Sternstunde
Es geschah am helllichten Tag und nicht, wie immer kolportiert, bei Nacht und Nebel. An einem heißen Julimittag stießen zwei Sondengänger auf dem Mittelberg bei Nebra auf einen Schatz aus Bronze und Gold. Schwerter, Beile, Armringe waren darunter und auch eine sonderbare Scheibe, die sie zunächst für einen Eimerdeckel hielten. Schon am nächsten Tag verkauften die Raubgräber ihre Beute an einen Hehler. Es sollten fast drei Jahre vergehen, bis der Jahrhundertfund bei einer abenteuerlichen Polizeiaktion in der Schweiz sichergestellt werden konnte. Einer von uns beiden war hautnah dabei.
Seither funkelt die Himmelsscheibe von Nebra im dunklen Allerheiligsten des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle an der Saale und verzaubert die Besucher. Über 3600 Jahre alt, präsentiert sie den Nachthimmel in einem Bild von archetypischer Schönheit, das an eine menschliche Urerfahrung zu rühren scheint. Wer kennt nicht das sanfte Taumeln, das uns beim nächtlichen Blick in den unendlichen Sternenhimmel über unseren Köpfen erfasst? Die Himmelsscheibe vereint die Geheimnisse der Vergangenheit mit denen des Universums. Eine mehr als inspirierende Mischung.
Erstmals werden in diesem Buch die Geschichten ihrer Rettung und die ihrer Erforschung aus erster Hand erzählt. Vor allem unternehmen wir das Abenteuer, ein Panorama jener untergegangenen Kultur im Herzen Europas zu entwerfen, aus der sie stammt. Dabei geht es um bedeutend mehr als nur um unsere Vergangenheit, ist doch auch die Himmelsscheibe mehr als nur ein fantastisches archäologisches Objekt. Sie werden staunen, was sie alles ist:
Sie ist ein Rätsel
Wer die Himmelsscheibe betrachtet, kommt unweigerlich ins Grübeln. Sonne, Mond und Sterne glaubt jedes Kind auf ihr zu erkennen. Doch leuchten die nie gemeinsam am Firmament. Stellt der große goldene Kreis also nicht die Sonne, sondern den Vollmond dar? Wozu dann die Mondsichel? Und was fährt da für ein Schiff am Scheibenrand? Und diese Bögen und die sieben Sterne da?
Woche für Woche gehen im Museum Vorschläge ein, was hinter dem Geheimnis der gut zwei Kilogramm schweren Himmelsscheibe stecken könnte. Nicht, weil das Museum einen Wettbewerb ausgeschrieben oder um Mithilfe gebeten hätte. Die Zuschriften kommen unaufgefordert. Von aufwendigen astronomischen Berechnungen über mondgestützte Menstruationskalender bis hin zur Warnung vor dem nahen Weltuntergang ist alles dabei. Selbst komplexe Apparaturen werden konstruiert, als deren Herzstück die Himmelsscheibe die wunderbarsten Dinge vollbringen soll. Sie ist wie die Sphinx: Sie lässt dem Betrachter keine Ruhe, bis er eine Lösung für ihr Rätsel weiß.
Sie ist eine Provokation
Auch die Wissenschaft zwingt sie zu Antworten. Um das Jahr 1600 vor Christus im Boden vergraben, handelt es sich bei der Scheibe aus Bronze und Gold um die älteste bisher gefundene konkrete Darstellung des Himmels. Das heißt: Sie stellt die Gestirne nicht als Götter, Jungfrauen oder mythisches Getier dar, wie das sonst in den Kulturen des Altertums der Fall war. Sie zeigt uns die Himmelskörper so naturalistisch, wie diese sich dem menschlichen Auge am Himmel präsentieren: als leuchtende Objekte unterschiedlicher Größe und Form. Woher rührt der frühe Rationalismus? Was für uraltes Wissen verbirgt sie vor uns?
Wäre die älteste Himmelsdarstellung der Weltgeschichte in Ägypten, Mesopotamien oder im alten Griechenland entdeckt worden, würde das niemanden sonderlich erstaunen. Die Experten hätten anerkennend mit der Zunge geschnalzt, doch das wäre es schon gewesen. Aber dass sie aus einer Zeit stammt, über die unsere Schulbücher kein Wort verlieren, einer Zeit lange vor den Kelten und Germanen – das macht sie zum Rätsel, mehr noch, zur Provokation. Damit stellt sie die bisherigen Kenntnisse über unsere eigene Vergangenheit infrage.
