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Die Rache der Götter
Am Anfang des Buchs hatten wir versprochen, uns in der Tradition von Götter, Gräber und Gelehrte an einem tatsachenbasierten »Roman der Archäologie« zu versuchen. Was die Analysen der Himmelsscheibe angeht und die Erkundung der fantastischen Welt, aus der sie stammt, mag uns ansatzweise jene Art von Forschungsreportage gelungen sein, die C. W. Ceram im Sinn hatte, um die Leser dicht am Erkenntnisgewinn teilhaben zu lassen. Wir zeigten, dass wir es in Mitteldeutschland vor gut 4000 Jahren tatsächlich mit einer hochkomplexen Kultur zu tun hatten, die ein solches Meisterwerk wie die Himmelsscheibe hervorbringen konnte. Sollten wir uns aber nun, da wir dem Ende des Buchs entgegengehen, auch an einem Tatsachenroman über das Reich von Nebra selbst versuchen, in dem wir das konkrete Schicksal der Himmelsscheibe nacherzählen?
Keine Angst, Fantasyromane zur Himmelsscheibe gibt es genug. Denen wollen wir keine Konkurrenz machen. Trotzdem erscheint es sinnvoll, darüber nachzudenken, wie ein tatsachenbasierter Roman der Archäologie aussehen könnte, verbirgt sich dahinter doch die Frage, wie die archäologischen Beobachtungen mit dem realen Geschehen zu verknüpfen sind. Wie ließe sich eine annähernd stimmige Geschichte erzählen, in der die verschlungene Vita der Himmelsscheibe in die von uns rekonstruierte untergegangene Welt des frühbronzezeitlichen Europas eingepasst wird? Dafür müssen wir konkrete Antworten auf Fragen wie diese geben: Wer war denn nun der Schöpfer der Himmelsscheibe, und wie gelangte er konkret an das Wissen der plejadenbasierten Schaltregel? Was für ein Mythos verbirgt sich hinter der Sonnenbarke? Woher stammt er? Und warum ist solch ein kostbarer Schatz am Ende heimlich verborgen worden, als sei er der Hort der Nibelungen?
Zugegeben, selbst eine Romanhandlung nur zu skizzieren ist ein mehr als abenteuerliches Unterfangen. Zu kämpfen hat es mit den spezifischen Schwierigkeiten der prähistorischen Archäologie. Tatsächlich haben wir es ja im wahren wie im übertragenen Sinne hauptsächlich mit Gerippen zu tun. Die Zeit und ihre mikroskopisch kleinen Helfer verschlangen längst das Fleisch, das Leben, die Gedanken, Träume und Geschichten.
Die nächste Schwierigkeit: Eine Kultur kommt nie in allen Bereichen gleich gut über die Zeiten. Immer sind die Eliten in den Hinterlassenschaften überrepräsentiert – und zwar ebenso maßlos, wie sie im Leben dem Luxus frönten. Die Armen dagegen erscheinen archäologisch fast unsichtbar. Ähnliches gilt für die Geschlechter. Auch die weibliche Sphäre ist in den Funden unterrepräsentiert. Was wissen wir schon über die Frauen von Aunjetitz? Sie sind uns so gut wie nur in Gestalt von Gewaltopfern begegnet. Es gibt einige Hinweise auf reiche Frauenbestattungen – aber noch viel zu wenig Anhaltspunkte für ihre Lebenswirklichkeit. Und das ist mehr als schade. Zum Beispiel wüssten wir zu gern, ob sich aus dem Umstand, dass Frauen in Aunjetitz auf die gleiche Weise wie Männer bestattet wurden, ein neues Rollenbild für sie ableiten lässt.
Nicht einmal einen Fürstensitz haben wir sicher identifizieren können. Selbst wenn eines der teils fast 60 Meter langen Häuser als Residenz diente, können wir nicht sagen, wie prunkvoll sie ausgestattet war: Die aus Holz und Lehm bestehende Architektur mit ihren Schnitzereien, Farbfassungen und Tapisserien überlebte die Zeiten nicht. Und wie hielt man Berichtenswertes fest? Ritzte man Abgabenlisten in Holz oder knüpfte Knoten um Knoten in Schnüre, wie es die Inkas in den Anden taten? Auch solche Medien überdauerten die Zeiten in Mitteleuropa nicht, obwohl zumindest in Feuchtbodensiedlungen Hinweise darauf zu finden sein müssten. Bei den Kelten fungierten die Druiden als mentale Wissensspeicher. Allein durchs Memorieren häuften sie immense Wissensvorräte an und gaben diese von Generation zu Generation weiter. Dass in Aunjetitz wenigstens ein Bewusstsein existierte, dass Wissen auch extern, also außerhalb der Köpfe gespeichert werden kann, dafür ist die Himmelsscheibe ein eindrucksvoller Beleg.
Wir sehen, allen Forschungsfortschritten der letzten Jahre zum Trotz herrscht an weißen Flecken kein Mangel. Statt eines Romans der Archäologie könnten wir uns nur an der Archäologie eines Romans versuchen. Deshalb werden wir uns mit der Skizze eines möglichen Romanverlaufs begnügen müssen. Um zu zeigen, dass wir tatsachenbasiert vorgehen und kein zu großes Maß dichterischer Freiheit beanspruchen, fügen wir jeweils erläuternde Kommentare an. Leider entfalten diese mitunter ein Eigenleben. Deshalb wird unser Romanfragment ein wenig an E. T. A. Hoffmanns Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr erinnern. Da notierte der Kater seine Erinnerungen auf den leeren Rückseiten bereits beschriebener Makulaturblätter. Weil der Setzer es an Aufmerksamkeit vermissen ließ, druckte er beides, und die Leser bekamen abwechselnd zwei Geschichten erzählt. Machen wir uns nun also an die Archäologie des So-könnte-es-gewesen-Seins. Wohl wissend, dass alles viel abenteuerlicher war, als sich das unser aufgeklärter Verstand vorstellen kann.
***
Die Erde bebt, immer wieder. Dann bleibt es lange still. Trotzdem will niemand mehr in seinem Haus schlafen. Das Warten wird zur Qual. Die Boten, die übers Meer gefahren sind, um Hilfe zu holen, hätten längst zurück sein müssen. Warum nur erschüttern Erdbeben so lange schon die Insel? Was hat der Rauch zu bedeuten, der aus dem Wasser steigt? Woher kommen all die fauligen Gerüche? Die Kräfte der Natur sind außer Rand und Band geraten. Endlich zeigt sich ein Segel am Horizont, dann noch eins, eine Armada naht. Die braucht es auch. Immerhin leben Tausende von Menschen auf der Insel. Die allermeisten sind entschlossen, ihre Heimat zu verlassen und nach Kreta zu gehen. Sie packen Hab und Gut, gehen zum Hafen hinab. Nur einen einzigen Toten werden die Archäologen 3600 Jahre später finden. Ob er plündern wollte, sich weigerte, sein Zuhause zu verlassen, oder zur Strafe zurückgelassen wurde? Auf jeden Fall sieht er mit an, wie der Ascheregen einsetzt, der Himmel aber bald wieder aufklart. Wie sich die Eruptionen steigern, das Tageslicht ständig dramatisch die Farbe wechselt. Als der Vulkan von Thera schließlich explodiert, weil das Meerwasser in die Magmakammer eindringt, ist er längst tot. Tagelang verbirgt die Sonne ihr Antlitz über dem östlichen Mittelmeer. Blitze durchzucken die Aschewolken. Wenn es je den Anschein hatte, die Welt ginge unter, dann hier und jetzt.
2000 Kilometer weiter im Norden besteigt in jener Zeit der letzte König seines Reichs einen heiligen Berg. Er hat es eilig, treibt sein Gefolge an. Das Opfer muss vollzogen sein, bevor die Sonne blutrot untergeht. Das ist seine letzte Chance, ansonsten ist alles verloren …
Nein, uns treibt keine Sensationslust an, wenn wir diese Romanskizze dramatisch mit dem Ausbruch des Vulkans von Thera in der Ägäis beginnen. Dessen Eruptionssäule reichte fast 40 Kilometer in die Atmosphäre hinauf. Die Insel zerbrach (Touristen kennen ihre Überreste als Santorin). Der Ausbruch gilt als eine Urkatastrophe des Altertums. Vom Untergang von Atlantis bis zur durch den folgenden Tsunami verursachten Teilung des Roten Meers in der Bibel werden einige der größten Mythen mit dem Thera-Ausbruch in Verbindung gebracht. Belege dafür gibt es keine, zumindest aber fanden sich Überflutungsspuren an den Küsten Kretas und Anatoliens. Schätzungen gehen davon aus, dass die Eruption Wellen von 35 Metern Höhe übers Meer schickte. Doch was hat das mit der Himmelsscheibe von Nebra zu tun?
Einmal mehr müssen wir Archäologie rückwärts betreiben. Schließlich haben wir keinen direkten Anhaltspunkt, wie alt die Himmelsscheibe selbst ist. Das einzig fassbare Datum, das uns vorliegt, ist der Zeitpunkt, an dem sie unweit der Unstrut in den Boden kam. Die C-14-Datierung der Birkenrinde aus einem der Schwertgriffe sowie das erste Auftauchen der Schwerter in mitteldeutschen Gefilden und das archäologisch diagnostizierte Ende der Frühbronzezeit lassen es als sicher erscheinen, dass das Himmelsscheiben-Ensemble um das Jahr 1600 vor Christus herum auf dem Mittelberg in der Erde versenkt wurde. Und damit sind wir genau im Zeitfenster des Thera-Ausbruchs. Zufall? Wir glauben nicht.
Zwar ist die Datierung des Vulkanausbruchs, der früher gern mit der Zerstörung der großen Paläste der minoischen Kultur auf Kreta in Verbindung gebracht wurde, seit Jahrzehnten umstritten, doch auch hier sorgen neue naturwissenschaftliche Ergebnisse für mehr und mehr Sicherheit. Nach der absoluten Datierung zweier vom Ascheregen verschütteter Olivenbäume fand die »minoische Eruption« mit 95,4-prozentiger Sicherheit zwischen 1627 und 1600 vor Christus statt. Die erwähnte C-14-Datierung der Birkenrinde aus einem der beiden unbenutzten, nahezu gussfrischen Nebra-Schwerter lieferte ihrerseits als engstes Zeitfenster den Zeitraum 1625 bis 1600 vor Christus. Das Loch für die Himmelsscheibe, in das sie mit den Schwertern gelangte, wurde also aller Wahrscheinlichkeit geschaufelt, nachdem die Welt des östlichen Mittelmeers vom Thera-Ausbruch massiv erschüttert worden war. Wir kommen darauf zurück.
