Karin
Herbst und Winter 195
6
Stunden waren vergangen, seit Gertraud ihr den Teller mit den erbrochenen Linsen und Schwarten durch die Klappe gereicht hatte. Eher würde sie verhungern, als das zu essen. Karin schob ihn endlich unter die Pritsche.
Langsam wurde es Abend. Das Licht, das durch das Fenster unter der Decke fiel, wurde dunkler. Sie versuchte einen Blick hinauszuwerfen. Doch sie war zu klein und die Pritsche fest mit der Wand verbunden. Sie ließ sich nicht unters Fenster ziehen. Schließlich gab Karin auf und ging auf und ab. Sechs Schritte von der Pritsche bis zur Tür. Fünf von der einen Seite zur anderen. Dabei entdeckte sie zwei Inschriften auf dem Verputz, die sie im Zwielicht kaum entziffern konnte. Die Nonnen sind verdorbener als die Mädchen.
Und an anderer Stelle hatte jemand in die Wand geritzt: Nimm dich vor Herchenbachs Fingern in Acht.
Die Kirchturmuhr schlug alle Viertelstunde. Irgendwann war es sechs. Karin trank vom Wasser. Die Blechkanne war schon halb leer. Seit dem Frühstück hatte sie nichts gegessen. Ihr Magen knurrte nicht länger, er zog sich zu einem schmerzenden Klumpen zusammen
.
Das Licht wurde immer schwächer. Auf der Suche nach dem Lichtschalter stellte sie fest, dass es keinen gab. Es gab auch keine Lampe. Panik stieg in ihr auf. Sie wollte nicht allein im Dunkeln eingesperrt sein.
Als sie Pipi machen musste, benutzte sie widerstrebend den Eimer und legte sich zum Schlafen auf die Pritsche, als es Zeit dafür war. Es gab keine Matratze, nur ein Kissen und eine dünne Decke. In dieser Nacht tat sie kein Auge zu. Egal wie sie sich hinlegte, nach ein paar Minuten taten ihr die Knochen weh, und sie suchte eine andere Position. Schließlich setzte sie sich hin, stopfte das Kissen unter den Po, zog die Beine an und die Decke um sich. So gelang es ihr, ein wenig zu dösen. Als sie aufwachte, war das dunkle Fensterrechteck grau geworden. Die Kirchenglocke erklang. Der Gottesdienst begann. Wenigstens musste sie den nicht besuchen und auch nicht arbeiten. Sie konnte hier herrlich faulenzen. Wenn sie nur nicht so hungrig wäre. Sie trank etwas Wasser und versuchte, noch ein wenig zu dösen.
Irgendwann schreckte sie hoch. Die Klappe in der Tür ging auf. Es war Gertraud. »Hast du aufgegessen?«
»Ich esse das nicht. Ich kann nicht«, fügte sie hinzu und merkte, wie es ihr den Hals zuschnürte. Sie konnte das wirklich nicht essen. Es war nicht Trotz oder Boshaftigkeit.
»Ich weiß«, antwortete Gertraud. »Aber du musst. Ich darf dir erst dann Brot bringen, wenn der Teller leer ist.«
»Und wenn du es für mich wegwirfst?«
Die Stimme wurde noch leiser. Von weiter hinten hörte Karin das Klirren der Schlüssel. Das Wiesel oder eine der anderen Nonnen stand also dort. »Das geht nicht«, flüsterte Gertraud. »Sie kontrollieren mich. Wenn du aufisst, darf ich dir auch Papier und Stift bringen, dann kannst du an deine Eltern schreiben. Gib mir die leere Kanne.
«
Karin bekam eine volle. Sie setzte sich auf die Pritsche. In ihrem Gefängnis stank es nach dem Urin aus dem Eimer. Nach zwei Tagen stank auch sie. Sie konnte sich nur notdürftig mit ein wenig Wasser aus der Kanne waschen. Doch ohne Seife brachte das nichts. Und auch das Zähneputzen fiel aus. Sie fühlte sich von Kopf bis Fuß klebrig und schmutzig. Außerdem machte die Einsamkeit sie ganz verrückt. Sie begann Selbstgespräche zu führen. Sagte alle Gedichte auf, die sie jemals gelernt hatte. Sogar Schillers »Bürgschaft«, und ergänzte die vergessenen Stellen mit eigenen Texten.
Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und trommelte mit den Fäusten gegen die Tür. »Lasst mich raus! Ich habe nichts Schlechtes getan!« Niemand antwortete. Niemand verirrte sich nach oben unters Dach. Eine Weile tobte und schrie sie weiter. Bis sie erschöpft war und der Hunger sich wieder bemerkbar machte und es ihr kaum gelang, die Tränen zu unterdrücken. Doch sie würde nicht heulen. Diesen Triumph gönnte sie den Nonnen nicht.
Am nächsten Tag war ihr so schlecht vor Hunger, dass sie das erste Mal darüber nachdachte, das Erbrochene zu essen. Vor allem weil sie dann an Mami schreiben konnte. Vielleicht wusste sie nicht, wohin man sie und Pelle gebracht hatte. Auch wegen Pelle musste sie hier raus. Sicher fragte er sich schon, wo sie war. Ob sie sich ohne ihn aus dem Staub gemacht hatte.
