Robinson im Gefängnis

Der neue Selkirk brauchte keinen Juan Fernández, eine Robinsonei zu errichten, dem Städter genügte ein Bauernhof, dem Landmann ein Büro, beiden ein Gefängnis. Jeder hat die Sinne und Gliedmaßen seines Milieus und nur die, ein Schritt abseits vom gewohnten Wege, und Robinson versuchte, Ton zu brennen: du, ich, wir alle.

In jedem Menschen webt der Traum, ein Leben ganz von vorn zu beginnen, einschlafend überlegt der Mann: wie war es bei jenem Defoe? Und er verschmäht den billigen Ausweg, mit gescheitertem Schiff die Hilfsmittel heranzuschaffen; die Gewässer, die Höhlungen in den Erdfalten, die Tiere in Luft und Wasser, sie sind es, mit denen zu beginnen ist. Seine Hände allein und sein Kopf – und langsam ersteht dem Schiffbrüchigen eine schönere Welt. Schöner, da reiner; reiner, da unabgelenkt. So ist es.

Jeder Dichter, der ein Buch schreibt, träumt diesen Traum. Er träumt ihn hundertmal, er schreibt ihn fünfmal. Fünfmal behauptet er ihn und zwingt ihn, gegen eine ganze flatternde, flüchtige Welt wahr zu sein. Hamsun, Segen der Erde … sieh doch das schöne Rund dieser Muschel, an ihre Ränder brandet die Welt, innen summt es wie sie, aber es summt neben ihr, außer ihr, es hat nichts gemein mit dem Tosen, das ewig vergeht und sich ewig erneut: es summt für sich.

Isak geht über das Feld und sät, er schlägt Holz, bricht Steine, aber als Isak in dieses Ödland ging, hatte er da nicht die Gliedmaßen, den Kopf, die dieser Heide- und Multebeerenboden verlangte? Wie wäre es, wenn du mit deinem Büro, du von der Drehbank, du vom Schaltpult, du von der Kanzel, wenn wir alle einmal in solches Ödland gingen?

Ich bin den Weg gegangen, die Zellentür schlug hinter mir zu, durch das Milchglas des kleinen Fensters sieht Robinson nur die Helligkeit des Lichts, nicht mehr den Himmel und seine Wolken. Vier weiße Wände, ein Schränkchen, ein Bett, ein Tisch, ein Schemel –: einmal noch ist es ihm, als brause die Welt draußen laut und lockend auf, sie verstummt, und eine kleine sachte Melodie hebt an, so leis, er hört sie erst kaum. Hörst du? Horchst du? Das bist du, dem es nie gelang, sich gegen all das draußen zu behaupten, der einmal erklang und lange verstummte und wieder einmal erklang und länger noch verstummte.

Nun wird es sich erweisen, ob du es machen wirst wie die Flüchtigen, die diese Tage, Wochen, Monate, Jahre hier nur durchwarten, fortstreichen mit dem Kalender, bis der Tag kommt, da die Tür sich wieder aufschlägt, oder ob du dich demütig hineinkniest in dieses Leben mit dem festen Vorsatz, es zu nehmen, wie es ist, dir nichts zu ersparen und ganz du zu werden in ihm. Nun wird es sich erweisen.

Da stehst du in deiner Zelle, und zwischen dir und dir ist nichts mehr. Keine Bücher, die dich doch immer nur von dir fortlockten, keine Menschen, die sich nur in dir spiegelten und nach ihrem Ebenbild dich umschaffen wollten, keine Geschäfte, die das Leben zu erhalten vorgaben und es nur vergessen ließen – nichts wie du und du.

Ach! wie alle menschliche Welt baut mich diese mit den kleinen Dingen auf. (Sie sind so klein und groß, wie du sie in dir werden lässt.) Vielleicht ist es dem andern Robinson gelungen, ein wenig Tabak in seine Zelle zu schmuggeln, er steht horchend: der Schritt des Wärters verklingt ferner, noch einmal klirren die Schlüssel, nun ist er allein. Er holt seinen Schatz hervor, ein Händchen voll Tabak, mit Zeitungspapier rollt er eine Zigarette und nun Feuer! Feuer! Er durchsucht seine Taschen: nichts. Er riecht an dem Tabak, der feine, ein wenig staubige Geruch regt seinen Hunger noch wilder auf: nichts. Er beginnt seine Zelle zu durchsuchen. Das dauert nicht lange. Könnte nicht ein Vorgänger ein Streichholz hier gelassen haben?