Es ist deshalb keine dramaturgische Finte, mit dem dramatischen Ende zu beginnen. Nur so finden wir den Startpunkt unserer Geschichte. Rechnen wir rückwärts: Das Bildprogramm der Himmelsscheibe hat wiederholt so gravierende Veränderungen erfahren, dass ihnen jeweils ein Wandel der Gedankenwelt vorausgegangen sein muss. Deshalb ist von einem Gebrauch von mindestens sechs Generationen auszugehen. Dann verweist nicht nur die Kombination von Gold und Bronze auf die Fürsten von Leubingen (um 1940 vor Christus) und Helmsdorf (um 1830 vor Christus). Die Analysen von Gregor Borg und Ernst Pernicka lieferten naturwissenschaftliche Belege, dass wir es mit dem gleichen Cornwall-Gold zu tun haben, wie es für Teile des Fürstenornats verwendet wurde. Da aber die ältesten bisher nachgewiesenen Spuren des Bergbaus im Mitterberg-Revier in den Ostalpen, woher das Scheibenkupfer kommt, wiederum erst aus dem 18. Jahrhundert vor Christus stammen, kommen wir zum Schluss, dass das irdische Leben der Himmelsscheibe 150 bis 200 Jahre gewährt haben muss. Ihr Schöpfer ist damit in der Zeit zwischen 1800 und 1750 vor Christus anzusiedeln; er gehört in die zeitliche und soziale Sphäre der Fürsten des Bornhöck, der Könige von Dieskau. Das ist keine Überraschung. Wir sehen dort das Reich von Nebra in voller Blüte.
Nachdem wir also unser Romanfragment mit dem Untergangsszenario des Thera-Vulkans begonnen haben, blenden wir nun zurück, um den ersten Meister der Himmelsscheibe zu begleiten. Wir sind eine Erklärung schuldig, wie er an das astronomische Wissen gelangte. In Mitteldeutschland konnte er es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gewonnen haben. Die Wetterverhältnisse boten zu selten freie Sicht auf den Sternenhimmel. Außerdem fehlte es in einer schriftlosen Gesellschaft aller Wahrscheinlichkeit nach an Möglichkeiten, die dafür nötigen gut 40 Jahre kontinuierlicher Himmelsbeobachtung zu protokollieren. Unser Held könnte sich also vor fast 4000 Jahren ins Morgenland aufgemacht haben. Ein amtierender Fürst wird das nicht gewesen sein, die Herrschaft verlangte Präsenz. Also war es sein Sohn, vielleicht der Thronfolger.
Unser junger Held, ein Prinz von Dieskau, bricht gen Süden auf. Die goldenen Lockenringe, das prachtvolle, von goldenen Ösenkopfnadeln zusammengehaltene Gewand und der Bronzedolch weisen seinen hohen Rang aus. Ehrenvoll wird er aufgenommen, wo immer er hinkommt. Seine Mission: alte Bündnisse für die Zukunft zu erneuern. Auch als ihn die Reise über die Grenzen der befreundeten Reiche hinausführt, empfängt man ihn freundlich. Man weiß um seine Verbindungen, weiß, dass in seiner Heimat Männer regieren, die über viele Krieger gebieten. Doch immer zieht es unseren Helden weiter. Er folgt dem Weg der Donau, reist durch reiche Lande; die Menschen besitzen viel Gold. Er macht stets nur kurz halt. Was treibt ihn an? Will er zum Schwarzen Meer? Die Ägäis sehen? Es könnten die Geschichten sein, die er unterwegs vernimmt, die Gerüchten gleich von fernen Reichen und ihren mächtigen Herrschern kursieren. Sie spornen seine Entdeckerlust an. Oder weiß er, dass man dort, wo er hinreist, nach Zinn giert und Bernstein von der Ostsee begehrt, den Ovid Jahrtausende später die »Tränen der Sonnentöchter« nennen wird? Einen Beutel mit Bernsteinperlen hat er in jedem Fall dabei. So leicht und schön, wie sie sind, stellen sie perfekte Gastgeschenke dar.
Übertreiben wir es nicht mit der Entdeckerlust unseres bronzezeitlichen Marco Polos? In den ersten Jahren der Himmelsscheiben-Forschung waren wir da selbst sehr vorsichtig und versuchten, alles so lokal wie möglich zu erklären. Mittlerweile sind wir da anderer Ansicht und befinden uns auf recht sicherem Boden. Schon die hohe Mobilität der Glockenbecherkultur faszinierte die Archäologen. Der in England bestattete Amesbury Archer stammte wohl aus den Alpen. Solche Reisen waren nicht nur möglich, sie waren notwendig. Die dänische Archäologieprofessorin Helle Vandkilde vertritt die These, dass wir es in der Bronzezeit mit der ersten Globalisierung zu tun haben, bedingt durch das nur an wenigen Orten der Welt abgebaute Zinn. Vankilde sieht die Bronzezeit als »einzigartiges Beispiel der Verschränkung eines kontinentübergreifenden afrikanisch-eurasischen Großraums …, der sich um etwa 2000 vor Christus herausbildete und um circa 1200 vor Christus wieder verschwand«. Mit dem Aufkommen des Eisens kann dann später jeder auf vor Ort vorhandene Ressourcen in Form von Raseneisenerz zurückgreifen. Regionalisierung ist die logische Konsequenz.
Wie aber realisierte sich solch ein Großraum? Sicher, Güter waren mobiler als Menschen; trotzdem brauchte es immer auch die Reisen einzelner Personen. Sie erst knüpften die Handelsnetzwerke. Die Eliten konnten ihre Beziehungen über Tausende von Kilometern nur über persönlichen Kontakt aufrechterhalten, und sei er noch so sporadisch. Die »Grand Tour«, die Reise durch Europa, die seit der Renaissance zum Pflichtprogramm junger Adliger gehörte, dürfte also eine Art Vorläufer in der frühen Bronzezeit gehabt haben. Das erste große Thema der Weltliteratur? Von Gilgamesch bis Odysseus: der reisende Held!
Früher war die Archäologie skeptisch, was Fernbeziehungen anging. Seitdem aber die Genetik mehr und mehr zeigt, welch ein Migrationsprodukt Europa ist, wandelt sich das. Die Landwirtschaft ist von Menschen aus dem Orient nach Europa gebracht worden. Das Indoeuropäische verdanken wir wohl den Schnurkeramikern, deren Vorfahren aus der Tiefe der eurasischen Steppe stammten. Über die weitere Ausdifferenzierung der europäischen Sprachen wissen wir noch wenig. Da aber das Indoeuropäische erst im 3. Jahrtausend vor Christus nach Europa kam, werden sich Anfang des 2. Jahrtausends die Sprachen in Europa noch nicht so weit voneinander entfernt haben, dass man sich gar nicht mehr verstehen konnte. Die Verständigung dürfte also Reisenden nicht allzu schwergefallen sein.
Auch die von der Iberischen Halbinsel bis in den Kaukasus vorkommenden goldenen Lockenringe belegen einen gesamteuropäischen Kommunikationsraum. Schwieriger sieht es mit handfesten Beweisen für Kontakte über Europa hinaus aus. Zu den klassischen Beispielen für Fernkontakte gehören die Schleifennadeln aus dem 21. bis 20. Jahrhundert vor Christus, deren formelle Übereinstimmung zwischen Zypern und Mitteleuropa verblüfft. Sie finden sich genauso wie Ösenhalsringe in einiger Anzahl im Vorderen Orient, vor allem im Libanon. Auch der Elektron-Ring des Dieskauer Fürsten hat ja in Byblos an der östlichen Mittelmeerküste ein Gegenstück.
Leider fehlen noch oft die metallurgischen Untersuchungen, die mehr Gewissheit bringen könnten. Im Fall der Lanzenspitze von Kyhna haben sie das bereits getan, ohne aber die Rätselfrage der Fernkontakte wirklich zu lösen. Das für hiesige Gefilde einzigartige Stück stammt aus einem Aunjetitzer Depotfund, der zwischen 2100 und 2000 vor Christus keine 20 Kilometer vom Bornhöck entfernt vergraben worden war. Solche Lanzenklingen finden sich in der Ägäis, vor allem auf den Kykladeninseln. Ein Importstück? Nein. Die Analysen zeigen: Die Klinge ist aus heimischem Metall gefertigt. Lanzen, die im östlichen Mittelmeer schon im 3. Jahrtausend verbreitet waren, tauchen in Mitteleuropa aber erst viel später auf. Insofern ist für die Kyhna-Klinge Ähnliches anzunehmen wie für die Himmelsscheibe: Jemand wird damals in der Ferne gewesen sein, wo er sie sah, und zu Hause den Auftrag gegeben haben, sie nachzuschmieden. Damit läge bereits ein Fernkontakt aus der Zeit vor dem Leubinger Fürsten vor. Aus der späteren, der Dieskauer Zeit dann existieren neuerliche Indizien für einen Aunjetitz-Ägäis-Kontakt: In den Schachtgräbern Mykenes finden sich vereinzelt Perlen baltischen Bernsteins. Da aber in dieser Zeit Aunjetitz keinen Bernstein so weit in den Süden handelte, könnten sie als Fürstengeschenke dorthin gelangt sein.
In der Zeit nach der Himmelsscheibe nehmen die Hinweise auf Fernkontakte zu. Auf einer der Steinplatten des Königsgrabs von Kivik in Südschweden (circa 1300 vor Christus) ist ein zweirädriger, von Pferden gezogener Streitwagen zu sehen. Die aber gab es nur in Griechenland und im Vorderen Orient. Der in Kivik bestattete Bronzezeitfürst muss also den Wagen dort zu Gesicht bekommen haben. Dann sind da die wunderschönen blauen Glasperlen, die sich in Gräbern Norddeutschlands und Dänemarks aus dem 15. und 14. Jahrhundert vor Christus finden. Hier zeigen die chemischen Untersuchungen: Sie stammen tatsächlich aus Mesopotamien und Ägypten. Traditionell werden die schimmernden Preziosen als Handelsimporte interpretiert. Weil sich aber stets nur wenige Perlen fanden, glauben wir, dass sie Reisen einzelner Menschen dokumentieren. Leicht, attraktiv und in Europa unbekannt, stellen sie die ideale Reisewährung dar – ganz so, wie wir das hier im umgekehrten Fall für den Bernstein annehmen. Die Perlen sind also Reisehinterlassenschaften, eingelöste Traveller Cheques der Vorzeit. Ironischerweise sollten die Europäer selbst Glasperlen mitnehmen, als sie sich Jahrtausende später in den »wilden Westen« Nordamerikas aufmachten.