Sie ist eine Sternstunde der Menschheit
Ist das nicht kurios? Da liefert uns die Himmelsscheibe von Nebra den Beleg für eine Sternstunde der Menschheit – und wir haben so gut wie keine Ahnung von der Kultur, der wir sie zu verdanken haben. Dass es sich um einen Geniestreich handelt, ist mittlerweile offiziell anerkannt. Die Weltkulturbehörde UNESCO hat die Himmelsscheibe ins »Weltdokumentenerbe« aufgenommen. Zugegeben, das klingt, als habe man ihr einen Ehrenplatz in der Ruhmeshalle der Bürokratie eingeräumt. Die englische Bezeichnung »Memory of the World« trifft es besser: Die UNESCO weist der Himmelsscheibe einen Platz im Gedächtnis der Welt zu – neben der Magna Charta, der Gutenberg-Bibel, der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Ludwig van Beethovens Neunter Sinfonie.
Und das zu Recht. War es nicht der griechische Philosoph Aristoteles, der das Staunen, das die Menschen beim Blick in den Nachthimmel erfasste, zum »Anfang des Philosophierens« erklärte? Seither interessierten sich unsere Vorfahren nicht mehr nur fürs blanke Überleben; sie überschritten die Bedingungen ihrer Existenz und versuchten, die Gesetze der Welt und des Kosmos zu verstehen. Noch heute lässt uns nichts deutlicher die eigene Unwissenheit spüren als die Unendlichkeit des Weltalls; noch heute fasziniert uns nichts mehr als das Universum. Es ist das größte Mysterium aller Zeiten.
Die Himmelsscheibe dokumentiert den ältesten bisher bekannten systematischen Versuch, dieses Mysterium zu ergründen – das sichert ihr den Ehrenplatz im kulturellen Gedächtnis der Menschheit. Dass wir es mit einem menschlichen Urtrieb, etwas wie einer anthropologischen Konstante zu tun haben könnten, darauf deutet ihre überraschende Ähnlichkeit mit einem außergewöhnlichen Objekt unserer eigenen Zeit. Einem Gegenstand, der den vorläufigen Endpunkt jener Entwicklung markiert, die mit der Himmelsscheibe ihren Anfang nahm.
Die Rede ist von der »Voyager Golden Record«, die von der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA an den 1977 gestarteten Voyager-Raumsonden montiert wurde. Sie soll außerirdischen Wesen Auskunft über das Leben auf der Erde geben. Dazu enthält die Golden Record Grußbotschaften in 55 Sprachen, Fotos, aber auch mathematische und physikalische Definitionen. Der damalige US-Präsident Jimmy Carter gab ihr eine Botschaft mit: »Dies ist ein Geschenk einer kleinen, weit entfernten Welt, eine Probe unserer Klänge, unserer Wissenschaft, unserer Bilder, unserer Musik, unserer Gedanken und unserer Gefühle. Wir versuchen, unser Zeitalter zu überleben, um so bis in eure Zeit hinein leben zu dürfen.« Mittlerweile hat die Golden Record als erstes menschengemachtes Objekt unser Sonnensystem verlassen.
Obwohl über 3600 Jahre zwischen den beiden Objekten liegen, verbindet sie vieles. Erstens ist da die verblüffende Ähnlichkeit: Hätte die Himmelsscheibe in den 1970er-Jahren nicht noch mehr als zwei Jahrzehnte unentdeckt im Boden gelegen, wären wir sicher, sie diente dem vom berühmten Astronomen Carl Sagan geleiteten Forscherteam als Inspiration. Ob Himmelsscheibe oder Golden Record, in beiden Fällen handelt es sich um kreisrunde Scheiben von der ungefähren Größe einer Langspielplatte. Beide bestehen in der Hauptsache aus Kupfer; bei der einen ist es mit Zinn zu Bronze veredelt, bei der anderen ist es vergoldet. Und bei beiden dient Gold dazu, die Botschaften zu übermitteln.
