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Unter Raubgräbern
»Die Jagd nach den Sternen ist zu Ende« – so lautete der Titel der Pressekonferenz vom 28. Februar 2002 in Magdeburg. Im Blitzlichtgewitter überreichte Innenminister Manfred Püchel dem Kultusminister Gerd Harms die Himmelsscheibe. Püchel lobte die Hilfe der Schweizer Polizei und freute sich, diesen einzigartigen Fund für das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle gerettet zu haben. Zuvor hatten der Archäometallurge Ernst Pernicka und der Restaurator Christian-Heinrich Wunderlich in ihren ersten Analysen keine Hinweise auf eine moderne Herstellung der Scheibe gefunden. Die Presse war begierig, noch das kleinste Detail über die Polizeiaktion in Basel zu erfahren. Alle waren zufrieden. Das Motto der Pressekonferenz hätte aber trotzdem nicht unpassender gewählt werden können. Denn die »Jagd nach den Sternen« begann jetzt erst richtig.
Bereits der erste Blick auf das Bildprogramm der Himmelsscheibe schürte die Erwartungen, dass es äußerst lohnenswert wäre, ihren astronomischen Inhalten auf den Grund zu gehen. Dem Physiker Thomas Richter, EDV-Chef des Landesamts, waren gleich die sieben Sterne aufgefallen, die zwischen der mutmaßlichen Sonne und dem Halbmond eine markante Rosette bildeten: die Plejaden. Auch wenn der auffällige Sternenhaufen im Sternbild Stier eigentlich aus über 1000 Sternen besteht, sind mit bloßem Auge am Nachthimmel nur sechs bis acht, allenfalls zehn Sterne zu erkennen. Es war aber die Sieben, die sich als Plejadenzahl durchsetzte. Viele Kulturen der Welt nutzten das Auftauchen oder Verschwinden des Siebengestirns als himmlisches Kalenderzeichen.
Der Archäologe und Bronzezeitexperte Florian Innerhofer hatte zudem eine Theorie, was die beiden Goldbögen links und rechts am Rand der Scheibe anging, von denen einer nur noch als Abdruck vorhanden war. Er schlug vor, sie als Horizontbögen zu deuten, die den Lauf der Sonne im Jahr wiedergeben. Die Enden der Bögen markierten dann ihre jeweiligen Auf- und Untergänge zur Sommer- und Wintersonnenwende. Solche Ausrichtungen kannte man bereits aus Stonehenge oder dem Hügelgrab von Newgrange in Irland, wo die Sonnenstrahlen zur Zeit der Wintersonnenwende genau in die Grabkammer hineinfielen.
Mochten solche Hinweise auf eine verschlüsselte astronomische Botschaft noch so verheißungsvoll sein, so beschränkt war doch ihre Aussagekraft, solange ungeklärt war, woher die Himmelsscheibe tatsächlich kam. Deshalb hatte die kriminologische Aufklärung des Falls oberste Priorität. Nur so konnte der Himmelsscheibe ihre Geschichte zurückgegeben werden.
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»Wir werden euch finden!« Mit diesem Satz zitierten die Zeitungen Innenminister Manfred Püchel, der auf der Pressekonferenz Ende Februar den Hehlern und Raubgräbern gedroht hatte, die Polizei werde mit Hochdruck die Kriminalgeschichte der Scheibe aufklären. Allein wer sich freiwillig stelle und bei der Aufklärung helfe, dürfe mit Milde rechnen.
Als die Bild-Zeitung von der »unschätzbar wertvollen Sternenkarte« orakelte, meldeten sich Finder gleich im Dutzend und versuchten, ihre Geschichten zu verkaufen. Auch im Museum gingen Bekennerschreiben ein: Man habe die Scheibe im Keller gefunden und auf dem Trödel verkauft, man hätte ja nicht ahnen können, wie bedeutend sie sei – und bitte deshalb um Rückgabe. Doch eine ernst zu nehmende Spur war nicht darunter.