Kehren wir zu unserem Helden zurück. Mit langen Reisen war er vertraut. Sicher war er mit seinem Gefolge auf der alten Zinn- und Goldroute nach England gelangt, hatte Stonehenge und die weißen Grabhügel bestaunt. Als Thronfolger hatte er von klein auf Einblick in die Geschäfte der Macht erhalten, war in die Geheimnisse der Metallurgie und der Orte eingeweiht worden, wo die nötigen Ingredienzien zu finden waren. So gehörte es sich nun mal für die Söhne der Dynastie. Alte Pakte beeiden, neue Kontakte schließen, unbekannte Erzquellen entdecken. Kurz, sich in die Welt einführen, als Held beweisen, um seinen künftigen Platz einzunehmen im europäischen Machtgeflecht, das auf persönlichen Beziehungen von Fürst zu Fürst beruhte. Doch bei ihm war da immer mehr gewesen, ein dringender Wunsch, den Dingen auf den Grund zu gehen und Neues zu entdecken.
Unser zukünftiger Meister der Himmelsscheibe ist auf dem Weg in den Süden. Ans Umkehren verschwendet er keinen Gedanken. Ihn zieht es ins Reich jenes Herrschers, von dem ihm an jedem Marktflecken sagenhafte Geschichten erzählt werden: Ein Liebling der Götter sei das, weise, begabt mit großer Weitsicht und strategischem Geschick, Sieger in vielen Schlachten. An den großen Strömen habe er ein Reich geschaffen, wie es vorher keines gab. Triumph um Triumph machten ihn unsterblich. In der Tat, noch heute kennt jeder den Namen des Königs: Hammurapi. Er machte Babylon groß, sein Bild finden wir in den Schulbüchern.
Stopp! Ist das nicht bloße Spekulation, was wir betreiben? Bringen die Himmelsscheibe mit dem erstbesten berühmten Namen aus dem Orient zusammen? Nun, wenn wir die Datierungen ernst nehmen, haben wir kaum eine andere Wahl. Unser Meister der Himmelsscheibe ist tatsächlich ein Zeitgenosse Hammurapis. Und wenn er Richtung Zweistromland unterwegs war, konnte er gar nicht anders, als von dem babylonischen König zu hören. Ob er ihm begegnet ist? Zumindest in sein Reich gelangte? Auf jeden Fall hätte Hammurapi dem Gast aus Europa eine Menge zu bieten gehabt.
Hammurapi I. regierte von 1792 bis 1750 vor Christus. Als sechster König der Dynastie von Babylon trug er den Titel König von Sumer und Akkad. Begonnen hatte er als König eines kleinen Reichs, wie es viele an Euphrat und Tigris gab; am Ende herrschte er über ganz Mesopotamien. Auf einer über zwei Meter hohen Stele aus schwarzem Diorit sind 24 Städte verzeichnet, über die er gebot: Ur, Uruk, Assur und Ninive waren darunter – und natürlich seine Residenz Babylon. Deren Stadtgott Marduk steigt unter Hammurapis Herrschaft zum Herrn des mesopotamischen Pantheons auf. Wir erinnern uns: Marduk ist jener Gott, von dem es heißen wird, er habe das wunderbar regelmäßige Jahr mit 360 Tagen eingerichtet, in dem Sonne und Mond noch in Einklang waren, und die sieben bösen Dämonen, die Sebettu, soll Marduk auch bezwungen haben.
Die Diorit-Stele ist weltberühmt: Der »Codex Hammurapi« zählt heute zu den Glanzstücken des Louvre in Paris. Auch wenn es Vorläufer gab, gilt er als ältestes Gesetzeswerk der Welt. In seinem Prolog, der den über 280 Paragrafen vorangestellt ist, wird ausgeführt, dass es die Götter waren, die Hammurapi auftrugen, für gerechte Ordnung zu sorgen. Der König sei die »Sonne von Babylon … die über dem Land Sumer und Akkad das Licht aufgehen lässt«. Das Relief, das den Codex ziert, zeigt Hammurapi vor einem thronenden Gott stehend, der nur wenig größer als der König ist. Das ist der Sonnengott Šamaš (mitunter auch Schamasch geschrieben, sein sumerischer Name lautet Utu). Er ist der Sohn des Mondgottes Sin. Dank seines Lichts, das alles erhellt, dank seiner Bahn über den Himmel entging Šamaš’ Augen nichts, was auf Erden geschah. Das machte ihn zum idealen Hüter von Recht und Ordnung.
Auf Šamaš’ Hörnerkrone thront eine Sonnenscheibe, in der rechten Hand hält er einen Schreibgriffel und einen Ring – etwas größer als jene, die wir aus den Aunjetitzer Fürstengräbern kennen. Die Altertumskundler sehen in dem Ring, der sicher aus dem Sonnenstoff Gold war, ein Symbol monarchischer Macht. Bedeutungsvoll ist der direkte Augenkontakt zwischen Hammurapi und Šamaš, auch stehen König und Sonnengott über den Ring in direktem Kontakt. Hier fließt göttliche Macht auf den irdischen Herrscher über. Aus der persönlichen Verbindung resultiert Hammurapis Charisma, das ihm die Legitimation gibt, das Recht über alle Menschen seines Reichs zu setzen. Das Relief präsentiert uns also genau das, was wir im vergangenen Kapitel beobachteten: Die Legitimation der Herrscher speist sich aus göttlich-kosmischer Quelle. Die Macht der Sonne wird angezapft! So funktionieren kosmologische Ordnungen.
Babylon hatte einiges an Inspiration zu bieten für einen Prinzen aus einem aufstrebenden Entwicklungsland wie dem mitteldeutschen Aunjetitz. Aus der babylonischen Königschronik wissen wir, dass Hammurapi im 15. Jahr seiner Regentschaft für die »Sieben« ein Bildnis anfertigen ließ, was diesem Jahr auch den Namen gab. Diverse Forscher bringen das – für uns alles andere als überraschend – mit den Plejaden in Verbindung, den himmlischen Repräsentanten der unheilvollen Sebettu-Dämonen.
Im alten Babylon Hammurapis findet sich also genau jene Melange, die auch die Himmelsscheibe auszeichnet. Sonne, Plejaden und Könige, die sich auf göttlichen Direktkontakt berufen. Vom in Mesopotamien allgegenwärtigen Mond, der das Kalenderwesen beherrschte, ganz zu schweigen. Und es ist diese Mischung, die wir bei einer zweiten, noch größeren Berühmtheit der Zeit finden: bei Gilgamesch, dem legendären König von Uruk. Auch sein Schutzgott ist der Sonnengott Šamaš. Mit dessen Unterstützung zieht Gilgamesch los, um den Wächter des Zedernwalds, den Unhold Humbaba, zu überwältigen. In der separat überlieferten Episode »Gilgamesch und Humbaba« kommen auch die Sieben ins Spiel. Da beauftragt der Sonnengott die Sebettu, Gilgamesch den Weg über die Bergpässe zum Zedernwald zu weisen. Der Altertumskundler Tomislav Bilić sieht darin den ältesten schriftlichen Beleg für die Benutzung der Sterne als himmlisches Navigationsinstrument. Keine Frage, die Kombination Sonne, Plejaden und Dämonen, Gott, Held und König gehört zur kulturellen DNA der Welt Mesopotamiens.
Wir sehen, hier in Babylon könnte der Prinz von Aunjetitz das ganze Wissenskonglomerat erfahren haben, das charakteristisch für die Himmelsscheibe ist. Was gäben wir dafür, zu erfahren, ob unser Held Hammurapi persönlich traf oder ob er nachts auf einem der Zikkurate saß, einem der gestuften Tempeltürme, und den babylonischen Astronomen lauschte, die ihn in die Geheimnisse des Sternenhimmels einführten. Wer weiß, vielleicht hat der Hamburger Astronom Rahlf Hansen recht, wenn er für das Jahr 1778 vor Christus eine »Idealsituation« am Himmel annimmt: In dieser fiel die letzte jährliche Sichtbarkeit der Plejaden mit der Neulichtsichel, also der ersten Sichtbarkeit des Mondes am Abendhimmel nach Neumond, zusammen. Das war Hansens Ansicht nach der himmlische Anlass für Hammurapi, den Sieben ein Kultbild zu schaffen. Zumindest das scheint uns wahrscheinlich: Der reisende Fürstensohn erfuhr zwischen Euphrat und Tigris das Geheimnis, wie sich der Jahreslauf von Sonne und Mond in Einklang bringen lässt. Dass er die Bedeutung der dafür nötigen Schaltregel abschätzen konnte, steht außer Frage; das beweist die kostbare Umsetzung auf der Himmelsscheibe.
In Babylon erfährt der Prinz Dinge, die bestens zu den Herausforderungen passen, die ihn in seiner Heimat erwarten, sobald er den Thron besteigt. Auch sieht er, wie sich Hammurapi als »guter Hirte« seines Landes inszeniert. Er hört, dass sich dessen Untertanen in ihren Briefen an den König als »Sklaven« bezeichnen müssen. Der neuen Einsichten übervoll, macht sich unser Held auf die Heimreise. Vielleicht führt ihn der Weg dorthin, wo der legendäre Zedernwald stand, von dem das Gilgamesch-Epos erzählt, vielleicht wiesen ihm sogar die Plejaden im Dienste des Sonnengottes den Weg. Er wäre dann womöglich nach Byblos gelangt, dem wichtigsten Umschlagplatz für das Zedernholz des Libanon. Von dort nimmt er einen kleinen Armring aus Elektron mit, um ihn zu Hause seinem Sohn zu schenken.