Zweitens sind beides Botschaften an nicht menschliche Intelligenzen. Die Golden Record will Aliens über das Leben auf dem Planeten Erde informieren. Die Himmelsscheibe von Nebra wurde als Gabe an übernatürliche Mächte im Boden versenkt. Warum? Das ist eine der großen Fragen dieses Buchs.
Drittens verdanken sich beide derselben Motivation, dem urmenschlichen Antrieb, nicht vor den Grenzen unserer Welt haltzumachen. »Das Forschen liegt in unserer Natur«, lautet ein berühmtes Zitat Carl Sagans. »Als Wanderer haben wir begonnen, und Wanderer sind wir noch immer. Wir haben lange genug an den Ufern des kosmischen Ozeans verweilt. Es ist an der Zeit, die Segel zu setzen und zu den Sternen aufzubrechen.« Beide Scheiben verdanken sich dieser Sehnsucht. Die Himmelsscheibe dokumentiert das erste Aufflackern des Wunsches, das Rätsel des Universums zu verstehen; mit ihr haben die Menschen den Aussichtsplatz am Rande des kosmischen Ozeans bezogen. Die Golden Record dagegen lässt den Wunsch 3600 Jahre später Wirklichkeit werden; mit der Voyager-Sonde setzte die Menschheit Segel, um die Grenzen des Sonnensystems zu verlassen. Die Himmelsscheibe und die Golden Record sind das Alpha und das Omega menschlicher Himmelsstürmerei.
Sie ist eine Flaschenpost
Carl Sagan nannte die Golden Record eine »in den kosmischen Ozean geworfene Flaschenpost«. Und diese Metapher taugt auch für die Himmelsscheibe von Nebra. Sie ist zwar nicht durch den Ozean des Raums, wohl aber durch den der Jahrtausende gereist. Auch sie birgt die Botschaft einer längst versunkenen Kultur. Deshalb verspüren wir eine gewisse Solidarität mit jenen armen Außerirdischen, die sich eines Tages daranmachen müssen herauszufinden, was für eine seltsame Zeitkapsel ihnen da ein galaktischer Zufall mit der Golden Record in die Hände gespielt hat (wenn sie denn überhaupt Hände haben). Sie werden sich dieselben Fragen stellen, wie wir das bei der Himmelsscheibe taten: Was um Himmels willen ist das? Spielt uns da jemand einen Streich? Und wenn das Ding echt sein sollte: Wer hat es gemacht? Warum? Wozu? Was ist seine Botschaft? Und wie sieht die Welt aus, aus der es kommt?
Auch nach der Himmelsscheibe hat keiner gesucht. Wie es sich für eine Flaschenpost gehört, ist einer von uns beiden – Harald Meller – eher zufällig auf sie gestoßen. Nicht bei einem Strandspaziergang, aber doch völlig unvorbereitet auf einem Biedermeiersofa sitzend im Berliner Schloss Charlottenburg – und das auch nur in Gestalt schlechter Fotos. Gemeinsam mit Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei heftete er sich an die Fersen der Raubgräber und Hehler, immer fürchtend, nur einem Phantom nachzujagen. Schließlich stellte sich Meller der Schweizer Polizei als Lockvogel zur Verfügung, um die Scheibe in einer – zumindest für ihn – durchaus dramatischen Polizeiaktion sicherzustellen. Als Archäologe ist man ja in solchen Belangen eher selten undercover im Einsatz.
Die Himmelsscheibe war ebenso unerwartet wie unvorstellbar: Niemand hätte für möglich gehalten, dass etwas Derartiges vor Jahrtausenden in Mitteleuropa existierte. Die Scheibe war ein einziges Fragezeichen. Die Welt, aus der sie stammte, musste erst einmal gefunden werden. Deshalb stieß sie am Anfang auf Widerstände. Zweifel regten sich: War das Ding wirklich echt? Kam es tatsächlich aus Sachsen-Anhalt? Stimmte das Alter von über 3600 Jahren? Der zweite Autor dieses Buchs – Kai Michel – recherchierte damals bereits an einer Geschichte für die Wochenzeitung Die Zeit, in der er den Vorwürfen nachging, die Scheibe sei eine Fälschung. Als er zum Ergebnis kam, dass die Vorwürfe haltlos waren, wanderte der Artikel von der Titelseite nach hinten in den Wissenschaftsteil. Seither begleitet Michel die Forschungen rund um die Himmelsscheibe als Wissenschaftsjournalist und Historiker und war bei der Suche nach dem Gold der Himmelsscheibe genauso dabei wie bei der Entdeckung des wohl ersten belegbaren Fürstenmords der Weltgeschichte.
