Tassen der Aufnahme von Flüssigkeiten gedient hatten; sie waren absichtlich zerschlagen worden. In der zweiten Schicht lagen Mahlsteine und Knochen von Tieren, zumeist von Rindern. Schnitt- und Hackspuren sprachen für Speise- oder Schlachtreste. Es kamen weitere Knochen dazu, von Kindern, Jugendlichen und Frauen.
»Diese zweite Schicht wurde recht rasch, womöglich noch gemeinsam mit der ersten Schicht eingebracht«, sagt Spatzier. Zuoberst lagen dann entweder die Unterlieger oder die Läufer von Mahlsteinen, die grundsätzlich auf der Reibseite abgelegt wurden, aber auch die Unterkieferhälften von Rindern. Als sollten sie die Deponierung versiegeln.
Die dritte Schicht war die finale: Dort fanden sich Steinbeile oder menschliche Schädel, die von eher jungen Individuen stammten. Weil sich Steinbeile auch in Löchern fanden, aus denen Pfosten der Palisaden entfernt worden waren, liegt die Vermutung nahe, dass ihre Deponierung etwas mit dem Abbau der Anlage zu tun hatte. Wurden die Steinäxte der Krieger rituell entsorgt? Und Schädel bestattet, die in den Zeremonien eine Rolle gespielt hatten?
Die Steinbeile wie ein großer Anteil der Mahlsteine wiesen Beschädigungen auf. Da auch von den Keramikgefäßen nie alle Scherben vorhanden waren und – horribile dictu – auch von den menschlichen Skeletten Teile fehlten, vermutet Spatzier, dass »die deponierten Objekte vor der Niederlegung durch einen symbolischen Tötungs- oder Zerstörungsakt unbrauchbar gemacht, also dem eigentlichen Lebenszyklus entzogen worden sein könnten«. Was die Frauen und Kinder anging, war der Tötungsakt alles andere als nur symbolisch.
Grauenvoll schon die Bestattung. So hing das Skelett eines fünf bis sieben Jahre alten Kindes schräg kopfüber in der Grube, man hatte den kleinen Leichnam einfach hineingeworfen. Allerdings fehlten von den Knien abwärts die Beine sowie der rechte Arm. Der Kinderschädel lag auch in der Grube, einen halben Meter vom Hals entfernt oberhalb am Schachtrand. Weil keine Schnittspuren nachzuweisen waren, kann der Körper erst verstümmelt worden sein, als der Verwesungsprozess bereits fortgeschritten war.
In einer anderen Schachtgrube lagen der Torso einer 15 bis 17 Jahre alten Frau, der alle vier Extremitäten fehlten, und ein vielleicht zehnjähriges Kind, das keine Beine mehr besaß. Beide wiesen am Schädel und am Brustkorb das auf, was Anthropologen perimortale Traumata nennen, also Verletzungen, die um den Zeitpunkt des Todes herum entstanden sind. Entweder sind sie gequält worden und dabei gestorben, oder sie wurden misshandelt, als sie schon tot waren. In einer Grube lag zuunterst eine 30- bis 40-jährige Frau, bäuchlings, der linke Unterschenkel unnatürlich verdreht. »Direkt über ihr lag ein 5 bis 7 Jahre altes Kind auf dem Rücken mit in Reiterstellung zur Seite geklappten Beinen«, heißt es im Grabungsbericht. »Die rechts neben den Körper geführten Arme waren so positioniert, dass beide Handgelenke direkt aufeinander lagen und die Fesselung des Individuums wahrscheinlich machen.«
Es fanden sich massive Spuren stumpfer Gewalt an den Knochen, mitunter auch Anzeichen von Tierverbiss. Eine Frau wies einen Lochdefekt unter dem rechten Auge auf – traf sie ein Pfeil? Ein Dolch? André Spatzier kommt zu dem Schluss: »Die Indizien sprechen dafür, dass die Kinder und Frauen Opfer von Gewalttaten waren und durch heftige Schläge von vorn, von den Seiten und von hinten auf den Kopf und den Oberkörper zu Tode kamen.« So schwer es ist, Menschenopfer archäologisch zweifelsfrei nachzuweisen, spricht doch alles dafür, dass es sich bei den Toten in den Schachtgruben um die Opfer ritueller Tötungen handelte.