Im Hafen von Byblos besteigt er ein Schiff, das ihn nach Griechenland bringt. Am Hof von Mykene wird er freundlich aufgenommen. Der König spricht zu ihm und seinen Gefährten: »Fremdlinge, sagt, wer seid ihr? Von wannen trägt euch die Woge? Habt ihr wo ein Gewerb, oder schweift ihr ohne Bestimmung hin und her auf der See: wie küstenumirrende Räuber, die ihr Leben verachten, um fremden Völkern zu schaden?« Der Aunjetitzer Prinz gibt freundlich und geduldig Auskunft. Seine letzten Bernsteinperlen, die er als Gastgeschenk überreicht, öffnen ihm die Herzen. Der ganze Hof ist fasziniert von der magischen Kraft der Perlen; reibt man sie, ziehen sie Haare an. Das Staunen und Lachen kennt kein Halten mehr.
Man speist gemeinsam, vollzieht die Opfer. Unser Held bewundert die Weise, wie hier Gold auf Metallen befestigt wurde. Das hatte er schon im Orient gesehen, aber hier werden damit Dolche auf wunderbare Weise verziert. Ihm kommt eine Idee. Vielleicht ließe sich so ein Bild herstellen, auf dem er das Geheimnis des Himmels verewigen könnte, das er in Babylon erfahren hat. Er beschließt, auf der Rückreise in die Heimat darüber nachzudenken, wie er das anstellen könnte; vor allem was man zeigen müsste, um das Wissen in Gold zu bannen. Zum Abschied spricht der König von Mykene zu ihm: »Edlen Geblüts bist du, mein Sohn; das zeuget die Rede! Von den Schätzen, so viel ich in meinem Hause bewahre, geb ich dir zum Geschenk das schönste und köstlichste Kleinod: Gebe dir einen Kelch von künstlich erhobener Arbeit, aus geläutertem Silber, gefasst mit goldenem Rande! Den will ich jetzo dir schenken.«
Ertappt, die Worte, die wir unserem König von Mykene in den Mund legen, sind nicht von uns. Die haben wir vom größten aller Sänger ausgeliehen, sie stammen aus Homers Odyssee, genauer gesagt der »Telemachie«, die von der Reise des Telemachos erzählt, der allerorten nach seinem Vater Odysseus sucht. Das erste Zitat stammt vom Rössebändiger Nestor, dem Herrscher von Pylos; das zweite, in dem tatsächlich von einem tauschierten Kelch die Rede ist, spricht bei Homer der Spartanerkönig Menelaos zu Telemachos.
Die »Telemachie« illustriert, wenn auch aus späterer Zeit als die Himmelsscheibe, wie die Helden reisten, wie sie an fremden Höfen als ihresgleichen aufgenommen wurden und Geschenke austauschten. Wir glauben also, dass unser Aunjetitz-Held von seiner Odyssee, die ihn in den Orient wie nach Mykene führte, nicht nur fantastisches astronomisches Wissen mitbrachte, sondern gleich auch die in seiner Heimat zuvor unbekannte Technik des Tauschierens – und dass diese es war, die ihn auf die Idee brachte, sein Wissen in Gold und Bronze zu verewigen. Die Himmelsscheibe ist also in Inhalt und Gestalt das Produkt einer phänomenalen Reise.
Zurück in Dieskau, beauftragt der Prinz den Schmied des Hofs, ihm eine Scheibe aus Bronze und Gold zu fertigen. Dazu darf er aber nicht das Kupfer verwenden, aus dem die Waffen der Soldaten gegossen werden; nein, es muss das Erz aus der Ferne sein, das damals neu aus den Alpen nach Aunjetitz gelangt. Und das Gold ist natürlich jenes, das schon seit alters aus Cornwall kam, um seine Vorväter zu schmücken. Was kostbares Wissen über die Gesetze des Himmels tragen soll, darf nicht aus Allerweltsmaterial hergestellt sein.
Als der Prinz den Thron besteigt, stellt er die Himmelsscheibe in seiner Halle auf; dort, wo ihre Sterne im Licht der Fackeln funkeln. Allein der innerste Kreis der Macht bekommt sie aus der Nähe zu sehen. Als König, der ein Geheimnis mit dem Sonnengott teilt, gibt er Waffen aus Gold in Auftrag – auch die hat er auf seinen Reisen gesehen. Als der Tod naht, überreicht er seinem Sohn die Himmelsscheibe und weiht ihn in ihr Geheimnis ein.
Mag es noch so abenteuerlich klingen: So ungefähr könnte es sich zugetragen haben. Was ist denn wahrscheinlicher: dass die auf komplexer Himmelsbeobachtung basierende Kombination Sonne, Mond, Plejaden und absolutes Königtum an zwei entfernt liegenden Orten ungefähr zur selben Zeit, jedoch unabhängig voneinander erfunden wurde? Oder dass wir es mit einem Reisenden zu tun haben, der im Orient Antworten auf Fragen fand, mit denen man sich zu Hause in Mitteleuropa herumschlug?
Und selbst wenn unser Held gar nicht in Mesopotamien gewesen ist, sollte deutlich geworden sein, wie gut das Reich der Himmelsscheibe mit dem orientalischen Staatsdenken harmonierte. Damit hätten wir eine weitere, eine wissenssoziologische Bestätigung unserer Staatsthese: Wenn unser Held im Orient war – wunderbar! Wenn er nicht da war – noch viel besser! Dann haben wir es in Aunjetitz mit genau jenen Strukturen zu tun, die eigenständig eine solche Ideologie hervorbrachten. Dann muss hier alles noch viel komplexer gewesen sein, als wir das ohnehin schon vermuten.
***
Nun wird es noch schwieriger mit unserer Romanskizze. Neues Personal betritt die Bühne. Erinnern wir uns: Auf der Himmelsscheibe werden zwei Sterne entfernt, dafür wird sie links und rechts mit den Horizontbögen versehen. Damit wurde die ursprüngliche Schaltregel zumindest ansatzweise zerstört. Verschiedene Erklärungen bieten sich an. Die erste: Die Kontinuität wird unterbrochen. Ein Herrscher kam überraschend ums Leben – wieder ein Mord, ein Unfall, eine Krankheit –, jedenfalls war keine Zeit, seinen Nachfolger einzuweihen. Die zweite: Es fand eine bewusste Änderung statt, um das Wissen zu erweitern oder die Scheibe an hiesige Bedingungen anzupassen. Die orientalischen Erkenntnisse wurden eingenordet, indem man sie mit der traditionellen Gedankenwelt Europas kombinierte, in der, wie es die Kreisgrabenanlagen dokumentieren, der Sonnenlauf entscheidend war.
Die 83 Grad, die aus den Horizontbögen resultieren, passen zur geografischen Breite von Pömmelte und Schönebeck; das Herrschaftszentrum Dieskau liegt weiter südlich. Pömmelte war längst aufgegeben; auch die Nutzung des Heiligtums Schönebeck, zumindest legen das die aktuellen Daten nahe, endete schon um 1800. Das würde gut zu jenem Prozess der Zentralisation der Macht in der Region Dieskau passen; ein an der Peripherie des Reichs gelegenes Heiligtum hatte es da schwer. Haben wir es bei dieser Winkelkonstellation also mit einer Wiederbelebung alter Traditionen zu tun? Zumindest lässt sich die Kenntnis der Winkel zwischen den Auf- und Untergängen zu Zeiten der Sonnenwenden in einer Kreisgrabenanlage mit ihrem künstlichen Horizont aus Palisaden am besten gewinnen. Dann wäre die Himmelsscheibe dank der Horizontbögen zum Fokus solch einer Anlage geworden, zum Nabel der Welt, dem Auge des Kosmos – die perfekte Schnittstelle zwischen Himmel und Erde.
In jedem Fall gilt: Die Himmelsscheibe verbleibt im Kreis der Elite. Denn die Übertragung der exakten Winkel und die Berücksichtigung der Nordverschiebung der Horizontbögen sprechen für große intellektuelle Kapazitäten. Mag auch die Umarbeitung einen Wissensbruch darstellen, belegt sie doch die Kontinuität der Herrschenden. Auch das neu verwendete Gold stammt aus der alten Cornwall-Quelle der Fürsten. Vielleicht sollte die Umgestaltung deren territorialen Herrschaftsanspruch untermauern: Vom sumerischen König Lugal-zage-si heißt es, dass der höchste Gott Enlil ihm im Reich »von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang« keinen Gegner bescherte. Im Reich eines Königs, der die Sonne seines Landes ist, markieren die Horizontbögen die Grenzen seines Reichs. Zumindest eines ist sicher: Die Veränderungen führen weg vom Memogramm raffinierten astronomischen Wissens hin zu einem Symbol der Macht.
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Wir haben unseren Romanfaden verloren. Vielleicht taugt unser Stoff auch eher für ein Theaterstück als für eine Romanskizze. Eine Tragödie in fünf Akten. Dann müsste der dritte Akt jetzt den Höhepunkt darstellen, von dem aus die Handlung sich auf das Ende, die Katastrophe hin zubewegt. In jedem Fall ändert sich mit der dritten Phase wieder das Personal. Jetzt kommt das Schiff auf die Scheibe. Rätselhaft, woher es stammt. Wir sollten konsequent bleiben: Wenn wir annehmen, dass die Himmelsscheibe, was Wissen und Gestaltung angeht, das Produkt einer bronzezeitlichen Grand Tour durch den Orient und die Ägäis war – warum nicht auch dieses? Machte sich wieder der Thronfolger einer mittlerweile mehr als etablierten Dynastie auf den Weg nach Südosten?
Wir zögern zu behaupten, sein Weg habe ihn nach Ägypten geführt. Andererseits gilt auch hier: Es wäre die einfachste Erklärung. Angesichts des überdeutlichen Sonnenbezugs des Reichs von Nebra erscheint eine andere Deutung des Bogens am unteren Rand denn als Sonnenbarke unwahrscheinlich. Aber vielleicht hat unser Held der vielleicht fünften oder sechsten Generation auch unterwegs von diesem ägyptischen Mythos erfahren. Der Stoff war ja weniger komplex als die Schaltregel. Trotzdem dürfte es den Prinzen gleich gepackt haben, passte der Mythos doch zu gut zu den Weltvorstellungen seiner Dynastie. Und wir dürfen nicht vergessen: Auf der Klinge eines der Nebra-Schwerter windet sich eine Schlange, die ebenfalls ägyptischen Ursprungs sein könnte. Durchaus eine bemerkenswerte Besonderheit, ist doch die frühe Bronzezeit Mitteleuropas ansonsten unter Archäologen eher als bilderfeindlich bekannt.