Es sollte bis zum 22. Juli 2002 dauern, bis Staatsanwältin Eva Vogel den Direktor des Landesmuseums für Vorgeschichte anrief: »Herr Meller, ich habe eine Überraschung für Sie. Bei mir sitzt ein Herr Achim S. Er hat ein Geständnis abgelegt und ist bereit, uns zum Fundplatz der Sternenscheibe zu führen. Möchten Sie mitkommen?« Und ob Meller wollte!
Achim S., Mitte 40, war einer der beiden Männer, die den Berliner Museumsdirektor Wilfried Menghin mit schlechten Fotos dazu bewegen wollten, eine Million Mark für das Himmelsscheibenensemble zu zahlen. Er war derjenige mit dem kölnischen Dialekt. 32 000 Mark hatte Achim S. selbst den Findern für deren Schatz bezahlt, wohl wissend, welches Bombengeschäft er damit gemacht hatte.
2 Gerettet: So sah der Hortfund aus, als er im März 2002 ins Landesmuseum nach Halle kam. Das Nebra-Ensemble umfasst neben der Himmelsscheibe zwei Schwerter mit goldenen Griffmanschetten, zwei Beile, einen Meißel und zwei zerbrochene Armspiralen.
Mühselig versuchte er dann, die merkwürdige Scheibe zu reinigen. Drei Tage weichte er sie in der Badewanne in Prilwasser ein. Als mit der Zahnbürste allein nichts auszurichten war, griff er zum Schärfsten, was der Putzschrank hergab: Ako Pads. Mit der Stahlwolle schrubbte er die Vorderseite, immer bemüht, das Gold nicht zu sehr zu verkratzen.
Achim S., ein arbeitsloser Kunststoffschlosser, wandte sich zunächst an einen Kunsthändler. Der wollte den Verkauf übernehmen. Doch die Provision, die er dafür verlangte, erschien Achim S. unverschämt hoch. Er beschloss, den Fund auf eigene Faust zu verkaufen. Die Angelegenheit erwies sich jedoch als vertrackt: Sobald die Museen vom Fundort erfuhren, war die Sache erledigt.
Schließlich ging Achim S. zu einem Sammlertreffen ins Historia, wo Hildegard B. den Kontakt zu einem passionierten Sammler herstellte, den man in der Szene »den Lehrer« nannte: Reinhold S. Das war im Frühjahr 2000 gewesen. Mit 250 000 Mark stieg Achim S. in den Verkaufspoker ein, auf 230 000 Mark einigte man sich. Das waren fast 200 000 Mark Gewinn für Achim S.! Den genauen Fundort verheimlichte er aber. Wer weiß, vielleicht gab es da noch mehr zu holen. Stattdessen machte er auf einer Karte ein Kreuz bei Wettelrode, nicht weit von Sangerhausen entfernt. Da gab es eine Wallanlage, das wusste er von anderen Funden.
Alles lief bestens für Achim S., auch wenn er das Geld schnell unter die Leute brachte. Doch dann tauchte zwei Jahre später diese verflixte Scheibe wieder auf – und zwar als »Krimi von Basel«. Alle Zeitungen waren voll davon. Seither hatte der Hehler keine ruhige Minute mehr. Da war die Angst, dass Reinhold S. sein Geld zurückhaben wollte. Doch das war ja weg! Und dann machten ihm die Finder die Hölle heiß. 700 000 DM, so war überall in der Presse zu lesen, hätte Reinhold S. für die Fundstücke zahlen müssen! Und Achim S. hatte sie mit lächerlichen 32 000 Mark abgespeist! Er konnte sogar verstehen, dass die Finder ihm nicht glauben wollten, dass die 700 000 gelogen waren und er ja nur 230 000 Mark kassiert hatte. Schließlich hatte er ihnen selbst damals vorgeschwindelt, er hätte die Stücke für gerade einmal 45 000 Mark weiterverkauft. Aber Geschäft ist nun mal Geschäft, und wenn das Geld weg ist, ist das Geld weg.