Natürlich haben wir es einfacher als die hypothetischen außerirdischen Scheibendeuter, wenn wir versuchen, unsere Flaschenpost zu entschlüsseln. Immerhin gehören wir derselben Spezies an wie die Schöpfer der Himmelsscheibe. Und die mitteleuropäische Bronzezeit ist keine absolute Unbekannte. Archäologen haben da große Arbeit geleistet, auch wenn davon bisher viel zu wenig ins Bewusstsein der Allgemeinheit gedrungen ist. Trotzdem mochten diese Erkenntnisse nicht recht zu unserem Fund passen; der schien Botschaften aus einer viel komplexeren Kultur zu übermitteln, als man sie bisher für die frühe europäische Bronzezeit für möglich hielt. Also machten wir uns ans Werk. Die Verlockung war riesig, die Ersten zu sein, die diese fast vier Jahrtausende alte Flaschenpost lasen.
Sie ist der Schlüssel zu einer unbekannten Kultur
Deshalb rückten Archäologen, Astronomen und Archäometallurgen, Physiker, Chemiker und Geologen der Himmelsscheibe und ihren Beifunden mit aller Raffinesse zu Leibe. Es wurde alles darangesetzt, dem Fundensemble noch das letzte Geheimnis zu entlocken. Die Himmelsscheibe gehört seitdem zu jenen archäologischen Objekten weltweit, welche die größte Forschungsleistung pro Quadratzentimeter Fläche auf sich vereinen.
Wir wissen mittlerweile bis ins Detail, wie sie hergestellt wurde, welcher Stern als Erstes befestigt wurde, wie viele verschiedene Bronzezeitkünstler an ihr arbeiteten, wie lange sie im Gebrauch war, woher das Kupfer und das Gold stammen und dass sie außerordentliches astronomisches Wissen auf elegante Weise codiert. Die Himmelsscheibe, so viel sei verraten, ist das Produkt einer globalisierten Welt, deren Verbindungen von Stonehenge bis in den Orient reichten.
Kann das denn sein? Um das herauszufinden, startete eine Forschungsoffensive. Archäologen spürten beeindruckende Heiligtümer und den größten Grabhügel Mitteleuropas auf, Anthropologen rekonstruierten aus Skeletten den Gesundheitszustand der Bevölkerung, genetische Analysen enthüllten die Herkunft frühbronzezeitlicher Menschen. Die Himmelsscheibe erwies sich als passender Schlüssel, um das Tor zu einer bisher unbekannten Welt aufzuschließen. Es war, als leuchteten wir mit einer Taschenlampe in die Dunkelheit. Erst erspähten wir nur Schemen, die, als sich die Augen ans Zwielicht gewöhnt hatten, immer deutlicher Gestalt gewannen.
Was wir dort erblickten, werden wir in diesem Buch erstmals zum Panorama einer untergegangenen Kultur zusammenfügen, einem vergessenen Reich mit Fürsten, ja sogar Königen, dem ersten goldenen Zeitalter Europas.
Sie ist der Anfang unserer Welt
Nicht zuletzt ist die Himmelsscheibe auch ein Schlüssel zu unserer eigenen Geschichte. Wir betreiben hier die Archäologie der modernen Gesellschaft. Es ist faszinierend zu beobachten, wie exklusives Wissen eine Gesellschaft entstehen ließ, der wir den Rang des ersten Staates in Mitteleuropa zubilligen werden. Diese Wissensgesellschaft erfand nicht nur die serielle Produktion; sie führte dazu, dass Macht und Reichtum in bisher unbekannten Dimensionen entstanden. Die Folge war ein Auseinanderklaffen von oben und unten, arm und reich – mit auf Dauer fatalen Folgen. Zugleich revolutionierte sie die Glaubenswelt: Ausgegrabene Heiligtümer belegen die Entstehung eines Religionstypus, der fortan die Zeiten dominierte. Und die neuesten Analysen zeigen, dass sich damals sowohl das genetische wie das sprachliche Profil unseres Kontinents formten. Wir alle sind Erben der Welt der Himmelsscheibe.