Trotzdem dauerte es noch einen Tag, bis sie so weit war. Gertraud bat sie wieder inständig, das Zeug endlich zu essen, bevor es verdarb und sie sich am Ende noch eine Lebensmittelvergiftung holte. Nie hätte Karin gedacht, dass Hunger so wehtun konnte, dass er einen dazu bringen konnte, so etwas zu essen. Doch er war stärker als ihr Ekel
oder ihr Wille. Sie stellte die Kanne neben den Teller, hielt sich bei jedem Löffel die Nase zu und trank sofort große Schlucke Wasser hinterher. Sie versuchte, nicht daran zu denken, was sie da aß, denn wenn sie es tat, wollte es gleich wieder hochkommen. Als es dann endlich unten war, aber auch. Sie zwang sich, an etwas Schönes zu denken. An ihren ersten Sprung vom Fünfmeterbrett. An den vergangenen Sommer, und sie wusste plötzlich, dass es der letzte Sommer dieser Art gewesen war. So leicht und frei und voller Freude. Einen solchen Sommer würde es für sie nie wieder geben.
Gertraud war erleichtert, als sie ihr den leeren Teller gab, und reichte ihr eine Scheibe Graubrot und Stift und Papier durch die Klappe. Es wurde ein langer Brief. Sie schrieb mit so kleiner Schrift, wie es gerade ging, damit alles, was sie zu sagen hatte, auf dieses eine Blatt passte.
Erst einmal, wo sie und Pelle waren und wie es hier zuging. Karin schilderte es mit allen schrecklichen Details. Sie schrieb, dass Mami sich um Pelle nicht sorgen musste, sie würde auf ihn aufpassen und ihn beschützen, und sie schilderte die Geschichte, mit der sie dem Jungen Angst gemacht hatte, der Pelle geschlagen hatte. Leopold hieß er und würde Pelle jetzt in Ruhe lassen. Mami musste den Brief dem Jugendamt zeigen. Sicher wusste dort niemand, was hier geschah. Als Karin daran dachte, wie scheinheilig freundlich die Schwester Oberin sie aufgenommen hatte, war sie sicher: Das war Theater für Dorothea Meister gewesen.
Am selben Tag erschien das Wiesel. »Wie ich sehe, hast du deine Lektion gelernt. Es ist also nicht alles verloren.«
Karin durfte den Karzer verlassen. Der Brief steckte in ihrer Schürzentasche. Die Nonnen hatten gestattet, dass sie
ihn schrieb. Daher fasste sie sich ein Herz und fragte nach einem Kuvert und einer Marke.
»Schwester Agnes ist für die Post der Zöglinge zuständig. Einmal im Monat dürft ihr schreiben.«
Ein Mal nur! »Und Besuch?«
»Einmal im Monat.«
»Das ist …« Karin biss sich gerade noch auf die Lippe. Das ist ja wie im Gefängnis, hatte sie sagen wollen.
»Das ist …?« Aus schmalen Augen sah das Wiesel sie an.
»Schön. Es ist schön, dass ich Mami schreiben kann.«
»Gib mir den Brief.« Fordernd streckte die Nonne die Hand aus. Karin wurde es ganz übel. Wenn sie ihn las, würde sie Schläge beziehen. »Ich kann ihn selbst zu Schwester Agnes ins Büro bringen. Dann sparen Sie sich den Weg.«
Ein dünnes Lächeln erschien. »Wie rücksichtsvoll. Also gut.«
Karin durfte duschen und danach mit den anderen zum Frühstück in den Speisesaal. Doch zuerst ging sie ins Büro und bat Schwester Agnes um ein Kuvert. Sie bekam es, steckte den Brief hinein, klebte den Umschlag zu und adressierte ihn an ihre Mutter. Schwester Agnes nickte ihr zu. »Am Montag fahre ich zum Postamt. Deine Mutter wird ihn bald bekommen.«
***
Karin rechnete frühestens Ende der kommenden Woche mit einer Antwort. Wahrscheinlicher war es, dass Mamis Brief zu Beginn der folgenden eintreffen würde. Sie konnte es kaum erwarten und hoffte insgeheim, dass es kein Brief war, sondern ihre Mutter höchstpersönlich. Sie erkundigte sich nach den Besuchszeiten. Doch es gab keinen festen
Tag dafür. Die Eltern durften einmal pro Monat an einem Wochenende kommen. An welchem, entschieden allein sie. Und auch die Kinder. Wer sich danebenbenahm oder im Karzer saß, durfte keinen Besuch erhalten. Die Eltern wurden in diesen Fällen unverrichteter Dinge wieder nach Hause geschickt. Das erfuhr Karin von Edith und riss sich ab diesem Tag zusammen. Sie wurde fügsamer und bemühte sich zu tun, was man ihr auftrug. Ohne Widerworte. Doch sie lernte täglich dazu, wofür man bestraft werden konnte, und fing sich regelmäßig Schläge ein. Bestraft wurde man für alles und nichts. Ein zu lautes Wort. Ein Blick in den Spiegel. Lachen. Flüstern. Ein Lied summen. Weinen. Bummeln bei der Arbeit. Ein Fleck auf der Schürze. Ein schlampig gemachtes Bett. Schmutzige Fingernägel. Sündige Gedanken, die man beichtete. Der Pfarrer verriet sie den Nonnen. Also beichtete man sie besser nicht. Zu wenig Inbrunst beim Gebet. Für all das und noch viel mehr wurde man geschlagen, getreten, geknufft. Mit Besenstielen, Schlüsselbunden, Linealen malträtiert. Mit Tritten, Kopfnüssen und Ohrfeigen. Schlimmer war es, wenn man stundenlang auf Holzscheiten knien oder auf den ausgestreckten Armen einen Stapel Bibeln halten musste. Ließ man die Arme sinken, bekam man Schläge. Oft genügte ein frecher Blick oder sich das Haar zu richten, was als Eitelkeit ausgelegt wurde. Eitelkeit war eine Sünde. Ebenso wie Hochmut oder Übermut. Wie Stolz und Neid. Wie Zorn, Faulheit und Wollust. Wozu auch unkeusche Gedanken zählten, die die Nonnen offenbar bei ihren nächtlichen Rundgängen durch den Schlafsaal in den Köpfen der Mädchen lesen konnten. Sie schlugen zu, mit allem, was zur Hand war, und wenn nichts zur Hand war, dann mit Händen und Füßen. Man wusste nie, ob es gleich Schläge setzte oder einen
Knuff. Was man falsch gemacht hatte, wusste man ebenso oft nicht.