Am meisten setzten Achim S. die polizeilichen Ermittlungen zu. »Wir kriegen euch!«, hatte der Innenminister gedroht. Als Achim S. von Bekannten erfuhr, die Polizei habe sich nach ihm erkundigt, fühlte er, wie sich die Schlinge um seinen Hals zuzog. Was sollte er tun? Von einem Rechtsanwalt erhielt er einen einfachen Rat: »Gehen Sie zur Polizei und legen Sie ein Geständnis ab.«
Deshalb saß Achim S. nun in einem Wagen mit der Staatsanwältin. Es ging durch den dunklen Buchenwald des Ziegelrodaer Forsts. Gerade einmal 254 Meter hoch erhob sich der Mittelberg unweit des Städtchens Nebra über die Unstrut. Fast oben auf dem Plateau zeigte Achim S. in der Nähe eines Wegs auf eine noch nicht vernarbte Markierung an einem Baum. Am Boden zeichnete sich eine Mulde ab. Hier hatten Henry W. und Mario R. vor gut drei Jahren ein Loch gebuddelt und begeistert über das, was sie aus der Erde holten, noch am selben Abend ihren Freund Achim S. angerufen.
Doch heute, an diesem 22. Juli 2002, waren Henry W. und Mario R. nicht im Geringsten begeistert, als Achim S. sie anrief, um ihnen zu erzählen, dass er gerade bei der Staatsanwaltschaft in Halle ein Geständnis abgelegt habe und jetzt mit der Staatsanwältin Vogel und dem Museumsdirektor Meller zum Mittelberg fahre. Wie konnte er nur! Er hatte sie verpfiffen, so ein mieser Verräter! Hätte er sie nicht warnen können! Erst hatte Achim S. mit ihrem Fund den großen Reibach gemacht, und jetzt wollte er sich auf ihre Kosten reinwaschen. Was für ein Halunke!
Als im Frühjahr dieses Jahres die Sternenscheibe wiederaufgetaucht war, hatten alle drei beschlossen, sich ruhig zu verhalten. Schon damals waren Henry W. und Mario R. schrecklich wütend gewesen, als sie lasen, für wie viel Geld Achim S. ihren Fund verkauft hatte. Und sie hatte er mit Almosen abgespeist! Der Verrat aber schlug dem Fass endgültig den Boden aus. Henry W. und Mario R. fühlten sich ausgenutzt, belogen, hintergangen. Zugleich hatten sie es satt, dass sich beständig andere im Glanz der Scheibe präsentierten. Die war ihre Entdeckung! Sie waren es, die den großen Fund gemacht hatten, von dem die Zeitungen voll waren. Höchste Zeit, ihren Anteil an Geld, Rummel und Ruhm einzufordern!
Henry W. und Mario R. nahmen sich Anwälte und verlangten als Entdecker der Himmelsscheibe eine Entschädigung. Doch die Gesetzeslage ließ keinen Zweifel. Sie gingen leer aus. Schlimmer noch: Während ihr redseliger, aber geständiger Kumpel Achim S. mit einem Strafbefehl davonkam, sollte jetzt nicht nur den mutmaßlichen Hehlern Hildegard B. und Reinhold S. der Prozess gemacht werden, sondern auch ihnen, den Findern der Himmelsscheibe. Da beschlossen die beiden, dem Rat ihrer Anwälte zu folgen und mit dem Landesmuseum für Vorgeschichte zu reden. Das würde sich positiv auf den Prozess auswirken, hieß es. Außerdem hatten sie ja eine Geschichte zu erzählen.