Weil auch Ägypten zu den Staaten mit kosmologischer Ordnung gehört, lohnt der Blick auf den Mythos und seine Umsetzung: Der Sonnengott Re reist am Tag in der Sonnenbarke über den Himmel und wechselt bei Sonnenuntergang in die Nachtbarke, mit der er durch die Unterwelt fährt. Dort aber greift ihn regelmäßig die riesige Schlange Apophis an; sie säuft das Himmelsgewässer aus, damit die Sonnenbarke strandet. Es ist der dunkle Gott Seth, der Re beschützt. Er steht am Bug, bohrt der Schlange den Speer in die Seite, woraufhin Re die nächtliche Fahrt fortsetzen kann, um am nächsten Morgen strahlend wiedergeboren die neuerliche Fahrt über den Himmel anzutreten. Von alters her betrachten sich ägyptische Pharaonen als »Söhne des Re«.
Bemerkenswert ist die Veränderung, die dieser Sonnenmythos mit der Zeit erfährt: Waren ursprünglich viele Götter an der Sonnenreise beteiligt, verschwinden diese. Der Sonnengott reist allein, nicht einmal mehr für die Schlange gibt es Platz. Aus einer gemeinsamen wird eine einsame Handlung. Was der Ägyptologe Jan Assmann als die »monistische Fokussierung des kosmischen Lebens auf eine einzige Quelle« bezeichnet, ist unschwer als jener Entzauberungsprozess zu erkennen, den wir im Übergang der Heiligtümer Pömmelte zu Schönebeck beobachtet haben. Es ist der Prozess der Monopolisierung des Charismas im Zuge der Monopolisierung der Macht. Wie auf Erden, so im Himmel: Ein absoluter Herrscher fährt besser damit, wenn auch seine göttliche Legitimationsquelle autark und konkurrenzlos ist. Und dafür ist die Sonne, die Leben spendet und allein den Tageshimmel beherrscht, die ideale Gottheit.
Nirgends ist das besser zu beobachten als in Ägypten. Zwar erreichen diese Entwicklungen ihren Höhepunkt erst, als die Himmelsscheibe schon seit über 200 Jahren im Boden ruht, dennoch ist es sinnvoll, einen kurzen Seitenblick darauf zu werfen, geht es doch um Prozesse, die an vielen Orten so ablaufen können, weil sie in der Herrschaftslogik kosmologischer Ordnungen liegen. Überdies spielt die Sonnenbarke eine prominente Rolle. Sie ist das Vehikel, mit dem der Mythos Wirklichkeit wird.
Amenhotep III., auch als Amenophis bekannt, war der neunte Pharao der 18. Dynastie und regierte von 1390 bis 1353 vor Christus. Die ägyptische Herrschaft über den Orient hatte einen solchen Höhepunkt erreicht, dass es für diesen »Erben eines vom Sonnengott gesegneten Throns«, wie der Ägyptologe Toby Wilkinson spöttisch bemerkt, »besonders schwierig gewesen« sei, »seinen Drang nach königlicher Selbstverherrlichung zu zügeln«. Und was passte da besser zur Inszenierung als die Sonne? So ließ Amenhotep einen künstlichen See anlegen, auf dem er sich in einer königlichen Barke namens »Die glänzende Sonnenscheibe« herumrudern ließ. Überdies beanspruchte er, nicht mehr nur der »Sohn des Re«, sondern »auch wesensgleich mit der Sonne« zu sein, »mit dem Schöpfergott, der die Welt erhellte und ihr Leben spendete«. Das gipfelte in einer megalomanen Zeremonie zum Thronjubiläum. Auf beiden Seiten des Nils waren riesige Häfen angelegt worden. Am Tag des Fests erschienen Amenhotep III. und seine Gemahlin Teje am Ufer, um für die Würdenträger des Reichs ein grandioses Schauspiel ihrer Macht und der Göttlichkeit des Königs zu geben. »Von Kopf bis Fuß mit Gold bedeckt, glänzten sie wie die Sonne«, beschreibt Wilkinson das Geschehen. Am Osthafen bestieg das Paar die Sonnenbarke. Höflinge zogen sie mit Seilen das Ufer entlang: »… ein Anklang an das tägliche Wunder, durch das der Sonnengott nach Tagesanbruch in den Himmel emporgezogen wurde.« Im Westhafen dann stieg das Königspaar in die Abendbarke um. Nun wiederholte sich das Geschehen, um diesmal das Eintauchen der Sonne in die Unterwelt Gestalt annehmen zu lassen. Der Pharao war die Sonne selbst.
Deshalb gilt der Sohn Amenhoteps III., Amenhotep IV., zu Unrecht als Erzketzer. Er wird nur das Werk seines Vaters konsequent zu Ende führen. Berühmt wurde er unter seinem neuen Namen »Echnaton« – der »Diener Atons«, der Diener der sichtbaren Sonnenscheibe. Der Ehemann der Nofretete und Begründer des ersten bekannten Monotheismus der Weltgeschichte ächtete die anderen Gottheiten, vor allem Amun, dessen Platz als höchster Schöpfergott nun Aton übernahm. Echnaton befahl einen Bildersturm. Traditionelle Kulte wurden verboten und ihre Tempel geschlossen. An die Stelle der vielen Götter trat die Darstellung der Sonnenscheibe am Himmel. Doch als Echnaton 1336 vor Christus starb, setzte die mächtige Amun-Priesterschaft die alten Götter wieder in ihre Rechte ein, und aus Echnatons Sohn Tutanchaton – »das lebendige Bild des Aton« – wurde Tutanchamun.
Echnatons neuer Gott war die »lebendige Sonne« und nichts als die Sonne; »jene Energie«, erklärt Assmann, »die durch ihre Bewegung die Zeit und durch ihre Strahlung das Licht und damit alle sichtbaren Dinge hervorbringt«. Das neue Bild vom Sonnenlauf sei »antimythisch«, so der Ägyptologe. Aton, die Sonne, wird als bloße Scheibe, von der Strahlen ausgehen, dargestellt. Ein Bild, das im Prinzip ähnlich rational und entzaubert ist wie die Gestirne auf der Himmelsscheibe von Nebra.
Was wir mit unserem kleinen Ägyptenexkurs demonstrieren möchten: Die Sonne ist nicht erst seit dem Sonnenkönig Ludwig XIV. das Lieblingsgestirn absoluter Herrscher. Auch die römischen Kaiser der Spätzeit werden sich den »unbesiegten Sonnengott«, den »Sol Invictus«, als persönlichen Schutzgott und Herrn des römischen Imperiums auswählen. Und es ist alles andere als ein Zufall, dass ausgerechnet Kaiser Konstantin, der dem Christentum als monotheistischer Religion in Rom zur Macht verhelfen wird, sich zunächst als Sol Invictus inszenierte. Für Alleinherrscher ist die Sonne das ideale Symbol.
Deshalb spricht einiges dafür, auch die Sonnenbarke der Himmelsscheibe als Herrschaftszeichen zu deuten. Stand sie für den Herrscher selbst, der wie die Sonne über sein Land wacht? Das Schiff ist also keine Ikone eines neuen Glaubens, der die ganze Bevölkerung erfasst hätte; es ist das Symbol jener Herrschaftsreligion, die wir im letzten Kapitel beschrieben haben. Und es liegt in der Konsequenz absoluter Herrschaft. Deshalb dürfte der angehende Herrscher von Dieskau dem ägyptischen Sonnenmythos verfallen sein, ganz gleich, wo er von ihm erfuhr. Und zwar so sehr, dass er ihn auf dem altehrwürdigen Erbstück seiner Dynastie verewigte.
Wir tun uns schwer, das in eine Romanhandlung umzusetzen. Es mangelt an konkreten Anhaltspunkten, die uns vor Willkür schützen. Halten wir also fest: Niemand denkt hier mehr an Astronomie. Hier geht es um Herrschaft, der König wird mythifiziert, vergöttlicht. Damit wird die Himmelsscheibe endgültig vom Wissensspeicher zum Herrschaftsgerät: vom Logos zum Mythos! Die mittlerweile einige Generationen alte und allein daher charismatische Himmelsscheibe wird zu einem zentralen Mittel, Herrschaft zu legitimieren. Ihre Botschaft ist sonnenklar: Es kann nur einen geben.
Dazu passt der archäologische Befund. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert vor Christus kennen wir in Mitteldeutschland kaum noch Gräber. Die Deponierungen und Siedlungsspuren sind weiterhin archäologisch fassbar. Aber die Menschen werden entweder in Siedlungsgruben bestattet oder gelangen gar nicht mehr in die Erde. Sie erhalten kein Grab, das die Zeiten überdauert. Was ebenso aus der archäologischen Überlieferung verschwindet, ist jene Elitenschicht, die goldene Haarringe oder andere Metallbeigaben mit ins Grab nehmen durfte.
Akt drei also stellt tatsächlich den Höhepunkt der Zentralisierung der Herrschaft dar: Es gibt nur noch den sonnengleichen König, alle Zwischengewalten verschwinden, alle potenzielle Konkurrenz wird ausgeschaltet. Der Unterschied zwischen dem einen da oben, der alles hat, und denen da unten, die nicht einmal mehr ein eigenes Grab erhalten, könnte kaum größer sein. Doch wie die Erfahrung lehrt: Je größer die Diskrepanz zwischen Arm und Reich, zwischen Macht und Ohnmacht, umso größer werden die Widerstände. Und wie in der griechischen Tragödie trägt auch hier das Geschehen im Höhepunkt schon den Keim des Untergangs in sich.
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Wir bleiben vorerst der Theateranalogie treu. Um die Spannung hoch zu halten, enthält nämlich der vierte Akt klassischerweise das sogenannte retardierende Moment: Hier wird die Katastrophe noch einmal verzögert. Wieder haben wir es mit einem neuen Herrscher von Aunjetitz zu tun. Und der lässt die altehrwürdige Himmelsscheibe lochen. Schlag um Schlag schlägt ein Schmied 39 Löcher am Rand ein. Um einen Steckkalender herzustellen? Nein, das können wir nun ausschließen. Die Veränderungen der Himmelsscheibe standen alle im Zeichen der Sonne und damit der Herrschaft. Hier geht es um kein astronomisches Geheimwissen mehr, hier geht es um politischen Anspruch – und der ist nichts fürs stille Kämmerlein, der verlangt nach Öffentlichkeit. Wen interessieren da Details? Ob Schiff oder Horizontbögen: Alles wird rücksichtslos durchbohrt.