Wie passt das zusammen? Auf der einen Seite liegen die jungen Männer, ehrenhaft, wenn auch ohne Beigaben bestattet. Als Helden? Auf der anderen Seite liegen die Frauen und Kinder. Unzweifelhaft Opfer brutaler Gewalt, pietätlos in Gruben entsorgt. Oder ist das eine zu chauvinistische Sicht? Auch bei den Männern kann es sich um Opfer handeln. Womöglich wurden sie auf eine Weise umgebracht, die keine Spuren am Skelett hinterlässt: Erdrosselt? Vergiftet? Kehle durchgeschnitten? Immerhin, das zeigen die vom Anthropologen Marcus Stecher durchgeführten Isotopenanalysen der Zähne und der Knochen, handelt es sich bei so gut wie allen Toten von Pömmelte um Menschen aus der Region, die sich in der Ernährung nicht groß unterschieden, also vermutlich derselben sozialen Schicht entstammten.
Opfer stellen einen Handel mit den übernatürlichen Mächten dar. Entweder gilt es, eine Schuld zu begleichen, ihren Zorn zu besänftigen oder die Götter günstig zu stimmen. Je größer die Investition, umso größer die Wirkung. Menschenopfer deuten deshalb auf dramatische Situationen hin. Sollten die Götter dazu bewegt werden, eine als Strafe geschickte Seuche zurückzunehmen? Wir haben, wie gesagt, erste Hinweise auf das Grassieren der Pest.
Aber vielleicht sind sie auch gefoltert und hingerichtet worden. Frauen waren ein kostbares, knappes Gut. Dank der Genetik wissen wir, dass es sich sowohl bei der invasiven Welle der Schnurkeramiker als auch der Glockenbecher vor allem um Männer handelte. Sie nahmen sich die Frauen vor Ort – oder raubten sie auch. Vielleicht hatten diese Widerstand geleistet, wollten ihre Familien nicht aufgeben oder hatten sich mit anderen Männern eingelassen – und wurden an diesem heiligen Ort vor den Augen aller auf schreckliche Weise bestraft, um ein Exempel zu statuieren. Wir haben schon im Fall von Eulau gesehen, mit welch unbarmherziger Vehemenz der Konflikt um Frauen ausgefochten wurde. Leider liegen uns noch keine genetischen Analysen vor, die Licht ins Dunkel bringen könnten. Wir werden auf das Menschenopfer-Phänomen zurückkommen.
Halten wir fest: Pömmelte war eine überaus komplexe Anlage – was Architektur und Nutzung angeht. Wir haben deutliche Hinweise auf Schädel- und Ahnenkult, Menschenopfer sind nicht wirklich zu leugnen. Die vielfältige Struktur des Heiligtums spricht dafür, dass es verschiedene Zonen gab, die für spezifische Personengruppen und Handlungen bestimmt waren. Prozessionen durch die am Sonnenlauf orientierten Tore sind denkbar. Zu Festen wurde das Korn rituell gemahlen und Rinder geschlachtet. Die massenhaft vorhandene Keramik belegt die reichliche Verfügbarkeit von Getränken – es wird diskutiert, ob die namengebenden Glockenbecher nicht für berauschende Getränke und aufwendige Trinkrituale dienten. Auch in Stonehenge war der Besuch des Heiligtums eng mit Festmählern verbunden, die im benachbarten Durrington Walls abgehalten wurden. Klangexperimente in der rekonstruierten Anlage von Pömmelte belegen die ausgeklügelte Akustik der Palisaden. Nicht nur, dass Worte, die im Zentrum gesprochen werden, überall gut zu verstehen waren. Es war auch bestens für musikalische Darbietungen geeignet, vor allem Perkussionsinstrumente erzielten eine unerhörte Wirkung, Flatterechos verstärkten sie rhythmisch. Wenn es zudem noch Wettkämpfe gab und Opferpraktiken, die wir uns nicht ausmalen mögen, können wir ohne zu übertreiben festhalten: Pömmelte war ein spektakulärer Ort. Wir haben es mit einer Arena zu tun, in der die Menschen ein Spektakel aufführten, dem die Götter als Publikum beiwohnten.
Damit ist das Rondell ein zutiefst charismatischer Ort: Denn gefiel den überirdischen Mächten die irdische Inszenierung, belohnten sie deren Protagonisten. In Pömmelte gewann man die Gunst der Götter oder beschwichtigte ihren Zorn. Hier floss reichlich symbolische Macht, die in reale Macht umzumünzen war. Mit Stonehenge und Metallurgie im Gepäck versteht es sich fast von selbst, dass die Glockenbecher als Lichtbringer die Schnurkeramiker gewaltig in den Schatten stellten.
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Die Vermischung von Kulturen lässt keine Seite unberührt. Auch die der Glockenbecher veränderte sich. Wir sehen das in Pömmelte; die im Heiligtum gefundene Keramik wandelte sich zu jenen nicht verzierten Formen, die so typisch für Aunjetitz sein werden. Hier entstand etwas Neues – und dem fällt als Erstes Pömmelte selbst zum Opfer. Denn Pömmelte war nicht allein, in Sichtweite gruben die Archäologen ein zweites Heiligtum aus: Schönebeck, nur 1300 Meter entfernt. Es entsteht, als Pömmelte schon stand; es steht noch, als Pömmelte dem Boden gleichgemacht worden war. Beide Anlagen sind sich erstaunlich ähnlich und doch ganz verschieden. Pömmelte scheint noch der alten heroischen Welt verhaftet, Schönebeck weist in die neue Welt zentralisierter Herrschaft.