***
Hätten die beiden Männer beim Seefest in Röblingen am See das eine oder andere Bier weniger getrunken, wäre die Welt vermutlich um eine archäologische Sensation ärmer. Dann wären Henry W., 35, und Mario R., 28, am nächsten Tag, dem 4. Juli 1999, wohl mit ihren Metallsuchsonden nach Teupitz bei Berlin gefahren, ins Eldorado all jener Militariasammler, die es nicht störte, im märkischen Sand auf Knochen zu stoßen. Im Kessel von Halbe waren in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs über 60 000 Menschen ums Leben gekommen. Doch Militaria waren eine einträgliche Angelegenheit, da war Pietät fehl am Platz.
Aber für einen Sonntagnachmittag war Teupitz viel zu weit weg. So beschlossen sie, mit dem Trabbi von Henry W. in den Ziegelrodaer Forst zu fahren; der lag nur eine halbe Stunde Fahrt entfernt. Und auf der Kreiskarte war auf dem Mittelberg, der sich zwischen Memleben und Nebra bei der Ortschaft Wangen in Sichtweite der Unstrut befand, eine Ringwallanlage eingezeichnet. Dort wollten sie ihr Glück versuchen.
Fernsehdokumentationen über die Himmelsscheibe von Nebra verlegen deren Entdeckung später mit Vorliebe in die Nacht. Da schreien die Käuzchen, der Lichtkegel der Taschenlampe huscht über den Waldboden, die Raubgräber tragen Sturmhauben oder haben zumindest mit Kohle geschwärzte Gesichter. Nichts könnte verkehrter sein. Die Entdeckung der Himmelsscheibe geschah am helllichten Tag.
Die beiden starteten ihre Suche gegen 13 Uhr, sie hatten keine speziellen Erwartungen. Es war ein heißer Sommertag. Zuerst suchten sie einen alten Abschnittswall ab, folgten dann einem Hohlweg bergauf. Der dünne, quirlige Mario R. wie immer vorneweg, der kräftige Henry W. trottete gemütlich hinterher. Die Sonden waren ständig im Einsatz, doch aus ihren Kopfhörern drang kein Pieps, der sie zum Graben animiert hätte. Angesichts der Hitze legten sie bald eine Pause ein, streiften weiter den Buchenwald hinan und machten einen Bogen um eine Rotte Wildschweine, die das Beste tat, was man bei dieser Hitze tun konnte: sich im Schlamm suhlen.
Als sie es fast zum höchsten Punkt des Mittelbergs geschafft hatten, bemerkte Henry W. eine ebene Fläche. Da könnte einmal ein Köhlermeiler gestanden haben. Er beschloss, das Plateau zu inspizieren. Die Sonde schlug Alarm. Und wie! Es schmerzte in den Ohren. Die Meldung »Overload« blinkte auf dem Display.
Das musste gar nichts heißen, wusste Henry W. Zu oft schon war er darauf hereingefallen; zu oft hatte er, vom Sondensignal euphorisiert, mit dem Graben begonnen und war dann doch nur auf Schrott gestoßen. Ofenplatten fanden sich selbst mitten im Wald! Deshalb schob er jetzt erst einmal bedächtig mit dem Fuß das Laub beiseite. Da war nichts Auffälliges, der Boden schien steinhart. Henry W. zog seine Hacke hervor, ein umgeschmiedetes Feuerwehrbeil, und begann, die Erde aufzuhacken.
Als Mario R. registrierte, dass sein Kollege zu graben begonnen hatte, kam er zurück und schaute dem schwitzenden Henry W. zu, wie der sich mit dem harten Boden plagte. »Stopp!«, rief Mario R. plötzlich. »Du hast da was getroffen.« Ja, einen Eimerdeckel! Lag ja nur wenige Zentimeter unter der Erdoberfläche. »Nein, da ist Gold!« Henry W. stoppte das Hacken, lockerte mit dem Beil vorsichtig den Boden; Mario R. kratzte die Erde mit den Fingern weg. Es schien eine Metallscheibe zu sein. Sie stand aufrecht im Boden, aber sie steckte fest, bombenfest. Von hinten gab es kein Herankommen, da war ein großer Stein. Zentimeter um Zentimeter arbeiteten sich die beiden tiefer. Fast zwei Stunden vergingen, bis sie die Scheibe gerade zur Hälfte freigelegt hatten. Was sie da genau ausgruben, wussten sie nicht; es war zu sehr mit Erde verkrustet.