Und das Wunder geschieht ihm. Er flüstert: »Ein Wunder!« Zwar kein Streichholz ist’s, was er hinter der äußersten Kübelecke findet, aber dies: ein Stück Feile, einen Feuerstein, zwischen Holz geklemmt und festgebunden, in einem Büchschen ein wenig angesengte Leinwand. Er begreift sofort: Stahl, Stein, Zunder. Er wird Feuer haben, gleich Feuer.

Er stellt sich an seinen Tisch. Er schlägt den Stein gegen die Feile, darunter stellt er die Büchse, dass die Funken auf den Zunder fallen können. Er schlägt einmal, zweimal, dreimal: nichts. Er schlägt stärker, der Stein rutscht aus der Holzfassung und fällt auf die Erde. Er begreift: er muss auch dies erst lernen, und unermüdlich steht er da und schlägt Stein und Stahl aneinander. Es wird dunkel. Einmal ist ein kleiner Funke aufgeglommen und erloschen. Es ist Nacht, noch pinkt er.

Müde geht er ins Bett, ein wenig Tabak im Munde, dessen Geschmack er leise in sich anschwellen lässt, und einschlafend fällt ihm Robinson ein, der, ganz wie er, ein hartes und ein weiches Holz gegeneinanderrieb, bis die Arme versagten, und der auch kein Feuer bekam. Von vorne anfangen, weiß er nun.

In die Anfänge der Sprache dringt er ein. Was er so oft gedankenlos hörte: sein Brot brechen, nun tut er es, da er kein Messer besitzt.

Der Sinn von Sprichwörtern geht ihm auf, als er sein schmutziges Wasser weggoss, ehe er reines hatte, nun muss er bis morgen früh um sechs warten.

Da ist Putzpulver, da ist seine zinnerne Waschschüssel, da sind Lappen. Putzt man nass? Putzt man trocken? Wäscht man hinterher ab oder reibt nur den Staub herunter?

Er lernt. Eines Tages fliegt von seinem Stahl Funke um Funke, und der Zunder erglüht rot. Gegen Stein reibt er seinen Löffelstiel, und der schmal geriebene wird Messer. Die immer wieder geputzte Ofenkachel ist ein Spiegel, das Zinngeschirr glänzt, und die Geheimnisse wie Nass- und Trockenaufwischen sind ihm nicht verborgen.

Jeder solche Entdeckungstag ist ein Freudentag, seltsam, er hat das Gefühl, er habe wirklich etwas gewonnen, innerlich, er sei mehr geworden. Kannte er draußen diese Freuden? Kleines Leben? Geringes Leben? Wenn er im Kreise der andern, drei Schritt Abstand nach vorn, drei Schritt Abstand nach hinten, seine halbe Stunde im Freien abzottelt, umspannt sein Auge anders den Himmel mit Wolken und Sonne als damals, da er noch »frei« war. Damals war sein Auge gleichgiltig über Wald, Wasser und See geglitten, nun trägt er in seine Zelle den Himmel und das dürftige Gras und lässt sie leben in sich, und ein ganzer Sommer mit Blütenübersturz, mit triefendem Geäst, mit frohem Winken von Blau Wassers und Himmels baut sich in ihm auf.

Er ist so allein? Alle Welt ist um ihn. Die vergessenen Freunde kommen, und nun weiß er ihnen das rechte Wort, das er nie gewusst. Die Geliebte, die ihm entglitten, weil er nie die Zeit gefunden, seine Zärtlichkeit in sich reif werden zu lassen, wohnt in seinem Herz, und nun kennt seine Hand die rechte Schmeichelei und sein Auge den Glanz der Freude.

Vielleicht geschieht es ihm dann, dass er nach langen Monaten solcher Einsamkeit ein Mädchen sieht, im Vorzimmer eines Richters, vor dem Sitzungssaal etwa, in dem sie eben verurteilt wird. Sie weint fassungslos, aber immer wieder hebt sie den Kopf, und, Glanz im Auge, späht sie nach jener Tür, die ins Freie führt. Sie öffnet sich, Gerichtsdiener kommen und gehen, Polizisten, sie lässt den Kopf enttäuscht wieder sinken. Und schaut wieder hoch, und wieder erglänzt Hoffnung in ihren Augen. Man fragt sie, ob sie auf jemand wartet, und sie flüstert: »Die Amnestie! Die Amnestie.«

Dies geschieht ihm, und er sieht Robinson auf den Berg steigen und auf ein Segel hoffen, Tag um Tag. Kleine Menschen, armes, törichtes Mädchen!

Er geht in seine Zelle zurück. Nun wird es Nacht, er legt sich schlafen. Er ist sehr allein, und keinen braucht er. Aber vielleicht richtet sich an der Schwelle seines Traumes jenes verweinte Mädchen auf, und eine nicht minder törichte Hoffnung fragt leise, ob er noch einmal wird lieben dürfen –?