Zu Beginn der dritten Woche nach dem Karzer war Mamis Brief noch immer nicht eingetroffen. Es war schon Anfang Oktober. Weshalb schrieb sie nicht?
Eines Tages wurde Karin von Schwester Veronika aus der Wäscherei ins Büro geschickt. Sie sollte Schwester Agnes ausrichten, dass Bleiche und Waschpulver zur Neige gingen. Nachschub musste bestellt werden. Karin fasste die Gelegenheit beim Schopf, nahm ihren Mut zusammen und fragte Schwester Agnes, ob Post für sie und Pelle gekommen war.
Die Schwester saß mit einer Kanne Tee an ihrem Schreibtisch und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Aber es ist kein Brief für euch eingetroffen. Magst du eine Tasse Tee und etwas vom Gebäck?«
Verstohlen sah Karin sich um. Sie waren allein hier. Niemand sah, wenn sie das Angebot annahm. Außerdem konnte es ja nicht falsch sein.
»Ja, gerne«, sagte sie mit niedergeschlagenen Augen.
»Setz dich.« Die Nonne schenkte Tee für sie ein und legte drei Kekse mit einem Marmeladenklecks in der Mitte auf einen kleinen Teller aus weißem Porzellan. Zögernd griff Karin zu. Während sie das Gebäck aß, das unsagbar köstlich schmeckte, nach Butter und Vanille, und auf der Zunge zerging, erklärte ihr Schwester Agnes, dass es leider häufig passierte, dass Kinder vergeblich auf Briefe oder Besuche warteten. »Manche Eltern sind mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert. Denen sind sie eine Bürde, die wir ihnen abnehmen. Diese Eltern schreiben nicht. Sie besuchen ihre Kinder nicht. Sie sind froh, sie los zu sein. Sie …«
»Meine Mutter aber nicht«, fiel Karin ihr ins Wort. »Sie
hat sich immer gut um uns gekümmert. Sie wird uns schreiben und uns nach Hause holen.«
Ein nachsichtiges Lächeln erschien auf Schwester Agnes’ Gesicht. »Es ist so, dass ich eure Situation natürlich kenne. Sie ist in den Akten dokumentiert. Dein Vater ist gefallen. Deine Mutter ist überfordert. Sie muss eine Mutter sein, die mit liebevoller und strenger Hand gottesfürchtig ihre Kinder erzieht, den Haushalt ordentlich führt und obendrein die Familie ernährt. Das ist eine große Last. Ich verstehe – und es ist auch ganz natürlich –, dass eine verwitwete Frau den Wunsch nach einem neuen Partner hat. Ihre Ehe wurde durch Tod geschieden. Einer Wiedervermählung steht Gottes Segen nicht entgegen. Sehr häufig aber Kinder.« An dieser Stelle stockte Schwester Agnes und sah Karin an.
Natürlich stimmte es, dass Mami einen neuen Mann wollte. Deswegen ging sie ja so oft aus und besuchte Tanztees und den Tanzkurs.
»Die meisten Männer wünschen sich eine Frau ohne Kinder«, fuhr Schwester Agnes fort. »Sie möchten eigene mit ihr und nicht die eines anderen aufziehen. Auch das ist natürlich.«
»Es gibt aber keinen, der meiner Mutter den Hof macht«, entgegnete Karin trotzig. Doch das stimmte nicht! Der Schatten im Hausdurchgang. Dieser Walter.
»Kannst du dir da sicher sein?«, fragte Schwester Agnes.
Seit diesem Gespräch kaute Karin auf der Frage herum, wer Walter war. Ihre Mutter hatte ihn geküsst. Mehr als einmal. Im Durchgang zum Hinterhof. Warum versteckte sie ihn? Standen Pelle und sie dieser Beziehung im Weg? War es Mami gerade recht, dass man sie abgeholt und ins Heim gesteckt hatte? Immer lautetet Karins Antwort: Nein.
Aber weshalb reagierte Mami dann nicht auf ihren Brief?
Warum rückte sie nicht mit ihrem Anwalt an? Oder saß sie vielleicht doch in U-Haft? Hatte Dorothea Meister etwa nicht gelogen?
Die Unsicherheit nagte an ihr und machte sie an manchen Tagen ganz unruhig, an anderen ganz traurig. Nach vier Wochen war noch immer keine Nachricht ihrer Mutter da. Niedergeschlagen schrieb Karin den nächsten Brief und gab ihn bei Schwester Agnes ab, die ihr versprach, sie sofort zu benachrichtigen, wenn Post für sie kam. Gleichzeitig wies sie darauf hin, dass Karin sich vielleicht falsche Hoffnungen machte. Sie habe das schon so oft erlebt.