Dann stießen sie auf härteren Widerstand als den ohnehin schon harten Boden. Steine, die vor der Scheibe deponiert waren? Nein, Beile! Zwei Stück. Sie lagen wechselseitig aufeinander, Klinge gegen Klinge. Nach einer Weile zeigte sich: Unter den Beilen war noch mehr. Ein Bronzemeißel. Und der wiederum ruhte auch auf etwas. »Da ist ein Schwert!« Und darunter ein zweites. Die beiden jubelten! Auch die Schwerter waren gegeneinander gekehrt. Die Erde war lehmiger geworden und um die Stücke herum dunkel verfärbt. Hinter einem der Schwertgriffe fanden Mario R. und Henry W. noch zwei Armspiralen, eingebacken in Erde.
Sicher mehr als drei Stunden währte die Buddelei schon, endlich konnten die beiden die Scheibe herausnehmen. Sie war erstaunlich schwer. Am Rand hatte sie Löcher. Verbeult war sie auch. Vermutlich hatte das Feuerwehrbeil sie getroffen. Aber was hatten sie da überhaupt ausgegraben? Keinen Eimerdeckel, das war klar. Ein Schild? Zu klein. Etwas von der goldenen Verzierung hatte Henry W. abgeschlagen. Mario R. steckte es in die Hosentasche. Nun aber nichts wie weg hier; nicht dass sie noch jemand erwischte. Sie packten die kleinen Stücke in Gefrierbeutel, die Scheibe in eine Plastiktüte. Die Schwerter mussten sie in den Händen tragen. Ein Griff hatte sich gelöst; der Niet, der ihn an der Klinge fixieren sollte, fehlte. Sie suchten, fanden ihn aber nicht.
3 »Da ist Gold!«: Dicht gepackt ruhten die Gegenstände des Himmelsscheibendepots 3600 Jahre lang in der Erde. Bis an einem Sommertag sie die Hacke der Raubgräber traf.
Bevor sie das Loch wieder verfüllten, prüften sie noch einmal mit der Sonde, ob sie nichts übersehen hatten. Die machte keinen Pieps mehr. Alles, was sie an Erde und Steinen herausgeholt hatten, schoben sie wieder ins Loch, auch die Mineralwasserflasche warfen sie hinein. Dann traten sie den Boden fest und überdeckten die Stelle mit Laub. Schnell ging es den Berg hinab zu Henry W.s Trabbi – und ab nach Hause. So ein Fund musste gefeiert werden. Außerdem wollten sie Achim S. anrufen, der sollte schon mal das Geld klarmachen!
Tatsächlich ließ Achim S. nicht lange auf sich warten. Bereits am nächsten Tag war er in Röblingen. Seine Freundin hatte ihn fahren müssen, er besaß keinen Führerschein, und das Geld musste sie ihm auch pumpen. Er besah sich die Stücke. Ja, die Reise hatte sich gelohnt. 40 000 Mark wollte Henry W. haben, man einigte sich auf 30 000 für Scheibe und Schwerter, 1000 für Beile, Meißel und Armringe. Und 1000 Mark bekam Mario R. extra, der enttäuscht war, dass Henry W. ihn nur mit zehn Prozent am Fund beteiligte. Dabei suchten die beiden stets auf eigene Rechnung. Dafür verscherbelte Mario R. noch die von der Scheibe abgerissene Goldfolie für 50 Mark an Achim S., ohne dass Henry W. es mitbekam. Den Fundort aber verrieten sie nicht. Wer weiß, was dort noch alles zu finden war.