Wir haben es mit Entwicklungen zu tun, die letzten Endes anders verliefen, als wir das aus den frühen Hochkulturen des Orients kennen. Entwicklungen, welche die Frage aufwerfen, was wir heute als »Wiege der Zivilisation« verstehen sollten. Kein Zweifel, wir haben in der europäischen Bronzezeit nicht die prachtvollen Ruinen und Relikte wie in Ägypten oder Mesopotamien. Eine Nofretete werden wir hier wohl keine finden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Experiment Staat auf europäischem Boden scheiterte und man für lange Zeit andere Wege einschlug. Aber nicht, weil man, wie allgemein angenommen wird, noch so »primitiv« und »barbarisch« war – die Himmelsscheibe ist der beste Beweis dagegen. Nein, hier waren die Bedingungen andere; hier scheiterte der Versuch, dauerhaft eine Gesellschaft mit gottgleichen Herrschern wie im Orient zu etablieren. Das gesellschaftliche Experiment maßloser sozialer Ungleichheit führte nach einer kurzen, prächtigen Blüte zum Kollaps – und disqualifizierte die Despotie in Europa für sehr lange Zeit.
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Rätsel, Provokation, Sternstunde, Flaschenpost, Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur, Anfang unserer Welt: Das sind mehr als Gründe genug, nicht nur der Himmelsscheibe einen Platz im Gedächtnis der Welt einzuräumen, sondern auch jener Kultur, der wir sie verdanken: dem bisher nur Experten bekannten Aunjetitz.
Was wissen wir nicht alles über Ägypten, die Reiche an Euphrat und Tigris, über Inkas, Mayas und Azteken – eine der verblüffendsten Kulturen unserer eigenen Vergangenheit dagegen ist uns gänzlich unbekannt! Und das, obwohl der Archäologie in der Öffentlichkeit ein größeres Interesse denn je entgegenschlägt. Das zeigt allein der Blick ins tägliche TV-Programm. Erstaunlicherweise aber erfahren wir dort kaum etwas über die tiefe Vergangenheit unseres eigenen Kontinents. Allenfalls von Kelten und Germanen wird berichtet, über Stonehenge natürlich und Ötzi. Aber wer weiß denn schon, wie die Welt nördlich der Alpen vor gut 4000 Jahren aussah?
Auch die Schulbücher kümmern sich vor allem um die Hochkulturen des Vorderen Orients und im Mittelmeerraum. Die Botschaft scheint klar: Hier im Herzen Europas wird es kaum mehr gegeben haben als primitive Stämme, die, wenn sie sich nicht gerade die Köpfe einschlugen, mühselig ihre Äcker bestellten und das Vieh hüteten. Nicht der Rede wert.
Man muss das verstehen: Die Vorgeschichte Europas führte die längste Zeit ein Aschenputteldasein. Die Forschung hatte mit dem Manko zu kämpfen, ohne schriftliche Quellen auskommen zu müssen. Wo man aber allein auf Knochen, Keramikscherben oder Pfostenlöcher von Häusern angewiesen war, fiel es schwer, packende Geschichten zu erzählen. Auch resultierte das Desinteresse an der eigenen Vergangenheit aus der aus dem 19. Jahrhundert ererbten Geringschätzung schriftloser Kulturen: Geschichtswürdig sei die Zeit vor den Römern ja nicht, hieß es, denn Geschichte sei nur etwas, was allein jenen »Zivilisationen« zugestanden werden dürfe, welche die hohe Kunst des Schreibens entwickelt hatten. Alles andere sei lediglich Vorgeschichte, auf die erst die wahren Meisterleistungen der Menschheit folgten.
Der Umstand, dass die Karte des prähistorischen Europa die längste Zeit aus vielen weißen Flecken bestand, wurde ausgenutzt. Nichts setzte der Fantasie Grenzen. Deshalb waberten in einschlägigen Darstellungen auffallend oft die Nebel, führten Druiden bei Fackelschein Prozessionen an und glitzerte im Mondlicht das Gold auf den Haaren der Jungfrauen, die der Großen Göttin zu Diensten waren. Auch der Missbrauch der Vorgeschichte für die »Blut und Boden«-Ideologie der Nazis gehört in diesen Kontext. Fehlende Fakten sind die beste Basis für krude Theorien.