Schwester Agnes war freundlich, deshalb nahm Karin ihren Mut zusammen und fragte, ob in der Akte etwas über Mami stand. Ob sie im Gefängnis saß. »In den Unterlagen steht nichts dergleichen. Aber ich erkundige mich und sage dir Bescheid, sobald ich etwas weiß.«
Karin machte einen Knicks, wie das hier von ihr erwartet wurde. »Danke, Schwester Agnes.«
Die Nonne legte die Finger an die Lippen. »Ich tue das gerne für dich. Aber das bleibt unser kleines Geheimnis.«
***
Es gab in diesen ersten Wochen im Erziehungsheim auch einige Lichtblicke. Kleine Inseln von Geborgenheit und so etwas Ähnlichem wie Glück. Die eine war die sich anbahnende Freundschaft zu Edith, von der die Nonnen besser nichts erfuhren. Denn Freundschaften wurden nicht geduldet und mit allen Mittel unterbunden.
Eines Tages hängte Karin mit Edith alleine im hinteren Garten Wäsche auf, und sie fragte sie geradeheraus, weshalb sie in Sankt Marien war
.
»Ganz einfach: Meine Mutter will nichts von mir wissen. Ich bin ein Kind der Schande.« Edith zuckte mit den Schultern und nahm Wäscheklammern aus dem Stoffbeutel.
»Wie meinst du das?«, fragte Karin, während sie ein Laken aufhängte.
»Sie war erst sechzehn, als sie mich bekommen hat. Vater unbekannt. So steht es in meiner Geburtsurkunde. Doch Oma meint, dass es der hübsche Klempner aus dem Nachbardorf war. Verheiratet und Vater von drei Kindern. Du kannst dir ja vorstellen, wie sich alle das Maul zerrissen haben. Eine minderjährige ledige Mutter. Bei uns im Dorf hatte sie jedenfalls ihren Ruf weg. Deshalb hat sie sich eine Lehrstelle in München gesucht und mich bei ihrer Mutter gelassen.«
Es gab sie also wirklich, die Mütter, die nichts von ihren Kindern wissen wollten.
»Später hat sie dann geheiratet und ist mit ihrem Mann nach Frankfurt gezogen«, fuhr Edith fort. »Ich bin bei meiner Oma aufgewachsen und habe selten was von ihr gehört. Gesehen habe ich sie nie. Erst bei Omas Beerdigung. Da hat meine Mutter mir erklärt, dass sie mich nicht zu sich nehmen kann. Ihr Mann und ihre Kinder wissen nichts von mir, und so bin ich in Sankt Marien gelandet. Herzallerliebst. Nicht?«
»Das ist schrecklich«, sagte Karin.
»Sobald ich hier raus bin, fahre ich nach Frankfurt und klingle an einem Abend an ihrer Wohnungstür, wenn alle daheim sind. Mann und Kinder, die ganze Bagage, und dann erkläre ich denen, wer ich bin und dass sie keine Ahnung haben, wer die Frau ist, die sie Mama oder Schatz nennen. Ein falsches Luder.«
»Wann kommst du raus?«, fragte Karin
.
Edith griff nach dem nächsten Wäschestück. »Das dauert noch. Raus kommst man hier auf zwei Arten. Entweder man läuft weg. Wobei die meisten aufgegriffen und zurückgebracht werden. Unsere Kleidung verrät uns. Und dann gnade dir Gott. Oder du hältst durch bis zu deinem einundzwanzigsten Geburtstag. Dann bist du volljährig. Ab diesem Tag sind die Nonnen nicht mehr für dich zuständig, und du darfst gehen.«
Karin erschrak. »Das wären bei mir ja noch fünf Jahre! Aber meine Mutter holt uns sicher bald nach Hause.«
»Mich holt niemand raus. Ich haue vorher ab«, erklärte Edith.
»Wie willst du das machen?«
»Wie Waltraud. Ich werde krank. Breche mir das Bein oder den Arm, oder ich trinke was von der Bleiche. Dann fahren sie mit mir ins Krankenhaus nach Wasserburg. Dort können sie mich nicht bewachen, und ich mache mich aus dem Staub.«
»Du könntest dich im Lieferwagen verstecken, der die Wäsche bringt und holt.«
»Geht nicht. Der wird am Tor kontrolliert.«
»Weißt du eigentlich, was mit Waltraud ist?« Das Mädchen, das an ihrem ersten Tag im Heim mit Fieber im Bett gelegen hatte, war nicht wiedergekommen.
»Das werden sie uns nicht verraten. Vor allem dann nicht, wenn sie fortgelaufen ist. Manchmal dürfen Kinder allerdings zurück zu ihren Eltern, oder sie werden adoptiert. Das sagen sie uns aber nicht. Wir sollen ja verunsichert werden.«
Der zweite Lichtblick in diesen ersten Wochen in Sankt Marien war der Kirchenchor. Er probte jeden Sonntag, und Edith überredete Karin mitzumachen, obwohl sie sagte,
dass sie nicht singen konnte. »Jeder kann singen«, erklärte Edith. »Du auch.«
Sonntags hatten sie nach dem Gottesdienst bis achtzehn Uhr Freizeit. Unterbrochen wurde sie nur vom Mittagessen um zwölf im Speisesaal. Die Mädchen konnten lesen, wobei es nur religiöse Bücher und Zeitschriften im Heim gab, Handarbeiten machen oder im Chor singen. Auch Spaziergänge im Garten waren erlaubt. Hinter dem Schulhaus gab es einen kleinen Sportplatz. Dort spielten die Buben sonntags meist Fußball.