Wenige Tage später war Achim S. wieder da. Dieses Mal mit der Bahn, seine Freundin hatte sich geweigert, ihn schon wieder durch halb Deutschland zu kutschieren. Der Bronzeniet eines Schwertgriffs fehlte ja noch, der war doch sicher beim Ausgraben verloren gegangen. »Den müssen wir suchen gehen!« Was soll’s, sagten sich Henry W. und Mario R., zeigen wir ihm halt den Fundort, und fuhren mit Achim S. auf den Mittelberg, wo sie tatsächlich den fehlenden Schwertniet entdeckten.
Mit der Aussage von Henry W. und Mario R. lag also die Fundgeschichte komplett vor. Fast komplett zumindest. Was nämlich Mario R. verschwiegen hatte: Nachdem die Scheibe im Februar 2002 wiederaufgetaucht war, hatte ihn Achim S. gedrängt, noch einmal zur Fundstelle zu fahren. Die Steine, an denen die Himmelsscheibe gelehnt hatte, würden ihm keine Ruhe lassen. Henry W. und Mario R. hatten bei ihrer Buddelei zwar keine Knochen gefunden, aber wer weiß! Was, wenn es sich doch um ein Grab gehandelt hatte? Dann würden sie womöglich noch wegen Störung der Totenruhe angeklagt. »Wir graben die Steine aus«, sagte Achim S., »rollen sie den Hang hinunter und machen das Loch wieder zu. Dann kann uns keiner was.« Gesagt, getan. Ob Achim S. da schon im Sinn hatte, sich zu stellen? Jedenfalls nutzte er die Gelegenheit, die Fundstelle im Ziegelrodaer Forst mit einer Markierung an einem Baum kenntlich zu machen. Damit er sie wiederfände – man konnte ja nie wissen.
***
Harald Meller stellte noch im Sommer 2002 ein Ausgrabungsteam zusammen, die Forstverwaltung fällte derweil auf dem Plateau des Mittelbergs die Bäume. Ziel war es, das gesamte Terrain zu erkunden, um herauszufinden, was es mit der Wallanlage auf sich hatte, innerhalb derer die Himmelsscheibe gefunden worden war. Könnte das eine Art bronzezeitliche Sternwarte gewesen sein? Oder handelte es sich um eine Befestigungsanlage? Zugleich wurde nach Gräbern, Siedlungsspuren und weiteren Deponierungen Ausschau gehalten.
Das Ziel war es aber auch, die Raubgrabung selbst archäologisch zu belegen. Tatsächlich gelang es, die Schlagspuren nachzuweisen, mit denen Henry W. den Boden umgepflügt hatte – die daraus gewonnenen Negativprofile passten zu dem sichergestellten Feuerwehrbeil. Sogar auf die Scherben jener Wasserflasche stießen die Archäologen, die Henry W. an dem heißen Julitag des Jahres 1999 geleert und dann in der Grube entsorgt hatte. Sie würde noch zu Berühmtheit gelangen. Die Nachgrabung zeigte auch, dass es sich um kein Grab handelte. Die Bronzestücke scheinen als Deponierung, also als mögliche Gabe an die Götter, vergraben worden zu sein.
Damit also war auch die zweite Hauptaufgabe gemeistert: Nach der Sicherstellung war der Himmelsscheibe, den Schwertern, Beilen, dem Meißel und den Armringen ihr Fundort zurückgegeben. Und das war eine Verheißung für die weiteren Forschungen. Denn noch während die Spaten auf dem Mittelberg in den Boden gestoßen wurden, zeigte sich schon: Der Fundort passte bestens zu diesem durchaus himmlischen Fundstück! Nicht nur die Archäologen hatten sich an die Arbeit gemacht, auch die Astronomen folgten längst der Spur der Sterne.
4 Geschichte ausgraben: Archäologen untersuchen den Fundort der Himmelsscheibe auf dem Mittelberg bei Nebra. War hier das Zentrum einer bronzezeitlichen Sternwarte?