Auch Schönebeck ist eine Kreisgrabenanlage mit ähnlich komplexer Architektur aus mehreren konzentrischen Ringen, etwas kleiner – der Gesamtdurchmesser betrug 80 Meter –, doch auch hier gab es Gräben, Palisaden und eine von Pfostenkränzen eingefasste Arena. Den Unterschied machte das aus, was fehlte: Es gab keine Schachtgruben. Es gab keine Pfeilspitzen. Es gab keine Gräber, keine Opfer. Weder von Keramik, Tieren noch von Menschen. Einzig einen deponierten »Cushion Stone« spürten die Ausgräber auf: Solche steinernen Ambosse waren ein Signum des neuen Metallzeitalters. Der bei Stonehenge begrabene Amesbury Archer nahm ebenso einen mit ins Grab wie der Fürst von Leubingen. Zufall in Schönebeck – oder Programm?
Wichtig sind die Datierungen: Pömmelte wurde zwischen 2350 und 2050 vor Christus genutzt. Das Schönebecker Rondell datiert auf die Zeit von 2100 bis 1800 vor Christus. Das heißt, es wurde errichtet, als Pömmelte noch betrieben wurde. Es wurde aber auch noch genutzt, als Pömmelte längst aufgegeben worden war, als die Fürsten von Leubingen und Helmsdorf regierten. Da beide Anlagen eine Zeit lang parallel existierten, wäre es denkbar, dass sie aufeinander bezogen waren und unterschiedliche Funktionen erfüllten. Das mag am Anfang so gewesen sein, aber Schönebeck verselbstständigte sich. Und das ist ein Prozess, der mit logischer Konsequenz erfolgte. Er resultiert aus der Monopolisierung des Charismas.
Das Fehlen von Gräbern und Opfern, von jeglichem Hinweis auf Ahnenverehrung legt nahe: Hier wurde ein anders gearteter Kult betrieben. Ein Kult, der uns rationaler erscheint, oder sagen wir besser: fokussierter. Und der wohl den Sieg davongetragen hat. Während Schönebeck seine Zwecke noch Jahrhunderte erfüllte, wurde Pömmelte nicht nur aufgegeben – es wurde dem Boden gleichgemacht! Irgendwann zwischen 2100 und 2025 vor Christus kam es zur Aufgabe der Anlage. Die Pfosten wurden gezogen, den Kreisgraben füllte man mit einer kiesig-humosen Schicht, vor allem aber mit Unmengen an Asche. Hier hatte ein riesiges Feuer gebrannt. Die naheliegende Erklärung: Man verbrannte die Holzpalisaden gleich vor Ort. Es ist bedeutsam, dass Steinäxte die letzte Deponierungsschicht in den Pfostenlöchern von Pömmelte darstellen. Mit den Ahnen wurden die Helden entwaffnet.
Es durfte keine Konkurrenz mehr geben. Wurzelt Pömmelte in der alten, heroischen Welt, aus der sich erst die Bronzezeit entwickeln sollte, repräsentiert Schönebeck das neue Zeitalter, in dem die zur Macht gelangten Fürsten alle Rivalen ausgeschaltet hatten. Es fand sich nicht eine Scherbe, die noch auf die neolithische Glockenbecherkultur hingewiesen hätte. Das hier war Aunjetitz in Reinkultur! Die neue Welt.
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Keine Menschenopfer, weder Schädel- noch Ahnenkult, keine rituellen Gelage mehr. Das Rondell von Schönebeck stand für sich selbst. Wir haben es mit einer Religionsrevolution zu tun: Der Befund erinnert an den Bildersturm der Reformation, als die Heiligen, Reliquien und Wunder wirkenden Bilder aus den Kirchen entfernt wurden – und es fortan allein auf das Wort Gottes ankommen durfte. Wir haben es mit einem Prozess der Rationalisierung zu tun, mit dem, was Max Weber »Entzauberung« nannte. Wenn auf dramatische Opfer ebenso verzichtet wird wie auf die Ahnen, wird an deren magische Kraft, an das, was wir Charisma nannten, nicht mehr geglaubt. Dann haben sie ihren Zauber verloren. Zumindest offiziell.