Der Held des vierten Akts lässt die Himmelsscheibe mit goldfarbenen Nieten auf einer Standarte montieren. Vielleicht, weil die vielen Nieten die Sonnenstrahlen symbolisieren sollen wie auf den Sonnenscheibenabbildungen Echnatons. Jedenfalls wird nun die Himmelsscheibe öffentlich präsentiert: Als charismatisches Objekt wird sie bei besonderen Gelegenheiten dem Herrscher vorangetragen. Wurde sie womöglich selbst bei Festen zur Protagonistin kultischen Geschehens?
Unser Blick nach Ägypten zeigte, wie der Sonnenmythos dort zum Leben erweckt wurde und den Pharao in einem für alle sichtbaren Schauspiel zum Gott machte. Auch die später anbrechende Bronzezeit Skandinaviens liefert Indizien, dass die Sonne Protagonistin rituellen Geschehens war. Die Sonnenscheibe des Wagens von Trundholm besitzt nicht nur eine Tag- und eine Nachtseite; sie kann aus ihrer Befestigung genommen werden, um möglicherweise von anderen Vehikeln transportiert zu werden. Aus dem Norden kennen wir zudem Sonnenstandarten: Scheiben aus Bernstein, die an einem Griff befestigt sind. Felsbilder zeigen, wie solche Sonnenstandarten auf Booten montiert übers Wasser fahren. Fantastische Figuren begleiten sie, schlagen Saltos über die Schiffe. Dänische Archäologen fanden entsprechende Bronzefiguren: einen Akrobaten, eine Frau mit goldenen Augen, die sich an die Brust fasst, und eine Schlange. Alle verfügen über Steckvorrichtungen, mit denen sie auf Modellschiffen platziert gewesen sein könnten, um die Sonnenreise im Ritus nachzuspielen. Dass der dänische Archäologe Flemming Kaul die einzelnen Stationen dieses zyklischen Geschehens rekonstruiert hat, an dem verschiedene Tiere wie Pferde, Schlangen, aber auch Schiffe beteiligt waren, führten wir bereits im ersten Teil des Buchs aus. Nun stellt sich die Frage, ob diese Mythenwelt nicht durch unseren Reisenden aus Aunjetitz inspiriert wurde, der das Motiv der Sonnenbarke aus der Welt des Mittelmeers nach Aunjetitz mitbrachte, von wo es weiter nach Norden gelangte. Angesichts des allgegenwärtigen Meeres konnte es dort eine viel größere Wirkung entfalten als im meeresfernen Mitteldeutschland. Auch das ägyptische Schlangenmotiv könnte er im Gepäck gehabt haben; wir finden es ja nicht nur später im Norden, sondern auch auf einem der Nebra-Schwerter.
Die mittlerweile mindestens fünf, vielleicht auch acht oder neun Generationen alte Himmelsscheibe ist zu einem mächtigen Symbol geworden. Mit ihrem Alter, ihrer Aura und ihrem Geheimnis überwältigt sie die Menschen. Wahrscheinlich spielt sie nun die Hauptrolle in einem großartigen kultischen Geschehen. Die astronomischen Inhalte sind weitgehend vergessen, das geheime Wissen zählt nur noch als Mysterium. Die Himmelsscheibe legitimiert fortan als charismatisches Objekt öffentlich Herrschaft: Sie wird zum Propagandainstrument. Die Löcher am Rand sind damit zugleich Dokumente einer Krise, der Herrscher steht unter Rechtfertigungsdruck. Er fühlt sich so bedroht, dass er alles mobilisiert, um seine Macht zu retten.
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Der fünfte Akt bringt dann, wie es sich für eine klassische Tragödie gehört, den Untergang. Die Himmelsscheibe wird mit zwei kostbaren, goldverzierten Schwertern, zwei Beilen, zwei Armspiralen und einem Meißel auf dem Mittelberg in der Erde vergraben. Wir haben schon an mancher Stelle des Buchs davon gesprochen, dass das Himmelsscheibenensemble als Gabe an die Götter deponiert worden sei. Können wir da denn wirklich sicher sein? Kann es nicht sein, dass einfach ein Schatz versteckt worden ist? Ähnlich wie es der sagenhafte Hagen von Tronje tat, der den geraubten Nibelungenhort im Rhein versenkte?
Nein. Die Vorgehensweise zeigt, es sind die eigenen Leute, die sie hier ehrenvoll bestatten. Das Ensemble verweist überdeutlich auf das Grabbeigabenmuster, wie wir es aus der Fürsten- und Königstradition des mitteldeutschen Aunjetitz kennen. Deshalb findet sich, abgesehen von den Verzierungen, kein Gold in dem Nebra-Hort – da gilt noch das alte Tabu, dass rein goldene Objekte nicht deponiert werden durften. Bei einem versteckten Schatz hätte man sich nicht mehr darum geschert. Auch sind die C-14-datierten Bronzeschwerter so gut wie nagelneu, als sie vergraben werden. Sie sind aus dem gleichen Mitterberg-Kupfer gefertigt wie die Himmelsscheibe, und das Gold ihrer Griffmanschetten ist das gleiche Cornwall-Gold, aus dem je eine Ösenkopfnadel der Fürsten von Leubingen und Helmsdorf wie auch große Teile des Bildprogramms der Himmelsscheibe bestehen. Seit weit über 300 Jahren wird dieses Cornwall-Gold von den Fürsten des Reichs verwendet. Noch ist das Gemeinwesen also intakt.
Dafür spricht ebenso der gewählte Ort, der aufgrund seiner Besonderheiten, was den Lauf der Sonne angeht, bestens zu den Horizontbögen der Himmelsscheibe passt. Wir finden auf dem Mittelberg auch jene älteren schnurkeramischen Gräber, die erneut charismatische Bezugspunkte sind. Versuchen wir uns also wieder an einer Romanpassage:
Er ist der letzte König von Aunjetitz, Abkömmling eines alten Geschlechts, das in der Gnade der Sonne steht. Die Verzweiflung ist groß. Die Feinde werden mächtiger und mächtiger, und mit der Ruhe im Land ist es längst vorbei. Immer mehr Soldaten verweigern den Gehorsam. Nicht dass sie revoltierten, sie verschwinden einfach. Und jetzt steht der Himmel in Flammen, viel zu lange schon. Gerüchte aus dem Süden versetzen die Menschen in Angst und Schrecken. Sie erzählen vom Zorn der Götter. Felsbrocken, groß wie Häuser, sollen sie vom Himmel herabgeschleudert und Fluten geschickt haben, um Menschen und Vieh zu ertränken. Überall kursiert die bange, wenn auch allenfalls flüsternd geäußerte Frage: Was hat die Götter so in Rage versetzt? Wer ist schuld? Wen wollen sie bestrafen?
Es ist an ihm. Er ist der Vertraute der Götter, wie seine Väter von den Göttern eingesetzt, um über das Land zu herrschen. Er muss sie beschwichtigen. Beweisen, dass er noch in ihrer Gunst steht, einer der ihren ist. Und all die Unterstellungen aus dem Weg räumen, dass sich die Götter an ihm rächten, weil er es vernachlässigt hatte, sie zu ehren – und nur seinen Prunk im Sinn hatte. Vor allem muss er jene zum Verstummen bringen, die behaupten, dass alles noch viel schlimmer werden würde, wenn man nicht den König aus dem Weg räumte, der die Rache der Götter auf sich gezogen hat. Nach langen Beratungen mit seinen engsten Vertrauten hat er sich zu einem ungeheuren Akt entschlossen. Er sieht keine andere Möglichkeit mehr: Er muss ein großes Opfer bringen, er will das wichtigste Erbstück seiner Dynastie in die Hände der Götter geben, um ihre Gunst zurückzugewinnen. Nun heißt es sich sputen, geht die Sonne unter, ist sein Schicksal besiegelt!
Das Reich von Aunjetitz war immer stärker unter Druck geraten, von innen wie von außen. Über Jahrhunderte hinweg hatte es erstaunlich gut funktioniert. Die anthropologischen Untersuchungen zeigen, den Menschen ging es gut. Fruchtbare Böden und günstiges Klima sorgten dafür, dass die Abgabenlast weniger schwer wog als im Orient. Zum Glück der Untertanen – aber zum Leidwesen der Archäologen – wurden hier keine monumentalen Paläste, Tempel oder Pyramiden errichtet, die Zwangsarbeit in großem Stil erforderlich gemacht hätten. Die europäische Despotie war moderater als jene des Orients.
Trotzdem klaffte die soziale Schere weit auseinander – und mit der Zeit immer mehr. In Ägypten mochte das über Jahrtausende funktionieren. Dort konnten sich gottgleiche Pharaonen auf eine breite Elite, eine effektive Verwaltung mit Heerscharen an Priestern und Soldaten und auf die Schrift stützen. Vor allem aber gewährte die Wüste Schutz nach innen wie nach außen. An Flucht war nicht zu denken. »Caging« nannte das ja der Soziologe Michael Mann in Anlehnung an die Theorien des Ethnologen Robert L. Carneiro, der darauf hingewiesen hatte, dass sich die frühen Staaten mit ihren steilen Hierarchien nur dort bilden konnten, wo natürliche Grenzen die Abwanderung unwilliger Bevölkerungsteile verhinderten.
In Mitteleuropa mit seinen offenen Grenzen mangelte es an solch einem natürlichen Käfig. Schon ein schwacher Herrscher brachte alles ins Wanken. Gegner gab es durchaus, das beweist der Mord am Helmsdorfer Fürsten. Und mit der wachsenden Hybris der Machthaber, die taten, als seien sie geradewegs vom Himmel gestiegen, wurde der Kreis größer und größer. Die Gräber zeigen ja, dass der goldene Lockenringe tragende Adel entmachtet worden war. Je gewaltiger also die sozialen Unterschiede wurden, umso mehr geriet das System in Gefahr, zu kollabieren. Angesichts ringsum offener Grenzen fehlte die Möglichkeit, auf Widerstände mit noch mehr Unterdrückung zu reagieren. Formulieren wir es paradox: Das Herrschaftsmodell der orientalischen Despotie geriet im Herzen Europas angesichts der offenen Grenzen an seine Grenzen.
