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Als sie am Friedhof aus dem Mini stiegen, bekam Geli kurz ein schlechtes Gewissen. Ihren Töchtern hatte sie nichts von der Geburtstagsfeier erzählt. Sie sollten sich nicht schlecht fühlen, weil sie nicht kamen. Denn es war natürlich eine Zumutung von Imke und auch von Mama, zu erwarten, dass die beiden eine derart lange Anreise unternahmen, um dann stundenlang mit den Verwandten am Tisch zu sitzen und sich fade Gespräche anzuhören. Sie hatte die beiden gebeten, ihrer Großmutter zu gratulieren, und die Feier gar nicht erwähnt. Am besten, sie schrieben eine hübsche Karte.
Niklas schlug die Wagentür zu und sah sie über das Autodach hinweg an. Wärme breitete sich in ihr aus, und ihr Herz wurde ganz weit. Er war ein fröhlicher, geduldiger und liebevoller Mensch, und sie war dem Schicksal dankbar, das sie zusammengeführt hatte. In seiner Zahnarztpraxis. Die sie nur aufgesucht hatte, weil ihr Zahnarzt Urlaub machte und sie einen kleinen braunen Fleck an einem Backenzahn entdeckt hatte.
Anne würde ganz sicher eine abwertende Bemerkung über Niklas loslassen. Sie war oberflächlich und bewertete
die Menschen nach ihrem Aussehen, Beruf und Einkommen. Bei Punkt eins fiel Niklas durch. Er war zwei Zentimeter kleiner als Geli, und sie war schon ein Zwerg. Sein Haar wurde licht. Genau genommen hatte er eine Glatze, die ein melierter Haarkranz umgab. Und er neigte dazu, anzukörpern, was an seinem Hobby lag. Niklas kochte gerne. Und das richtig gut und aufwendig. Stundenlang konnte er in seiner Küche stehen, um ein Menü zuzubereiten.
Nun sah er sie lächelnd über den blauen Rand seiner Brille hinweg an. »Bereit, mich deinem Vater vorzustellen?«
»Aber sicher.« Sie nahmen den Blumenstrauß aus dem Kofferraum und gingen zu Papas Grab. Wie das aussah! So unwürdig. Ein Haufen aus Kies und Erde und obendrauf diese billigen Plastikschalen. Warum kümmerte Imke sich nicht darum, dass das endlich in Ordnung gebracht wurde?
Noch immer konnte sie nicht glauben, dass ihr Vater nicht mehr da war. Es war so schnell gegangen. So plötzlich. Ohne Abschied. Geli beneidete Imke, dass sie bei ihm gewesen war, dass sie letzte Worte mit ihm wechseln konnte. Sie hätte ihm so gerne gesagt, wie dankbar sie ihm für alles war. Dass er ihr Vater und Mutter gewesen war, wie großartig er das gemeistert hatte. Nun sagte sie es ihm in Gedanken und legte die Blumen zwischen die bepflanzten Schalen. »Er würde dich mögen«, sagte sie zu Niklas. »Ihr seid euch ähnlich.«
Niklas blickte auf die Blumen. »Schade, dass ich ihn nicht mehr kennengelernt habe.«
»Ihr wärt prima miteinander ausgekommen. Er hatte ein ähnlich großes Herz wie du.«
»Und deine Mutter? Wie ist sie?«
»Kompliziert. Harsch. Abweisend. In etwa so empathisch wie ein Kühlschrank. Für die emotionale Wärme war Papa
zuständig. Mama hat uns versorgt. Und sie hat darauf geachtet, dass etwas aus uns wird. Abitur und Studium. Darunter zählt man nicht bei ihr. Sie hat uns echt getriezt. Dabei hat sie selbst keinen Schulabschluss.« Ihr Smartphone summte. Sie nahm es aus der Tasche. Es war Yvonne. »Entschuldige, da muss ich rangehen.«
Niklas nickte. »Nur zu.«
»Hallo meine Süße.«
»Hallo Mutti. Ich hab’ grad mit Oma telefoniert und ihr zum Geburtstag gratuliert. Es gibt also doch eine Feier. Wir waren eingeladen, und du hast uns nichts davon gesagt. Geht’s noch?«
»Ich wollte nicht, dass ihr euch schuldig fühlt, wenn ihr nicht kommt. Oder wolltest du dich etwa in den Zug setzen und nach München fahren?«