Aus all diesen Gründen kümmerte man sich wenig um die europäische Vorgeschichte, mitunter verschwieg man sie gleich ganz. Prominentes Beispiel ist eines der erfolgreichsten Archäologiebücher aller Zeiten, C. W. Cerams bis heute immer wieder aufgelegtes Götter, Gräber und Gelehrte. Es behandelt die Pyramiden, die Tempeltürme Babylons und assyrische Paläste im Wüstensand. Die Vorgeschichte Europas aber ist, abgesehen vom alten Griechenland, kein Thema in diesem tatsachenbasierten »Roman der Archäologie«. Selbst Stonehenge gönnt Ceram nur einen halben Satz, und das allein, weil ein Ägyptenforscher sich dort die Sporen als Ausgräber verdient hat.
Das alles hat sich in den letzten Jahren radikal geändert. Der Einsatz naturwissenschaftlicher Methoden revolutionierte die Archäologie. Selbst unscheinbarste Dinge können heute zum Sprechen gebracht werden: Pollen verraten das Klima, Baumringe das Alter, Zahnschmelz gibt Auskunft über die Herkunft der Menschen, Knochen über ihre Ernährung. Genetiker rekonstruieren Verwandtschaftsverhältnisse und spüren uralte Seuchen auf; Isotopenanalysen und Spurenelementmuster erzählen, woher Metalle stammen; und Anthropologen enthüllen an Skelettmaterial prähistorische Gewaltexzesse. Wir sind gar nicht mehr auf die Schrift angewiesen, um unsere Geschichte zu rekonstruieren.
Gerade die molekulargenetischen Forschungen der letzten Jahre veränderten unsere Sicht auf Europa. Fast im Wochenrhythmus erscheinen Untersuchungen jahrtausendealten Erbguts, der sogenannten alten DNA. Sie zeigen, welche Migrationsbewegungen Europa schufen, wann welche Krankheiten wo zum ersten Mal auftauchten, und sie legen unser eigenes genetisches Erbe frei. Wenn man so will, bringen sie wieder Fleisch an die von den Archäologen ausgegrabenen Knochen.
Zugleich wird immer deutlicher, wie verkehrt es ist, beim Blick auf die Menschheitsgeschichte nur jenen relativ kurzen Zeitabschnitt zu begutachten, der von Schriftquellen beleuchtet wird. Mindestens ebenso wichtig sind die restlichen, mehr als 99 Prozent der Menschheitsgeschichte davor. Denn in dieser Zeit, als die Menschen in egalitären Gruppen als Jäger und Sammler herumzogen, entwickelten sich die Verhaltensmuster, psychologischen Prädispositionen und moralischen Intuitionen, die das menschliche Leben bis heute beeinflussen. Wollen wir uns selbst verstehen, müssen wir wissen, woher wir kommen. Dann verstehen wir auch, warum wir uns in der modernen Welt immer wieder mit denselben Problemen herumschlagen. Das macht die Vorgeschichte zur eigentlichen Menschheitsgeschichte. Sie hat uns stärker geprägt als die Ausnahmeerscheinungen in Ägypten oder an Euphrat und Tigris, mögen diese Reiche noch so spektakuläre Zeugnisse ihrer einstigen Pracht hinterlassen haben.
Autoren wie Jared Diamond oder Yuval Noah Harari feiern dank dieser Perspektive auf die Geschichte des Homo sapiens große Erfolge. Was sie mit Blick auf die globale Geschichte der Menschheit abhandeln, werden wir am Beispiel unserer europäischen Vergangenheit demonstrieren. Wir erzählen die Vorgeschichte, Pardon, die Geschichte unserer eigenen Welt – zumindest soweit sie in die Welt der Himmelsscheibe führt. Auf diese Weise wird zugleich klar, was für eine entscheidende Wegscheide dieses vermutlich zwischen 1800 und 1750 vor Christus geschaffene und um 1600 im Boden deponierte Wunderwerk markiert; und es zeigt auch, welche Probleme mit dem Beginn der Bronzezeit in die Welt traten, die uns bis heute begleiten.