Hier lässt sich ein beachtenswerter Bogen über die Jahrtausende schlagen. Wir bezweifeln, dass die kommunistischen Machthaber des 20. Jahrhunderts Lehren aus der europäischen Vorgeschichte gezogen haben. Das Prinzip des »Cagings« aber hatten sie verstanden. Als sie im Osten Deutschlands eine Despotie errichteten, die auch das ehemalige Reich von Nebra umfasste, sorgten sie für eine unüberwindbare Grenze in Gestalt der deutsch-deutschen Mauer. Als dieser Käfig, der »Eiserne Vorhang«, Löcher bekam, weil Ungarn seine Grenzzäune abbaute, kollabierte die Despotie namens DDR.
Vor 3600 Jahren kam zum Druck von innen der Druck von außen: Der Handel im mitteldeutschen Aunjetitz folgte dem Prinzip des Monopolisierens. Kartiert man alle Bernsteinfunde in Europa in der frühen Bronzezeit, zeigt sich ein auffälliges Phänomen. Der aus dem Baltikum stammende Bernstein gelangt nur an die befreundeten Nachbarn und wird in bescheidenen Mengen an jene Kulturen weitergegeben, mit denen man Handel treibt: jene in Süddeutschland, der Schweiz oder im Südwesten Englands. In den Süden, also Richtung Mittelmeerraum, wird kein Bernstein gehandelt – abgesehen von den vereinzelten diplomatischen Geschenken beim direkten Elitenkontakt –, obwohl dort dieses Gold des Nordens hoch begehrt ist. Das umgekehrte Phänomen zeigt sich, begutachtet man die Kupferströme. Aunjetitz blockiert den Kupferhandel mit dem Norden. In Skandinavien, wo es kein Kupfererz gibt, dauert die Steinzeit fort, begehrte Bronzedolche imitiert man in Feuerstein.
In beiden Fällen also fungiert das Reich von Aunjetitz als ein Handelsriegel mitten in Europa. Das Horten von Macht, Wissen und Reichtum, das am Anbeginn des Staates stand, gilt für alle Ressourcen. Das ist das Erfolgsgeheimnis, auf lange Sicht aber führt es in den Untergang. Der Hang zum Monopolisieren verhindert, die geopolitischen Chancen zu realisieren, die sich im Herzen Europas bieten. Hätte man Kupfer in den Norden gehandelt, Bernstein und wohl auch Zinn und Pelze, womöglich sogar Frauen und Sklaven in den Süden, hätte man sich dank der idealen Lage als tatsächliche Drehscheibe des internationalen Warenaustauschs etablieren können. Dann wäre man hier vielleicht in ganz neue Dimensionen des Reichtums vorgedrungen – und das Reich hätte mehr als nur 400 Jahre bestanden. Womöglich aber wären die sozialen Differenzen auch viel schneller noch viel größer geworden und hätten früher zum Kollaps geführt. Wir sollten die 400 Jahre, in denen sich die Macht behaupten konnte, keinesfalls geringschätzen.
Die Aunjetitzer Handelsbarriere war jenen Nachbarn ein Dorn im Auge, die von den begehrten Ressourcen ferngehalten wurden. Sie versuchten alles, die Schranke auszuhebeln. Das zeigt sich ironischerweise am Himmelsscheibenensemble. Zum Ende des 17. Jahrhunderts von Christus hin verbreiteten sich die Schwerter in Europa; sie lösten die traditionellen Dolche ab. Die begehrtesten wurden im Karpatenbecken gefertigt. Jene, die wir aus dem Depot im ungarischen Apa kennen, wurden vielerorts imitiert. Kartiert man die entsprechenden Schwertfunde, zeigt sich, dass es dem Süden mit der Zeit gelingt, das Reich von Aunjetitz zu umgehen. Der neue Weg führt im Osten die Oder entlang. Hat man sich mit Waffengewalt die Passage erkämpft? In der Folge jedenfalls werden die Schwerter auch im Norden gefertigt, wohin nun ebenso das Kupfer strömt. Dabei werden die Klingen selbst in der Form verändert. Von dort stammen die Vorbilder für die beiden Nebra-Schwerter: Ihre Griffe orientieren sich an den Apa-Schwertern des Karpatenbeckens, die sogenannten Sögelklingen stammen aus dem Norden. Die Nebra-Schwerter sind also Produkte und Zeugen der verlorenen Handelsdominanz zugleich.
Tatsächlich kollabiert das Reich von Dieskau irgendwann in den Jahren um 1600 vor Christus. Die Barriere fällt – das dokumentieren die Funde eindeutig –, der Bernstein strömt fortan ungehindert in den Süden bis in den Mittelmeerraum, während umgekehrt das Kupfer in Massen nach Skandinavien gelangt und dort einen Bronzerausch auslöst. Spannend, was daraufhin im mitteldeutschen Aunjetitz geschieht: Dem Kollaps der absoluten Macht folgt die Rückkehr zur alten heroischen Welt. Auf den Staat folgt die Stammesgesellschaft. Wo es keinen König mehr gibt, kehren die vielen Krieger zurück. Wir haben es nun mit Häuptlingstümern zu tun. Bei der Bestattung dürfen die Männer endlich wieder Waffen mit ins Grab nehmen – jetzt sind es Schwerter. Mitteldeutschland wird für Jahrtausende zur Provinz, die Geschichte spielt sich zukünftig anderswo ab.
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Was aber führte in den Untergang? Wir finden keine Hinweise auf kriegerische Auseinandersetzungen oder Seuchen. Kollabierte also das Reich von Aunjetitz einfach so, mit einem Seufzer anstelle eines Knalls? Dazu mag die Deponierung der Himmelsscheibe mit den kostbaren Schwertern nicht recht passen, dann wäre das nur ein nostalgischer Akt der Bestattung von Relikten einer untergegangenen Welt. Und um einen Schatz zu vergraben, hätte man sich einen anderen, nicht so prominenten Ort gewählt. Deshalb glauben wir an den großen Knall, nicht den leisen Seufzer.
Damit schließt sich der Kreis, kommt hier doch die minoische Eruption ins Spiel. In jenen Jahren explodierte der Vulkan von Thera. Bisher haben die Klimahistoriker keine belastbaren Nachweise aufgespürt, dass die Erde damals von einem vulkanischen Winter überzogen wurde – obwohl die Thera-Eruption zu den fünf größten Vulkanausbrüchen der letzten 5000 Jahre gehört! Auch wenn die Auswirkungen auf die Umwelt einige Jahre spürbar blieben, wird die allgemeine Klimaverschlechterung, die sich in Europa bemerkbar machte, bisher mit einer zyklischen Verringerung der Sonnenaktivität in Verbindung gebracht. Insofern ist hinter der Frage, inwieweit der Vulkanausbruch in den entfernteren Regionen Europas erfahrbar war, ob er etwa zu Missernten führte, ein großes Fragezeichen zu machen. Zumindest anzunehmen ist, dass die in die Atmosphäre geratenen Staub- und Aerosolemengen für besonders dramatische Auf- und Untergänge der Sonne sorgten, was in den sonnenfixierten Kulturen der Bronzezeit Aufregung verursachte.
Spektakulär sind die Ergebnisse, die auf dem 4. Mitteldeutschen Archäologentag in Halle 2011 zusammengetragen wurden. Die Konferenz widmete sich der Frage, ob die Thera-Katastrophe zu einem kulturellen Umbruch in Europa geführt hatte. Das Ergebnis war ebenso uneinheitlich wie aufschlussreich. Es zeigten sich europaweit völlig unterschiedliche Entwicklungen. In manchen Regionen kam es zum Zerfall und Untergang der Kulturen, andernorts blühten welche auf. Oft aber waren gar keine sozioökonomischen Veränderungen zu registrieren. Wer annimmt, dass sich die verschiedenen Reaktionsmuster entsprechend der Entfernung zum Katastrophenort verteilen, sieht sich getäuscht. Geografisch ist keine Auffälligkeit zu konstatieren.
Wohl aber politisch – und was für eine! Es waren »gerade jene Gesellschaften, die das 16. Jahrhundert vor Christus nicht überstanden haben, in denen die archäologischen Nachweise für die Konzentration von Mehrwert, für territorial organisierte Machtstrukturen und eine entwickelte Arbeits- und Gesellschaftsteilung am deutlichsten sind« – so das wichtige Fazit der Tagung. Um es einfacher zu sagen: Der Vulkanausbruch führte all jene Gesellschaften in Europa in den Untergang, die wie Aunjetitz als heiße Kandidaten für frühe Staatsformen gelten: El Argar an der Mittelmeerküste Spaniens, die Wessex-Kultur in Südwestengland oder die Tell-Kulturen des Karpatenraums.
So bemerkenswert diese Erkenntnis ist, so wenig überrascht sie: Allein schon angesichts des Faktums, dass sich traditionelle Gesellschaften über alle Zeiten hinweg durch eine viel größere Robustheit in Sachen Katastrophen auszeichnen. Entscheidend ist: Anthropologen haben gezeigt, dass es sich um ein universelles Muster handelt, hinter Katastrophen übermenschliche Mächte als Verursacher zu vermuten. Die Mythen sind voll vom Zorn oder Neid der Götter und den Strafen, die sie für Verfehlungen der Menschen schicken. Das gilt bis heute: Aids, der Hurrikan Katrina, der Tsunami des Jahres 2004 – nicht wenige Stimmen behaupten, Gott strafe mit solchen Desastern Sünder auf Erden.
Das ist eine Achillesverse kosmologischer Ordnungen: Das Schicksal der Potentaten, die ihren Herrschaftsanspruch auf eine privilegierte Beziehung zu den Mächten des Himmels gründeten, hing auf Gedeih und Verderb mit dem kosmischen Geschehen zusammen. Schon eine unvorhergesehene Mondfinsternis konnte Herrscher in Erklärungsnöte stürzen. Wer sich als Repräsentant göttlicher Mächte inszenierte, sollte gefälligst auch in deren Absichten eingeweiht sein. Kein Wunder, dass die mesopotamischen Könige Legionen von Experten beschäftigten, die Himmel und Erde nach Anzeichen künftigen Unheils absuchten.
Eine Katastrophe von den Ausmaßen des Thera-Ausbruchs erschütterte die Herrschaft bis in die Fundamente hinein. Die Bevölkerung, vor allem aber die entmachteten Eliten verlangten nach Erklärungen: Straften die Götter den Herrscher für seinen überzogenen Luxus? Hatte dieser es in seiner Machtversessenheit versäumt, ihnen seine Reverenz zu erweisen? Rächten sie sich nun? Wir sagten es bereits: In Unkenntnis der naturgesetzlichen Zusammenhänge brauchte es alternative Erklärungen – und die waren stets sozialer Natur, nie geophysikalischer.