Neben den sechs Erziehern gab es fünf weitere Männer im Heim. Den Pfarrer, der jeden Morgen zum Gottesdienst aus dem Dorf kam, samstags die Beichte abnahm und seinen Mesmer mitbrachte, Bruno Burczek. Er war Gertrauds Onkel. Dann gab es noch Claus Sowada, den Hausmeister, der über der Werkstatt wohnte. Er reparierte alles und war auch fürs Tor zuständig. Er ließ Besucher und Lieferanten ein und aus und passte auf, dass keines der Kinder auf diesem Weg verschwand. Ein großer, hagerer Kerl, der sich beinahe ebenso lautlos bewegte wie das Wiesel und kaum ein Wort redete. Der vierte war Dr. Herchenbach, der für das Heim zuständige Arzt. Er hatte seine Praxis im Dorf und wurde gerufen, wenn eines der Kinder richtig krank war. Also nicht wegen Husten, Schnupfen oder Fieber. Der fünfte war Herr Frieß, der Lehrer, der auch den Kirchenchor leitete und die Wohnung im Schulhaus für sich hatte.
Die Erzieher wiederum wohnten im Jungenhaus. Sie wiesen die Buben bei der Arbeit auf den Feldern an und in der Gärtnerei und Sattlerei. Und sie prügelten sie, genauso wie die Nonnen es bei den Mädchen taten.
An jenem Sonntagvormittag, als Edith Karin überredete, beim Chor mitzumachen, saßen sie nach dem Gottesdienst
und dem Frühstück beim Brunnen neben der Kirche und ließen sich die Oktobersonne ins Gesicht scheinen. Dabei erklärte Edith Karin, dass keiner dieser sogenannten Erzieher eine pädagogische Ausbildung hatte. »Das sind alles gescheiterte Existenzen.« Sie begann aufzuzählen, was sie in ihren vier Jahren in Sankt Marien herausgefunden hatte. Da war erstens Walter Weber, der Hausvater im Jungenhaus. »Der hat einen Schlag weg, vom Krieg. Manchmal rennt er nachts schreiend über den Hof, als wäre der Teufel leibhaftig hinter ihm her. Erst ein Guss mit kaltem Wasser bringt ihn zurück in die Wirklichkeit. Vor dem musst du dich in Acht nehmen.«
»Wieso?« Mit Weber hatte sie nichts zu tun.
Ediths Blick wich aus. »So halt. Er ist …« Sie blickte zu Boden und fuhr dann mit ihrer Aufzählung fort. Neben Weber gab es noch einen aus dem Sudentenland vertriebenen Bauern, der nicht nur den Hof, sondern auch seine Familie und die Heimat verloren hatte. Seinen Zorn darüber bekamen die Buben zu spüren. Dann gab es einen Gärtner, der während des Kriegs U-Boot-Fahrer gewesen war und Enge nicht mehr ertrug. Der Vierte war ein Gelegenheitsarbeiter aus München, der zu viel trank. Der Fünfte einer, der erst acht Jahre nach Kriegsende aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt war. Zu seiner Frau. Doch die hatte ihn zwischenzeitlich für tot erklären lassen und einen anderen geheiratet. »Die haben alle einen Hau weg und den Bauch voller Wut, die sie an uns auslassen«, erklärte Edith. »Nur der Herr Frieß ist nett. Eigentlich wollte er nach dem Krieg Musik studieren. Daraus wurde nichts. Jetzt leitet er den Chor. Eigentlich dürfen wir nur Kirchenlieder singen. Aber wenn wir gut waren, macht er eine Ausnahme. Dann singen wir Schlager. Kennst du Margot Eskens? ›Tiritomba‹? Das pr
oben wir zurzeit. Heimlich. Die Schwester Oberin darf das nicht mitkriegen.«
»Ich mag Rock ’n’ Roll«, sagte Karin. »Bill Hayley. Elvis Presley. ›Heartbreak Hotel‹. Kennst du das?«
Edith schüttelte den Kopf. Sie liebte die deutschen Schlagerstars. Vico Torriani. Caterina Valente. Ralf Bendix. Und eben Margot Eskens. »Mach doch beim Chor mit, Karin. Du wirst sehen, das macht Spaß.« Sie stand vom Brunnenrand auf, breitete die Arme aus und sang drauflos. »Tiritomba, tiritomba. Immer möchte ich in deine Augen sehen. Tiritomba.« Edith wirbelte um die eigene Achse. Schwester Agnes sah es im Vorübergehen und schüttelte den Kopf. Es war Sonntag und lautes Singen offenbar eine lässliche Sünde. Instinktiv hatte Karin schon den Kopf ein- und die Schultern hochgezogen und sah ihr nun verwundert nach. »Schwester Agnes ist anders. Sie ist nett.«
Edith ließ die Arme fallen. »Das täuscht. Wenn sie will, kann sie ein echtes Biest sein. Auch gemein, aber anders. Kommst du nun mit zum Chor? Es geht in zwanzig Minuten los.«
»Ja, gut. Dürfen auch Jungen mitmachen?«
»Na klar.«
»Prima, ich hole meinen Bruder.«
Und das war der dritte Lichtblick in den ersten Wochen im Erziehungsheim. Jeden Sonntag traf sie sich mit Pelle bei den Proben des Kirchenchors. Er hatte eine schöne Stimme, und das Singen war für ihn ein kleiner Ausgleich fürs verlorene Klavierspiel.