Nach unseren Ausführungen in Sachen Charisma sollte indes klar sein: Die Entzauberung kann nicht alles gewesen sein. Denn dann wäre das Rondell ein charismaloser Ort gewesen, keine Schnittstelle mehr. Der ganze Aufwand – für nichts? Nein, wir haben es mit einer Transformation des Charismas zu tun. Die Entzauberung ging mit einer Verzauberung einher. Mögen Ahnen und Menschenopfer auch verschwinden, das Rondell bleibt. Das Charisma wird monopolisiert, konzentriert sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Sonne.
Kreisgrabenanlagen haben seit jeher einen Sonnenbezug, auch ist der Kreis per se ein Sonnensymbol. Wir sahen, welch eine immens wichtige Rolle die Sonne auf der Himmelsscheibe von Nebra spielt. Spätestens seit der mittleren Bronzezeit wird Europa von einer Sonnenreligion dominiert. Der Sonnenwagen von Trundholm ist das prominenteste Zeugnis dafür. Die Entzauberung der alten Glaubenswelt geht mit einer Verzauberung der Sonne einher.
Hat nicht die goldfarbene Bronze das Strahlen der Sonne auf die Erde hinabgeholt? Waren ihre Schöpfer nicht Schmiede des Himmels? Vor allem waren sie Schmiede der Macht. Auf der symbolischen Ebene beobachten wir nämlich das, was wir auf der Ebene der Herrschaft beschrieben haben: Die Macht wird von den vielen abgezogen (sie werden entzaubert) und auf den einen übertragen (er wird verzaubert). Aus den vielen Helden werden nun Soldaten, aus dem einen wird der Superheld. Und das Charisma wird von den Ahnen der vielen auf den einen Fürsten transformiert: Die Monopolisierung des Charismas führt in letzter Konsequenz zur Vergöttlichung des Herrschers. Das Gold der Sonne ist sein Metall. Und damit haben wir einen weiteren Indizienbeweis vorliegen, dass wir es in Aunjetitz mit einem Prozess der Staatsbildung zu tun haben.
Was hier entsteht, nannte der Philosoph und Politikwissenschaftler Eric Voegelin »kosmologische Ordnung«. Er beschrieb damit jene Gesellschaften, die ihre Macht durch den Bezug auf die kosmischen Mächte der Sonne, des Mondes und der Sterne legitimieren. Kosmologische Ordnungen haben sich in Ägypten, Mesopotamien oder China jeweils unabhängig voneinander entwickelt. Wir haben es mit jener »symbolischen Form« zu tun, so Voegelin, »die von Gesellschaften erschaffen wird, sobald sie sich über die Stufe von Stammesgesellschaften erheben«, kurz, sie sind typisch für die ersten Staaten – und das Reich von Nebra.
Voegelin betont, dass diese Gesellschaften Symbole brauchen, Punkte der körperlichen Verbindung, über die der »Seinsstrom vom Kosmos« in das irdische Reich fließen kann, eine Art »Nabel der Welt«. Wir hatten dafür mit dem Ägyptologen Jan Assmann den Begriff des »Interface«, der Schnittstelle, eingeführt, mittels der himmlische und irdische Sphäre kurzgeschlossen werden. Auch Schönebeck war solch ein »Nabel der Welt«, an dem »transzendente Seinskräfte in die gesellschaftliche Ordnung fließen«, eine Quelle für die göttliche Macht der Herrscher. Und dass auch die Himmelsscheibe von Nebra eine kosmologische Schnittstelle erster Güte sein sollte, versteht sich heute noch auf den ersten Blick.
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Die Bronzezeit gilt traditionell als Zeit der Helden. Das ist irreführend. Wie der Archäologe Svend Hansen überzeugend ausführte, ist der neue Sozialtypus des Heroen schon für das ausgehende 4. Jahrtausend vor Christus nachweisbar: das Ideal herausragender Personen, die über das Leben hinaus eine großartige Inszenierung ihrer selbst verdient haben. Wir haben es ja schon beschrieben: Bereits die vorbronzezeitlichen Kulturen der Schnurkeramik und der Glockenbecher pflegten den Heldenkult. Was wir aber in der Bronzezeit tatsächlich sehen – und zwar im Kontext der ersten Staaten im Vorderen Orient und im Mittelmeerraum –, das ist die Geburt des Superhelden.