Dass wir das können, hängt damit zusammen, dass die Himmelsscheibe von Nebra auf beeindruckende Weise von den Möglichkeiten profitierte, die sich durch die naturwissenschaftliche Revolution der Archäologie eröffneten. Außerdem war sie selbst ein Anstoß für eine Forschungsoffensive, an deren Ende wir nun das Bild einer bisher grandios unterschätzten Kultur zeichnen können. Davon handelt dieses Buch.
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Einer von uns beiden rettete, wie bereits erwähnt, im Jahr 2002 die Himmelsscheibe für die Öffentlichkeit. Seither obliegt ihm, Harald Meller, als Direktor des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle und Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt die Restaurierung und Präsentation, vor allem aber auch die Koordination der Erforschung des Jahrhundertfunds und der bronzezeitlichen Welt, der wir ihn zu verdanken haben. Ein internationales Netzwerk von Experten unterschiedlichster Wissenschaftsdisziplinen, das allein zwei Forschungsprojekte der Deutschen Forschungsgemeinschaft involvierte, arbeitete daran – und tut es immer noch. Niemand kann also besser über die Himmelsscheibe von Nebra und ihre außergewöhnliche Kultur Auskunft geben als er.
Dank der immensen Erkenntnisgewinne der letzten Jahre sind wir erstmals in der Lage, allen fehlenden schriftlichen Quellen zum Trotz einen neuen faktenbasierten »Roman der Archäologie« zu schreiben, ohne dass wir dabei auf fantastische Ausschmückungen oder dunkles Geraune angewiesen wären. Wir fühlen uns durchaus ein Stück weit Götter, Gräber und Gelehrte verbunden, dessen Erfolg nicht zuletzt in Cerams Überzeugung gründete, dass nichts spannender sei, als die Leser »genau denselben Weg« zu führen, den auch die Wissenschaftler beschritten. Sie werden also bei der Rettung der Scheibe ebenso dabei sein wie bei ihrer Erforschung; sie erleben den Gerichtsprozess mit, in dem es um die Echtheit der Funde ging, gehen auf Goldsuche und nehmen an den Ausgrabungen teil, die das Reich der Himmelsscheibe zutage förderten. Sie werden über dessen Mythen grübeln und zugegen sein, als dramatische Ereignisse, die ganz Europa erschütterten, dazu führten, dass die Himmelsscheibe jene Reise in die Unterwelt antrat, die sie Jahrtausende später in unsere Hände führte.
Keine Frage, der Versuch, das Panorama einer schriftlosen Kultur zu entwerfen, ist ambitioniert. Noch fehlen uns mehr Puzzleteile, als uns lieb ist. Trotzdem lassen sich die bereits entdeckten Stücke zu einem erstaunlich stimmigen Gesamtbild zusammenfügen. Manches ist nur begründete Spekulation, aber das gilt auch für unser Bild von Stonehenge, Ötzi oder Troja. Das Rätseln gehört nun mal zur Archäologie. Wir lassen die Leser jedoch nie im Ungewissen darüber, wo wir spekulieren, und werden alternative Deutungsoptionen aufzeigen. Dafür haben wir Cutting-Edge-Archäologie zu bieten: Vieles erfahren die Leser dieses Buchs als Allererste.
Natürlich wäre es schön, Sagen und Legenden, Epen und Zaubersprüche aus dem Reich der Himmelsscheibe zu besitzen. Was würden wir nicht für einen Homer des Nordens geben, der uns Dinge überlieferte, wie sie in J. R. R. Tolkiens Der Herr der Ringe zu lesen sind: »Auf! Auf! Ihr Reiter Théodens! Zu grimmigen Taten: Feuer und Schlachten! Speer wird zerschellen, Schild zersplittern, Schwert-Tag, Blut-Tag, ehe die Sonne steigt! Nun reitet! Reitet! Reitet nach Gondor!« Aber auch so haben wir einiges à la Tolkien zu bieten: Ringe der Macht, weiß leuchtende Hügelgräber, Reiter aus der Steppe, sagenhafte Schwerter. Von Menschenopfern und einem Stonehenge auf deutschem Boden ganz zu schweigen. Willkommen also in Aunjetitz, der Welt der Himmelsscheibe von Nebra, dem mächtigsten Reich, von dem Sie noch nie gehört haben!