**
*
Der Oktober schritt voran. Eine Nachricht ihrer Mutter blieb aus, und Karin fragte nicht mehr bei jeder sich bietenden Gelegenheit, ob Post für sie und Pelle gekommen war. Während sie sich jeden Tag ein wenig mehr in den Heimalltag einfügte, gelang das Pelle nicht. Er wurde schikaniert. Von den anderen Jungs, vor allem aber von seinem Hausvater. Walter Weber. Dem Mann mit den Gummistiefeln und dem Stock, der Karin am Tag ihrer Ankunft schon aufgefallen war. Dem Mann, von dem Edith gesagt hatte, er hätte vom Krieg einen Schlag weg. Er duldete keine Schwäche und hetzte gelegentlich seinen Schäferhund, der bei der Feldarbeit aufpasste, dass sich keines der Kinder aus dem Staub machte, auf einen der Jungen. Dann blieb er knurrend vor dem Kind stehen, bis Weber ihm das Kommando »Aus« gab. Was Stunden dauern konnte. Weber war jede Form von Weichheit und Schwäche zuwider. Und Pelle war schwach. Zu klein, zu schmächtig. Zu wenig Muskeln. »Zu viel Grips«, wie Weber immer wieder anmerkte. »Du hältst dich für schlau. Für etwas Besseres. Dabei bist du nur ein kleiner Hosenscheißer.« Außerdem war Pelle zu weich. »Weinerlich« nannte Weber das.
Jeden Sonntag im Chor fragte Pelle nach Mami. Auch er hatte keine Antworten auf seine Briefe erhalten. Karin erklärte ihm, dass Schwester Agnes sich erkundigte, ob ihre Mutter in U-Haft saß. Wenn das stimmte, lagen ihre Briefe im Briefkasten in der Nibelungenstraße, und Mami würde sie erst finden, wenn sie nach Hause kam. Dann hatte ihr Schweigen nichts mit Walter zu tun. Dann würde sie eines Tages hier auftauchen und alles würde sich aufklären.
Das Singen entpuppte sich für Karin als Vergnügen. Obwohl sie fast nur Kirchenlieder sangen. »Du hast eine schöne Altstimme«, sagte Herr Frieß. »Genau wie dein Bruder.
Ihr seid eine wunderbare Ergänzung des Chors.« Endlich mal ein Lob, ein nettes Wort. Es tat so gut.
Beim Singen fühlte sie sich leicht und frei. Es war wie eine innere Reinigung. Der Gesang schwemmte den Ballast der Woche fort und gab der Hoffnung Raum. Mami würde kommen. Sie konnte das im Moment nur nicht.
Doch diese Hoffnung machte Schwester Agnes eines Tages zunichte. Sie hatte sich erkundigt und ließ Karin an einem Vormittag Anfang November aus der Wäscherei zu sich ins Büro kommen. Wieder bot sie ihr eine Tasse Tee und Gebäck an, bevor sie die Hände aneinanderlegte und erklärte, dass ihre Mutter nicht in Untersuchungshaft saß und auch nie dort gewesen war. »Euer Vormund hat mir geschrieben, dass das Ermittlungsverfahren eingestellt wurde.« Sie griff nach Krohnens Brief. Und las ihn vor. »Die Geschichte, ihre Mutter wäre in Untersuchungshaft, war eine kleine List, zu der Frau Meister vom Jugendamt in Abstimmung mit mir gegriffen hat, um die Kinder Allenstein widerstandslos nach Sankt Marien bringen zu können.« Schwester Agnes ließ den Brief sinken. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass du dir anderes erhofft hast.«
Karins Gedanken überschlugen sich. Mami hatte wegen der Ermittlungen der Polizei einen Aufstand sondergleichen gemacht und von einem drohenden Prozess gesprochen. Und dann verstand Karin, was Krohnens Worte bedeuteten. Mami war zu Hause. Sie hatte die Briefe bekommen. Und sie hatte nicht darauf reagiert. Karin konnte die Tränen nicht zurückhalten. Wie sollte sie das Pelle erklären?
Schwester Agnes stand auf, legte eine Hand auf ihre Schulter und strich ihr mit der anderen übers Haar. Es war eine liebevolle Geste, wohltuend und doch auch schmerzlich. Weil es nicht ihre Mutter war, die ihr Trost spendete. Doch sie
sollte es sein. Es war alles falsch und verdreht. Karin machte sich los und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Es tut mir so leid«, sagte Schwester Agnes. »Aber der Herr wird euch beiden die Kraft geben, diese Krise durchzustehen. Vertraut auf ihn. Besinnt euch auf Gott, und es wird euch hier gut ergehen. Und jetzt: An die Arbeit.«
An diesem Nachmittag trug Karin einen Korb nasser Wäsche zur Wiese hinter der Gärtnerei. Dort waren zusätzliche Leinen zwischen den Obstbäumen gespannt. Denn im Spätherbst und Winter brauchte sie länger zum Trocknen, und sie wichen auf die Dachböden und den Obstgarten aus. Während sie mit klammen Fingern Laken für Laken aufhängte, spähte sie ins Glashaus. Schließlich entdeckte sie Pelle und er auch sie, und zwei Minuten später schlich er sich zu ihr heraus. Sie zog ihn an sich. »Hallo Pelle.«
Er machte sich los. »Ich bin kein Baby.«
In den letzten Wochen hatte er sich verändert. Er war härter geworden und zeigte Leopold, der ihn anfangs schikaniert hatte, dass er sich nichts mehr gefallen ließ. Er schlug zurück, und seither genoss er den Respekt des Jungen. Karin sah die beiden im Speisesaal immer häufiger nebeneinandersitzen. Eine Freundschaft schien sich anzubahnen, und das freute sie für ihren Bruder …
Trotzdem gefiel ihr seine Veränderung nicht wirklich. Pelle war kein Schläger. Allerdings würde er die Zeit hier nur durchstehen, wenn er sich Respekt verschaffte. Er war erst zwölf. Noch neun Jahre, bis er volljährig wurde. Was sollte aus ihm werden, wenn Mami sie nicht nach Hause holte? Ohne Abitur. Ohne Klavierunterricht. In Sankt Marien wurde ihm alle Aussicht aufs Konservatorium genommen. Sie zerstörten seine Zukunft. Und auch meine, dachte Karin. Meine auch
!