Superhelden – und das gilt tendenziell selbst für ihre modernen Comic-Wiedergänger – sind über die Kulturen hinweg durch zweierlei gekennzeichnet: Erstens sind sie Lieblinge der Götter, ja, mehr noch, in aller Regel beanspruchen sie, göttlichen Ursprungs zu sein. Von Gilgamesch, dem sagenhaften König von Uruk und ersten Superhelden der Weltliteratur, heißt es: »Zwei Drittel an ihm sind Gott.« Seine Mutter soll die Göttin Ninsun gewesen sein. Auch der nahezu unverwundbare Achilleus ist ein »Götterliebling«, Sohn der Meernymphe Thetis, Urenkel des Zeus. Und wieso konnte sich Pharao Ramses II. retten, als er in der Schlacht von Kadesch dem Feind gegenüberstand? Weil er sich in seiner Not an seinen Vater wendete, den Gott Amun: »Ich rief zu dir, mein Vater Amun.« Und dieser antwortete: »Ich bin mit dir! Ich bin dein Vater Amun.«
Zweitens: Mit der Vergöttlichung der Helden, mit dem Anwachsen auf geradezu kosmische Größe, geht das Schrumpfen ihrer Untertanen einher. Gilgamesch wird auf der ersten Tafel des Zwölftage-Epos als der »König der zahllosen Menschen« eingeführt – er ist der »Hirte von Uruk«. Er treibt es so wild, dass sich die Menschen bei den Göttern beschweren, weil Gilgamesch vor keiner der Frauen haltmacht (»Er ist ihr Stier, und sie sind die Kühe!«). Achilleus, König von Phthia, zieht an der Spitze der namenlosen Myrmidonen in die Schlacht (»wie Wölfe, gierig nach Fleisch und ihr Herz voll unermesslicher Stärke«, schreibt Homer), sie tragen schwarze Schilde, schwarze Rüstungen, sind absolut gehorsam und von überlegener Schlagkraft. Je 50 von ihnen saßen in den 50 Schiffen des Achill. Nirgends ist dieser Prozess eindrücklicher veranschaulicht als auf dem Relief der Kadesch-Schlacht im Tempel von Abu Simbel. Inmitten unzähliger Soldaten ist doch der eine Held unübersehbar: Überlebensgroß dargestellt, prescht Ramses II. auf einem Streitwagen heran, seine Pfeile treffen die Feinde, seine Pferde trampeln sie nieder. Wir wohnen der Geburt eines ebenso nachhaltigen wie menschenverachtenden Mythos bei: Mögen die Soldaten auch ihr Leben geben, allein der König erringt den Sieg.
Die Vergöttlichung des Herrschers, seine Rückbindung an die den Kosmos beherrschenden Mächte – das ist das Erfolgsgeheimnis der frühen Staaten. Die Monopolisierung des Charismas ist die Grundvoraussetzung der Staatsbildung. Und weil der König dadurch eine göttliche Qualität erhält, geht sein Charisma auch auf seine Nachfahren über. Wenn er selbst göttlichen Ursprungs ist, sind es auch seine Erben. Damit wird das Hauptproblem charismatischer Herrschaft gelöst: das Außeralltägliche alltäglich zu machen, Macht über den Zeitraum eines Menschenlebens hinaus auszudehnen. Kurz, ohne himmlische Unterstützung ist nirgends ein Staat entstanden. Die Götter sind es, die als Antwort auf Bourdieus Frage taugen, warum die vielen den wenigen folgen, und zwar dauerhaft.
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Und hier müssen wir noch einmal zu den Menschenopfern von Pömmelte zurückkehren. Herrschaft muss sichtbar werden. Mehr noch: Sie muss Realität werden. Schließlich kann jeder behaupten, er wäre ein Liebling der Götter. Deshalb müssen am Anfang reale Taten stehen. Das kann ein Sieg über Feinde, das können aber auch Menschenopfer sein. Denn dass einer sich über die anderen erhebt und die Gewalt beansprucht, sie öffentlich zu töten, vielleicht noch fürchterlich zu foltern, ohne dass ihn irdische oder himmlische Mächte daran hindern: In solch absoluter Macht über Leben und Tod manifestiert sich Charisma. Dann ist der Anspruch auf Herrschaft nicht mehr bloßes Gerede, sondern wird blutige Realität. Menschenopfer spenden Legitimität, sie beweisen die Wahrheit des Charismas.
Deshalb finden wir Menschenopfer überall dort, wo die ersten Staaten entstehen, das hat schon der Archäologe Gordon Childe (1892–1957) konstatiert, und die Forschung in den letzten Jahren hat es immer deutlicher herausgearbeitet. Menschenopfer begleiten regelmäßig die Geburt der archaischen Staaten, als wären sie deren schreckliche Geburtswehen. Das gilt, wenn auch in unterschiedlicher Weise und Intensität, für Ägypten, Mesopotamien und China, aber ebenso für das alte Mexiko oder das vorkolumbianische Peru.