»Darum geht es doch nicht. Du bist wieder übergriffig. Wie kannst du über unsere Köpfe hinweg entscheiden, was wir tun? Wir sind keine Babys mehr. Und zur Info: Du zahlst jeden Monat einen Haufen Geld für meine Therapeutin, damit ich meinen Dachschaden loswerde, den du Helikoptermama mir verpasst hast. Ich dachte, Berlin wäre weit genug weg, damit du dich nicht weiter einmischst. Aber nein, du kriegst das immer noch prima hin. Soll ich nach Australien auswandern?«
»Was war das im Mittelteil, mit der Therapeutin?«
»Ich wollte es dir eigentlich nicht am Telefon sagen: Ich mache eine Therapie. Dafür geht ein Teil deines – zugegeben und danke schön – großzügig gespendeten Monatsbudgets drauf.«
»Okay«, sagte Geli. »Meine Kinder sind also neurotisch, und ich bin schuld. Ihr verfügt über zu wenig Resilienz. Davon hätte ich euch mehr vererben sollen. Davon habe ich
nämlich eine XL-Portion vom lieben Gott mitbekommen. Oder was glaubst du, wie ich Mamas Erziehung unbeschadet überstanden habe?«
Yvonne lachte. »Hast du nicht, Mutti. Glaub mir.«
»Wir wechseln jetzt das Thema, bevor wir uns streiten.«
»Einverstanden.«
»Ich hab’s nur gut gemeint. Aber lassen wir das.«
Geli beendete das Gespräch und sah Niklas an. »Bin ich neurotisch? Meine Tochter scheint das zu glauben.«
Er lachte und zog sie an sich. »Wenn schon etwas mit ›isch‹, dann erotisch.«
Sie kehrten zum Friedhofsparkplatz zurück und fuhren das letzte Stück zu Mama. In der Einfahrt standen bereits Annes Audi und dahinter der Kombi von Imke und Moritz.
Niklas nahm die Holzkiste mit sechs Flaschen Luganer aus dem Kofferraum und Geli den Strauß Pfingstrosen und die Frischhaltedose mit Pannacotta, die sie beim Italiener in Ottobrunn bestellt hatte.
Wie vernachlässigt der Garten aussah! Der Rasen war lange nicht gemäht worden. Unkraut blühte darin. Aus dem Sonnenschirm auf der Terrasse tröpfelte das Wasser, nach dem Regenguss in der Nacht. Auf dem Mäuerchen lag eines der blauen Sofakissen. Sicher ebenfalls pitschnass. Die Haustür war wieder einmal nur angelehnt. Geli zog sie auf, eine Katze schoss heraus und verschwand unter den Büschen. Seit wann hatte Mama eine Katze?
Im Flur registrierte Geli Staubflusen und erdige Krümel auf dem Fliesenboden. Ein fleckiges Geschirrtuch hing über dem Treppengeländer zum Keller. Schuhe lagen durcheinander neben der Kommode. Aus der Küche drangen die Stimmen von Anne und Imke. Im Wohnzimmer standen Moritz und Alex mit Tobi und Steffi und unterhielten sich.
Mamas Freundin Erika war auch schon da und trank ihr obligatorisches Glas Sherry. »Alkohol konserviert«, sagte sie gerne. »Sonst wäre ich nicht so alt geworden.« Sie war achtzig, sah aber aus wie hundertfünfzig. Fehlte nur noch Papas Cousine Gitta. Und Mama. Wo war sie? In der Küche bei Anne und Imke jedenfalls nicht.
»Hallo. Da sind wir. Also das ist Niklas.« Geli wies auf ihn, schob gleichzeitig die Pannacotta in den Kühlschrank und sah sich nach einer Vase für die Blumen um. Meine Güte, wie es hier aussah! Überall schmutziges Geschirr. »Und das sind meine Schwestern. Imke und Anne.«
Man begrüßte und umarmte sich. Imke erklärte, dass sie sich freue, Niklas endlich kennenzulernen, und strahlte Geli an. Er gefiel ihr. Sie hatte es ja gewusst. Während Anne nur kurz Hallo zu ihm sagte, ihn mit einem raschen Blick von der Glatze bis zu den Sneakern und zurück musterte und Geli ihr ansah, wie sie ihn in die Schublade »nicht weiter beachtenswert« steckte.