»Hast du was von Mami gehört?«, fragte Pelle, und sie brachte es nicht übers Herz, ihm die Wahrheit zu sagen, und schüttelte nur den Kopf.
»Aber sie weiß, wo wir sind?« Bei dieser Frage griff er nach der Kette, und Karin wunderte sich, dass er sie noch hatte. Die Mädchen durften keinen Schmuck tragen. Doch dann verstand sie es. Es war ein geweihtes Marien-Medaillon aus Lourdes. Das duldeten die Nonnen.
»Natürlich. Wir müssen geduldig sein.« Sie wollte ihm durch die Haare wuscheln, doch er wehrte sie ab. »Ich bin kein Baby. Bei uns im Haus gibt es im Keller einen Verschlag. Dort können wir uns treffen.« Ein verschmitztes Lächeln erschien. »Ich habe dort einen kleinen Vorrat Essen versteckt.«
»Woher hast du das?«
»Aus der Vorratskammer.«
»Das geht nicht. Wenn sie dich erwischen!«
»Ist mir doch egal. Die Erzieher und die Nonnen schlagen sich die Bäuche voll, und uns setzen sie Dreck vor. Das kann der Herr nicht wollen. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. So steht es in der Bibel.« Er blickte gen Himmel, und Karin wurde klar, wie sehr Pelle sich in diesen wenigen Wochen verändert hatte. Er wurde bitter und sarkastisch und viel zu schnell erwachsen.
»Wie komme ich hinein?«
»An der Südseite gibt es vier Kellerfenster. Das ganz links hat kein Gitter. Ich kann es von innen für dich aufmachen.«
»Sie lassen uns doch nicht aus den Augen.«
»Sonntags schon. Und auch in der Stunde nach dem Abendbrot, bis es Zeit ist, zu Bett zu gehen.«
Pelle hatte recht. Das konnte klappen. Abends saßen die Mädchen entweder auf ihren Betten und lasen und
unterhielten sich, oder sie gingen in den Gemeinschaftsraum, um zu stricken oder zu häkeln, oder schnappten im Garten frische Luft. In dieser Zeit gab es kaum Aufsicht.
Karin gelang es am selben Abend, unbemerkt in der Dunkelheit zum Jungenhaus zu kommen. Sie stieg in den Fensterschacht. Pelle erwartete sie bereits und half ihr hinein. Mit einer Taschenlampe wies er ihr den Weg, und sie fragte nicht, wem er die geklaut hatte. Der Kellerraum war kalt und feucht. Die Wände waren aus unverputzten Ziegeln gemauert. Das Licht der Lampe huschte über eine Reihe eiserner Haken, die auf Schulterhöhe in eine Wand einbetoniert waren.
Pelle führte sie über einen Gang zu einer Holztür. Ein Vorhängeschloss hing daran. Aus einem Mauerspalt zog er den Schlüssel hervor, grinste sie an und nahm das Schloss ab.
Der Verschlag war fensterlos. Pelle hatte ihn mit Obstkisten, einer Decke und einem Einweckglas ausgestattet, in dem eine dicke Kirchenkerze stand. Er zündete sie an und machte die Taschenlampe aus. »Batterien sparen.«
Er klaut hier wie ein Rabe, dachte Karin. Sogar in der Kirche. Ihr kleiner Bruder hatte es tatsächlich faustdick hinter den Ohren. Das wurde ihr jetzt erst klar. Während er im Sommer noch Fix-&-Foxi-Hefte von ihr erpresst hatte, organisierte er jetzt allerlei, das das Leben erträglicher machte. Mit einem Taschenmesser öffnete er eine Dose Leberwurst und ein Einmachglas mit eingelegten Essiggurken. »Jetzt gibt’s Abendbrot«, sagte er. »Magst du das Tischgebet sprechen, Karin?« Dabei ahmte er die Stimme der Oberin nach, und Karin prustete los vor Lachen.
Von diesem Abend an trafen sie sich regelmäßig und aßen sich satt, obwohl Karin Angst hatte, dass man Pelle irgendwann erwischen würde
.
Während sie überlegte, wie sie hier abhauen konnten, baute Pelle darauf, dass ihre Mutter sie abholen würde, sobald sie wieder zu Hause war. Sie brachte es nicht über sich, ihm die Wahrheit zu sagen. Dass es keinen Prozess gab und Mami sich einen Dreck um sie scherte. Dass ihr Walter wichtiger war als ihre Kinder. Wohin sollten sie gehen, wenn sie davonliefen? Etwa nach Hause? Würde es ihnen dann so ergehen wie Edith, deren Mutter sie verleugnete? Würde Mami Krohnen rufen und der sie postwendend zurückbringen?
Die Frage, ob ihre Mutter ein Leben mit Walter plante und von ihnen nichts mehr wissen wollte, arbeitete in Karin. Anfangs hatte sie das kategorisch ausgeschlossen. Doch mit jedem weiteren Tag ohne Nachricht ihrer Mutter erodierte diese Gewissheit ein wenig mehr.