Eine 2016 in Nature veröffentlichte Studie präsentierte die Ergebnisse einer Analyse von 93 historischen Kulturen der austronesischen Sprachfamilie, das sind verschiedenste Kulturen, die von Madagaskar bis Hawaii im Indischen und im Pazifischen Ozean zu finden sind. Die rituellen Tötungen, die sich in 40 von ihnen nachweisen ließen, zeigten dabei eine große Bandbreite und waren teils extrem grausam. Die Opfer besaßen typischerweise einen niedrigen sozialen Status, manchmal stammten sie aus benachbarten Kulturen. Aufschlussreich war die Verteilung: Während von den egalitären Gesellschaften nur 25 Prozent Menschen opferten, waren es bei den sozial leicht geschichteten 37 Prozent, jedoch bei den hochstratifizierten Gesellschaften 67 Prozent. Das Fazit der Studienautoren: »Menschenopfer halfen dabei, streng in Klassen aufgeteilte soziale Systeme zu errichten und soziale Ungleichheit im Allgemeinen zu bestärken.« Wir sagten es bereits in einem früheren Kapitel: Der Weg Richtung Staat war für die Untertanen keiner, der ins Glück führte.
Einer der Co-Autoren der Studie, Russell Gray, Direktor der Abteilung Sprach- und Kulturevolution am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena, konstatiert: »Menschenopfer boten ein besonders effektives Mittel der sozialen Kontrolle, da sie eine übernatürliche Rechtfertigung für die Bestrafung lieferten. Herrscher, wie Priester und Häuptlinge, galten oft als Gesandte der Götter, und die rituelle Tötung eines Menschen war die ultimative Demonstration ihrer Macht.«
Das ist ein zentraler Punkt: die ultimative Demonstration der Macht. Die symbolische Macht, von der Bourdieu sprach, muss eben doch in einem Fall ganz real erfahrbar gewesen sein, erst danach kann sie unsichtbar wirken. Ohne diese Rückbindung an die Wirklichkeit würde sie niemand glauben. »Höchster Ernst beruht auf der Drohung des Todes«, stellte schon der Gräzist Walter Burkert fest. Das biologische Faktum des Todes scheint der einzige Beweis, der für Menschen wirklich zählt. Alles andere lässt sich behaupten, fälschen, revidieren. Nur der Tod schafft Wahrheit. Deshalb ist das öffentliche Töten der ultimative Beweis für das Auserwähltsein, für das Charisma. Da es auf keine Widerstände stößt, geschieht es in Übereinstimmung mit dem Willen der Götter. Den Menschen bleibt nichts als die Unterwerfung, sie werden vollends zu Untertanen.
Menschenopfer als ultimative Legitimationsstrategie – das sollte uns nicht zu sehr verwundern: Den jüdisch-christlichen Religionen wird zugestanden, die Praxis der Menschenopferung geächtet zu haben. Beide ziehen aber daraus Glaubwürdigkeit. Indem Abraham schon das Messer gezückt hatte und bereit war, seinen Sohn Isaak auf Gottes Befehl zu opfern, beweist er, wie todernst ihm sein Glauben war. Und für viele Christen ist der Umstand, dass Gott seinen eigenen Sohn opferte, der Umstand, dass Jesus tatsächlich am Kreuz starb, der Beweis für die Wahrheit des christlichen Glaubens.
Nun haben Wissenschaftler wie Peter Turchin darauf hingewiesen, dass das Praktizieren von Menschenopfern sich auf Dauer als »dysfunktional« erweist. Die Furcht und der Schrecken, die sie verbreiten, zersetzen die Gesellschaften von innen heraus, die Menschen suchen verzweifelt nach Wegen, dem ein Ende zu bereiten – sie haben ja nichts zu verlieren. Deshalb verschwinden die Menschenopfer dort, wo es Staaten gelingt, sich zu etablieren.
Die Menschenopfer von Pömmelte tauchen also genau dort auf, wo sie zu erwarten waren: in der Entstehungsphase von Herrschaft. Und dass sie in Schönebeck verschwinden, ist der Beweis, dass es Aunjetitz gelungen ist, seine Herrschaft zu etablieren. Dass Pömmelte dem Boden gleichgemacht wurde, kann damit auch als ein Versprechen an die zu Untertanen gewordenen Menschen gewertet werden: Das ist vorbei! Wir opfern euch nicht mehr! Bereits in den Fürstengräbern glaubten wir zu sehen, dass sich die Fürsten als Versöhner inszenierten.
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Ziehen wir ein Fazit der letzten Kapitel: Technologisches Wissen und Fernbeziehungen bildeten die Ursprünge der sich formierenden Macht von Aunjetitz. Dank der fruchtbaren Böden, des Salzes und der idealen Handelslage konnten hier von einer Elite enorme Überschüsse erwirtschaftet werden. Da diese Elite auch über beeindruckende Heiligtümer verfügte, besaß sie das nötige Charisma und eine überwältigende symbolische Macht, um ihre Herrschaft zu etablieren. Sie scheute nicht davor zurück, diese Macht durch Menschenopfer auf ultimative Weise zu demonstrieren.