Alex kam herein. Die Vorstellungsrunde ging weiter. Annes Mann nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank und bot Niklas auch eines an. Gemeinsam verschwanden die Männer aus der Küche. Auf dem Herd köchelte in einem Topf das Essen vor sich hin. Es roch nach Lamm und Knoblauch. »Wo ist eigentlich Mama?«, fragte Geli.
»Oben. Sie zieht sich um. Oder besser gesagt, sie zieht sich an.«
Anne schüttelte den Kopf. »Als wir kamen, war sie noch in Nachthemd und Morgenmantel.«
»Ich befürchte, dass sie beides seit Wochen trägt«, erklärte Imke. »Außerdem habe ich den Verdacht, dass sie die Nächte im Wohnzimmer in einem Sessel verbringt.«
»Wie es hier aussieht.« Mit einem Kopfschütteln sah Geli
sich um. »Und der Garten auch. Macht sie denn gar nichts mehr?«
»Sie trauert um Papa. Das wird sich schon geben.«
»Aber du kannst sie doch nicht in diesem Dreck verwahrlosen lassen.«
»Ich lasse sie verwahrlosen?« Imke wies erst auf sich und schob dann die Hände in die Gesäßtaschen der Jeans. Sie ging in Angriffsposition. Geli kannte das schon. »Erstens bin ich nicht ihre Putzfrau, und zweitens, wenn du es genau wissen willst, hat sie mich hinausgeworfen, als ich hier klar Schiff machen wollte. Ich solle mich nicht einmischen. Sie käme wunderbar alleine klar.«
»Trotzdem … Sieh dir das an … Es ist alles so versifft. Total unhygienisch.« Ein Gedanke schoss Geli durch den Kopf und unzensiert aus ihrem Mund. »Du könntest doch heimlich putzen.«
Imke lachte. »Das ist nicht dein Ernst. Außerdem habe ich selbst einen Haushalt zu führen und eine Familie zu versorgen. Und obendrein bin ich berufstätig und bau mir grad das zweite Standbein auf. Es ist also nicht so, dass ich nichts zu tun hätte.«
»Im Gegensatz zu mir«, warf Geli kampfeslustig ein. Sie hatte nicht die Absicht, sich dafür zu rechtfertigen, wie sie ihr Leben führte.
»Das wollte ich damit nicht sagen. Allerdings hättest du in der Tat mehr Zeit als ich, hier heimlich zu putzen.«
Geli hob die Hände und kapitulierte. »Okay. Das war keine gute Idee. Entschuldige.«
»Besorg ihr doch eine Putzfrau«, schlug Anne vor.
»Ich habe versucht, dieses Thema anzusprechen«, entgegnete Imke. »Aber ihr kennt sie ja. Sie duldet keine Fremden im Haus, und mein Argument, dass eine Putzfrau nur
so lange fremd ist, bis man sich kennengelernt hat, lässt sie nicht gelten. Ich wäre spitzfindig. Dabei bin ich total geschafft. Moritz und ich haben das Gartenhaus ausgeräumt. Zwanzig Fuhren Sperrmüll. Nur das alte Klavier steht noch drin. Obendrein hatte ich noch einen eiligen Übersetzungsauftrag und das Geburtstagsessen am Hals. Danke, Geli, dass du das Dessert übernommen hast.«
»Gerne. War doch gar kein Problem. Du musst nur etwas sagen, wenn du Hilfe brauchst. Solange ich mich nicht um Mama kümmern muss, mache ich beinahe alles.«
Anne lehnte sich an den Küchentisch. »Warum habt ihr das Gartenhaus ausgeräumt?«
»Ich bring meine Seifenwerkstatt darin unter. Unser Keller ist zu klein. Mama hat es mir erlaubt.«
»Aha«, sagte Anne. »Und ganz sicher verlangt sie von dir keine Miete dafür.«
Geli musste sich beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen. Ging das wieder los. Gleich würde Anne sich als das benachteiligte Kind inszenieren. Weil sie es mit dieser Nummer stets geschafft hatte, Papa und Mama dazu zu bringen, das Gegenteil beweisen zu wollen. Dabei war sie immer diejenige gewesen, die bevorzugt behandelt wurde.