Das extraordinäre Ereignis der Vulkankatastrophe stellte also die Legitimation der Herrscher radikal infrage. Die Götter standen nicht mehr auf der Seite der Mächtigen, das machte das Unglück für alle offenkundig. Nirgends wird das deutlicher greifbar als auf Kreta, wo die minoische Palastkultur als erste sogenannte Hochkultur Europas entstanden war. Aufgrund ihrer Nähe zu Thera traf die Katastrophe die Insel besonders heftig: An der Nordküste vernichteten die Tsunamiwellen Dörfer, Häfen und Schiffe. Lange glaubte man, der Untergang der minoischen Kultur selbst sei eine direkte Konsequenz des Vulkanausbruchs gewesen. Das ist nicht der Fall. Was die Archäologen aber fanden, waren Zerstörungen, die sich über einen Zeitraum von zwei Generationen hinzogen. »Eine Reihe von Indizien spricht dafür, dass die Ursache in innerkretischen Auseinandersetzungen zu suchen ist«, berichtete auf der Thera-Tagung der Archäologe Wolf-Dietrich Niemeier. »Zumindest an einigen Orten wurden nur die Sitze der Elite niedergebrannt, nicht aber die Häuser der Siedlung.« Insbesondere Insignien der Herrschaft seien zertrümmert worden. Der Autoritätsverlust der Mächtigen habe zu Anarchie und Revolte geführt.
Spuren von Aufständen sind bisher an anderen Orten in Europa nicht nachgewiesen worden. Trotzdem ist davon auszugehen, dass der Thera-Ausbruch auch mentale Schockwellen aussandte, die wie ein unsichtbarer Tsunami über Europa brandeten und allerorten die Autorität der Herrscher so sehr ramponierten, dass sie von ihren hohen Thronen stürzten. Dieser unsichtbare Tsunami war es auch, der uns die Himmelsscheibe von Nebra als Flaschenpost in die Hände spülte.
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Nach all dem, was wir über die göttliche Grundlage des Reichs von Aunjetitz sagten, sollte verständlich geworden sein, warum allein die Erfahrung dramatischer Himmelsereignisse und die aus dem Süden kommenden Gerüchte die Herrscher in Erklärungsnöte brachten. Der Ausbruch des Vulkans von Thera war sicher nicht die alleinige Ursache für den Untergang des 400-jährigen Reichs von Nebra, wohl aber stellte er den »Tipping Point« dar: Er war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Auch auf Kreta fanden sich Bronzehorte. Wolf-Dietrich Niemeier deutet sie als Symptome einer »Atmosphäre der Unsicherheit« nach der Thera-Eruption, möglicherweise seien die Bronzen verborgen worden, »um ihren Wert für die Zukunft zu sichern«. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Für den Himmelsscheibenhort trifft das aber nicht zu. Dagegen spricht schon die Komposition des gesamten Ensembles. Hier ging es nicht darum, Kostbarkeiten zu verstecken, dazu folgt die Zusammensetzung zu sehr jener der Fürstengräber. Außerdem wurde der Deponierungsort mit Bedacht gewählt. Der Mittelberg könnte nicht besser zur Himmelsscheibe passen.
Wir haben es also mit einer Deponierung zu tun, mit einem Opfer an die Götter. Die Ökonomie mit den schicksalsbestimmenden Mächten folgt den gleichen Gesetzen wie die menschliche. Wer viel investiert, erwartet einen entsprechenden »Return of Investment«: Je größer das Opfer, umso größer die erhoffte Gegenleistung. Umso größer aber auch die Notlage, in der die überirdischen Gewalten um ihren Beistand angefleht werden. Die Himmelsscheibe zu opfern, dieses jahrhundertealte Herzstück der Herrschaft von Aunjetitz – das ist ein Einsatz, der kaum zu übertreffen ist.
Aber das ist nicht alles: Um die größtmögliche Wirkung des Opfers sicherzustellen, wählte man den idealen Ort. Es brauchte die perfekte Schnittstelle zwischen Welt und Kosmos. Der Mittelberg war ein von alters her charismatischer Ort – auf der Spitze hatten schon die Schnurkeramiker Grabhügel um Grabhügel angelegt. So, wie Stonehenge durch den geologischen Zufall der auf die Sonnenwenden hin verlaufenden Schmelzwasserrinnen als von den übernatürlichen Mächten geadelter Ort galt, war es der Mittelberg wegen des Sonnenbezugs zum Brocken und dem Kyffhäuser. Wie gut Berg und Scheibe harmonierten, haben wir zur Genüge betont.
Aus demselben Grund gehen wir davon aus, dass die Himmelsscheibe nicht an irgendeinem Tag vergraben worden ist. Sondern entweder in den Abendstunden des 1. Mai oder – unser Favorit – am Abend der Sommersonnenwende. Im ersten Fall ging die Sonne vom Mittelberg aus gesehen hinter dem Kyffhäuser unter, im zweiten hinter dem Brocken. Perfekte Augenblicke, in denen Himmel und Erde, Raum und Zeit synchron waren. Nie würde ein Opfer größere Wirkung erzielen.
Nun haben die kostbaren Beigaben ihren großen Auftritt, allen voran die goldverzierten Schwerter. Deren gänzlich unbenutzter Zustand lässt uns annehmen, dass sie gezielt als Beigaben für die Opferung der Himmelsscheibe angefertigt worden sind. Man wird für solch einen Anlass nicht irgendwelche Schwerter genommen haben. Um die Götter zu besänftigen, durfte kein Aufwand gescheut werden.
Wenn wir die bisherigen Überlegungen zur Mythologie der Sonnenreise ernst nehmen, eröffnet sich hier eine wunderbare Deutungsoption: Dann wird nämlich im Opfer auf dem Mittelberg der Mythos von der Reise der Sonne durch die Unterwelt nachvollzogen, wie ihn die Sonnenbarke auf der Himmelsscheibe symbolisiert. Indem die Himmelsscheibe, deren sonnenhafter Charakter außer Frage steht, der Erde übergeben wird, tritt sie ihre Nachtreise an, an deren Ende sie der Wiedergeburt in neuem Glanz entgegengeht. Und hier kommen die Schwerter ins Spiel. Denn nach dem alten ägyptischen Mythos wird die Sonne auf ihrer Reise durch die Unterwelt von der Apophis-Schlange angegriffen und muss verteidigt werden, um wieder aufgehen zu können. Dazu bedurfte es jetzt der Schwerter.
Zu weit hergeholt? Keinesfalls. Denn was finden wir auf einer der Schwertklingen? Eine dreiköpfige Schlange! Lange ist sie kaum beachtet worden. Dann sah man in ihr vor allem ein Apotropaion, ein magisches Symbol, das gegen böse Kräfte und Feinde wirkte. So, wie später die griechischen Schilde an der Feindseite mit Vorliebe Gorgonenhäupter trugen, die jeden Gegner in Stein verwandeln sollten.
Nun sind aber auf dem Nebra-Schwert die drei Häupter der Schlange gar nicht gegen den Feind gerichtet. Sie erheben sich gegen den Griff und damit gegen die Hand des Schwertträgers selbst. Damit werden das Schwert und sein Besitzer zum Schlangen-, zum Drachentöter. Die gleiche Idee finden wir bei Homer in der Ilias. Auch auf dem Brustharnisch des griechischen Königs Agamemnon recken sich – je nach Übersetzung – drei Schlangen oder drei Drachen Agamemnons Hals entgegen. Aber das ist noch nicht alles, für einen König ist das nicht genug: »Silbern war des Schildes Gehenk; und grässlich auf diesem / Schlängelt ein bläulicher Drache dahin; drei Häupter des Scheusals / Waren umhergekrümmt, aus einem Halse sich windend.« Was für ein Held, der solcher Schlangenbrut trotzt!
Im Fall des Nebra-Depots würde das bedeuten: Die beiden Schwerter begleiten die Himmelsscheibe auf deren Reise in die Unterwelt, um ihr im Kampf gegen die Schlange beizustehen. Sie sollen die dunklen Mächte des Chaos und des Untergangs besiegen. Dank eines solchen Schutzes besteht Hoffnung, dass die Himmelsscheibe strahlend wiedergeboren und die Herrschaft gerettet wird. Im Himmelsscheibendepot gewinnt also ein ganzer Mythos Gestalt und wird in dem Moment, in dem diese Objekte vergraben werden und tatsächlich in die Unterwelt gelangen, Wirklichkeit. Der letzte König von Aunjetitz legt mit der Himmelsscheibe sein Schicksal in die Hände der Götter, um diese durch das große Opfer zu versöhnen und alle dunklen Kräfte abzuwehren, die das Reich von Nebra bedrohen.
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Das also wäre unser Finale: Ein außergewöhnliches Opfer, vollzogen vom letzten Herrscher des Reichs von Nebra auf einem heiligen Berg, just als am Abend der Sommersonnenwende Himmel und Erde in einem Punkt verschmelzen. Damals traten Sonne und Himmelsscheibe im selben Augenblick ihre Reise in die Unterwelt an – die Sonnenscheibe scheinbar auf dem Brocken, die Himmelsscheibe auf dem Mittelberg. Tatsächlich werden die Raubgräber die Scheibe 3600 Jahre später aufrecht stehend in der Erde finden, ganz so, als wäre sie einst wie die Sonne im Boden versunken.
Das ist die Schlussszene unseres Versuchs, das Schicksal der Himmelsscheibe und des Reichs von Nebra nachzuerzählen, bei dem wir noch nicht einmal sicher sind, ob nun ein Roman oder eine Tragödie die geeignete Darstellungsform ist. Immerhin haben wir, dank feinsten Vulkanstaubs in der Luft, einen blutroten Sonnenuntergang als großes Finale zu bieten, wie es dramatischer kaum sein kann. Ein Happy End gibt es trotzdem nicht. Denn zumindest das wissen wir: Die Götter verschmähten das ungeheure Opfer der Himmelsscheibe. Am nächsten Tag ging allein die Sonne wieder auf. Das Reich von Nebra verschwand. Zum großen Leidwesen des letzten Königs von Aunjetitz, zum großen Glück der Archäologie.