Innerhalb der Elite gelang es dann einem Fürsten, sich an die Spitze zu setzen. Das ist ein Prozess der Monopolisierung, der mit der Enteignung und Erniedrigung der vielen einherging: Sowohl die Krieger als auch die Ahnen verloren an Bedeutung. Es entsteht eine »kosmologische Ordnung«, wie sie für frühe Staaten typisch ist. Sie legitimiert Herrschaft, indem sie die Charisma spendenden Kräfte des Kosmos, allen voran die der Sonne, anzapft und dadurch die Macht des Königtums speist.
Dieses Charisma wird mittels eines fein austarierten Prestigegütersystems, das auf exakten Farb-, Material- und Zahlencodes beruht, in die Gesellschaft hinein vermittelt. Und zwar durchaus als »Gnadengabe«: Der König war Herr über die materiellen und religiösen Ressourcen, er gab die Waffen an die ihm Ergebenen aus und schuf sich auf diese Weise Gefolgschaften. Die so sichtbar werdende Hierarchie stellt jenes Gerüst der Macht dar, das dem Reich von Aunjetitz Stabilität und Dauerhaftigkeit sicherte. Und wenn der König göttlicher Herkunft ist, sind es seine Söhne auch. Dann ist dynastische Herrschaft die logische Konsequenz.
Die archäologischen Befunde harmonieren damit. Die Entmachtung der alten Gewalten zeigt sich auf der religiösen Ebene in der Abkehr von den Ahnen, wie wir das im Übergang von Pömmelte zu Schönebeck sehen. Und auf der weltlichen Ebene schlägt es sich in der Entmachtung der Krieger nieder, nur noch die Elite darf Waffen mit ins Grab nehmen. Faszinierend ist auch, dass sich die massive Stratifizierung, die Entwicklung hin zu einer fast kastenartigen Hierarchie, bis hinein ins Metall nachweisen lässt. Denn als die Waffen ihrer Soldaten nur aus Kupfer waren, reichten den Fürsten goldschimmernde Zinnbronzen. Als auch der Zinnanteil der Beile stieg, durfte es für unseren König von Dieskau nur noch Gold sein. Daraus war sein Beil, daraus waren vermutlich auch seine verschollenen Dolche.
Und das verbindet ihn mit den Gottkönigen aus dem Orient. Bereits der erste namentlich bekannte Held, ein König aus Ur namens Meskalamdug (»Held des guten Landes«), nahm goldene Dolche mit ins Grab. Und dass auch Tutanchamun einen Golddolch besaß, erwähnten wir bereits. Diese Entwicklung kann einerseits durch den Kontakt der Eliten untereinander entstanden sein. Sie kann sich andererseits auch unabhängig vollzogen haben: Das Distinktionsbedürfnis der Eliten führte zwangsläufig zu solchen Prunkwaffen. Deren Auftauchen ist damit ein Lackmustest für die Existenz so extremer Hierarchie, wie wir sie aus den frühen Staaten kennen.
Während sich der König in einer Pyramide des Nordens bestatten lässt, wird den Untertanen lediglich ein einfaches Flachgrab zugestanden. Weil der gewaltige Statusunterschied mit dem Tod nicht enden darf, nimmt der Herrscher auf seine Reise in die andere Welt neben seiner Waffenausstattung und den Herrschaftsinsignien ein ganzes Arsenal an Produktionsmitteln mit: eine Siedlung, Schwarzerde im Überfluss und gewaltige Mahlsteine, um seine Soldaten für alle Ewigkeit mit Proviant zu versorgen.
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Wir haben diesen Prozess nicht zuletzt deshalb so detailliert beschrieben, weil wir es mit Entwicklungen zu tun haben, die für die folgenden gut vier Jahrtausende Menschheitsgeschichte prägend sein werden. Wir sehen, wie sich erstmals die soziale Schere auf bis dahin unbekannte Weise öffnete. Gewaltige Reichtumsdifferenzen entstanden, die sich auch auf die Lebens- und Reproduktionschancen auswirkten. Über die privilegierte Ernährung der Fürsten, ihre gewaltigen Gräber sprachen wir bereits. Zusätzlich ist davon auszugehen, dass in Aunjetitz das Gleiche geschah wie im Orient: Die Herrscher monopolisierten nicht nur die Ressourcen, sondern auch die Frauen. Wie hieß es bei Gilgamesch? »Er ist ihr Stier, und sie sind die Kühe!« Zum Königtum gehörte der Harem. Mittlerweile liefern genetische Studien erste Hinweise darauf, dass in diesen Zeiten wenige Männer viele Kinder, viele Männer aber keine Kinder hatten.
Hatte der Homo sapiens die längste Zeit der Evolution in egalitären Gruppen gelebt, ähnelte sein Schicksal fortan dem eines Bienenvolks: Abgesehen von wenigen Drohnen müssen alle zum Wohl der Königin schuften – nur dass diese im Fall der Menschen männlich ist. Auch für das Reich von Nebra wird, zumindest in Ansätzen, das gegolten haben, was Karl August Wittfogel für die »orientalische Despotie« konstatierte: Der »sprichwörtliche Glanz« der frühen Hochkulturen verdankt sich dem »sprichwörtlichen Elend ihrer Untertanen«. Im Orient darf man sich gottgleichen Herrschern nur noch auf Knien nähern, das Gesicht im Staub. War es in Aunjetitz besser?
Wir haben den Prozess skizziert, wie dabei das Charisma monopolisiert wird, wie es von den vielen auf den einen übertragen wird, wie aus den vielen Helden uniforme Soldaten werden und aus dem einen der glänzende König. Dieser Prozess ist aufs Engste mit der technologischen Innovation des Bronzegusses verquickt. Erstmals in der Geschichte konnten Gegenstände seriell gefertigt werden. War jede Steinaxt eine Einzelanfertigung, in welche die Individualität ihres Schöpfers einfloss, wurden nun gleichartige Beile in Serie produziert. Das hatte zur Folge, was Walter Benjamin in seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit beschrieben hat: den Verlust der Aura, des Charismas. Das seriell Hergestellte ist nichts Besonderes mehr, es ist austauschbar, besitzt nicht mehr den individuellen Zauber, der einem Einzelstück innewohnt. Wir haben es hier mit jenem Schritt zu tun, der uns letztlich jene oft als »gesichtslos« gescholtene Massengesellschaft bescheren wird, deren Mitglieder unter einer teils verzweifelt zu nennenden Sehnsucht nach Individualität leiden.
Nun vollzieht sich dieser Transformationsprozess auch auf der religiösen Ebene – wir sprachen von einer Religionsrevolution. Wie ausgeführt, bezeichnet Charisma die Idee des »In der göttlichen Gnade«-Stehens. Entsprechend haben wir es mit der Genese einer Idee zu tun, welche die Geschichte besonders hartnäckig prägen wird: die Vorstellung, dass die Herrschaft einzelner Individuen über die Masse ihrer Mitmenschen gottgewollt sei. Ihre männlichen Herrscher haben eine direkte Verbindung zu den obersten Göttern, die fortan in aller Regel ebenfalls männlicher Natur sind. Auch wenn die Monarchen nicht behaupten, selbst Götter oder göttlicher Abkunft zu sein, beanspruchen sie doch, dass ihre Herrschaft von Gottes Gnaden sei – und damit auch das meist wenig erfreuliche Schicksal ihrer Untertanen.
Damit entsteht eine Spielart der Religion, deren Hauptzweck es ist, Herrschaft zu sichern; sie produziert die dazu nötige symbolische Macht. Hier formiert sich Religion erst als eigenständiger Bereich. Es ist eine Herrschaftsreligion, die den Menschen vorschreibt, was diese zu glauben haben. Dazu braucht sie Experten, deren Aufgabe es sein wird, mittels größter ritueller Opulenz alle von der Wahrheit ihrer Glaubenslehre zu überzeugen und gleichzeitig mit Argusaugen darüber zu wachen, dass niemand an ihr zweifelt. Denn das wäre immer auch ein Zweifel an der Herrschaft.
Das ist ein Prozess, der in der Religionsgeschichte wiederholt zu beobachten ist: Der Zugang zur himmlischen Sphäre wird zentralisiert, die religiösen Zwischengewalten werden abgeschafft. Die Ahnen haben ausgedient, die normalen Menschen werden religiös enteignet. Neben dieser offiziellen Religion bleibt aber die inoffizielle Religion des Alltags bestehen, die weiterhin ihren direkten Austausch mit den Ahnen, den Kräften der Natur oder den alten, von der Macht verdrängten weiblichen Gottheiten pflegt. Eine Religion, in der es keinen Glaubenszwang braucht, weil sie dichter an den religiösen Bedürfnissen der Menschen ist. Sie harmoniert mit dem, was wir am Anfang des Kapitels als das Substrat des Glaubens beschrieben haben – und was heute viele als Grundlage der Spiritualität verstehen. Von der offiziellen Religion wird diese Sphäre kritisch beäugt, oft als Aberglauben denunziert und bekämpft. Noch heute wird gern übersehen, dass offizielle Religionen in der Regel enger mit der Herrschaft verbunden sind als mit den tatsächlichen Glaubensbedürfnissen der Menschen – auch davon legt die Himmelsscheibe von Nebra Zeugnis ab.