Sie versuchte sich mit Arbeit abzulenken und packte richtig mit an. So gut, dass Schwester Veronika sie eines Tages sogar lobte, was ihr den Knuff eines Mädchens einbrachte, begleitet von dem Kommentar, sie wäre eine Schleimerin.
Nachts schlief sie immer schlecht. Eine permanente Unruhe im Schlafsaal sorgte dafür. Die Aufsicht führende Nonne, die immer wieder ihre Runden drehte und ab und zu eine Bettdecke hochriss, um nachzusehen, wo die Mädchen ihre Hände hatten. Damit nur ja keine etwas Unkeusches tat. Damit keine sich selbst berührte. Manchmal wurde nachts eine von ihnen abgeholt. Dann hörte Karin den leisen Befehl: »Komm mit!« Auch Edith gehörte zu diesen Mädchen. Als Karin sie darauf ansprach, wurde sie abgewiesen. »Lass mich in Ruhe. Du träumst wohl schlecht.«
Der Oktober ging in den November über. Das Wetter wurde trist und grau. Die Adventszeit nahte und mit ihr ein
Höhepunkt des Jahres. Der alljährliche Besuch des Weihnachtsmarkts in Wasserburg. In den Tagen davor versuchten alle, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Denn nicht jeder durfte mit. Diesen Ausflug musste man sich mit Gehorsam, Fleiß und Demut verdienen.
***
Es war der letzte Sonntag im November, als sich eine ausgewählte Gruppe von älteren Mädchen in Begleitung von Pelles Hausvater Herrn Weber, Herrn Frieß und einigen Nonnen auf den Weg nach Wasserburg machten. Die Jüngeren waren am kommenden Wochenende an der Reihe und die Buben in der Woche darauf.
Nach dem Gottesdienst zogen sich Karin und Edith die Mäntel aus grobem Wollstoff über und setzten die selbst gestrickten Mützen auf. Sie gehörten zu den Glücklichen, die mitfahren durften. Aufgeregt stiegen sie in den Bus. Ein junger Mann chauffierte ihn, und er drehte das Radio auf. Statt Kirchenmusik Rock ’n’ Roll. »See you later, alligator!« Karins Herz machte einen Satz, ihr Fuß wippte automatisch im Takt mit, während das Wiesel den Fahrer anherrschte, er solle die Musik ausmachen. Grinsend hob er die Hände an die Ohren und tat so, als ob er nichts verstünde, bis das Wiesel aufstand und das Radio abdrehte. »Genug von dieser Hottentottenmusik!« Schlagartig war es still im Bus.
Sie fuhren durch kleine Dörfer. Die Felder lagen brach. Der Himmel war so grau wie ihre Anstaltskleidung. Und ein tonnenschwerer Druck legte sich auf Karins Brust. Seit zehn Wochen hatte sie nur die Mauern des Erziehungsheims gesehen. Die immer gleichen Gebäude und Gesichter.
Den immer gleichen Tagesablauf. Sie sollte sich über diese Abwechslung freuen. Doch sie sah, was sie versäumte. Das Leben. Das Lernen. Das Abitur und damit die Chance auf eine Zukunft. Was sollte aus ihr werden? Eine Wäscherin? Und aus Pelle? Eine unbändige Wut stieg plötzlich in ihr auf. Nicht auf die Nonnen. Sondern auf ihre Mutter, die sie im Stich ließ. Und dann ebenso plötzlich der Gedanke: Und wenn es gar nicht stimmt! Wenn Schwester Agnes gelogen hat? Doch sie hatte ihr den Brief von Krohnen gezeigt. Er hatte die Lüge von der U-Haft eingeräumt. Mami war an dem Abend nach Hause gekommen und … Und sie hatte nichts unternommen.
Karins Gedanken drehten sich im Kreis, bis ihr Edith, die neben ihr saß, einen kleinen Rempler mit dem Ellbogen gab. »Ich haue heute ab«, flüsterte sie. »Kommst du mit?«
»Was? Du spinnst.«
»Das ist mein Ernst. Also was ist?«
Einen Moment war sie versucht. »Es geht nicht. Wegen Pelle … Ich kann ihn nicht alleinlassen.«
»Dann eben nicht.« Edith wandte sich ab.
»Es geht wirklich nicht. Wie willst du es machen?«
»Ich verschwinde und verstecke mich über Nacht in der Stadt. Wenn sie merken, dass ich weg bin, schicken sie als Allererstes jemanden zum Bahnhof, um mich abzufangen. Ich fahre aber erst morgen nach München und dann weiter nach Frankfurt. Mein Taschengeld habe ich seit Monaten gespart. Es reicht, und wenn nicht, dann fahre ich per Anhalter.«
»Ist das nicht gefährlich?«
»Nicht gefährlicher, als im Heim zu bleiben.«
Das Wiesel ging durch den Gang. »Wer redet da?« Karin und Edith verstummten und sahen zum Fenster hinaus
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Das Wetter war an diesem Tag kalt, und es nieselte. Der Fahrer lenkte den Bus auf einen Parkplatz nahe der Stadtmauer von Wasserburg. Die Mädchen stellten sich in Zweierreihen auf. Zwei Nonnen vorneweg, zwei hinterher, an jeder Seite eine und obendrein die beiden Erzieher. Wie ein Trupp Gefangener gingen sie durch die schmalen Gassen der mittelalterlichen Stadt. Vorbei an der Burg, einer Kapelle und dem Mauthaus, an schmalen hohen Häusern mit Geschäften. Die Leute wichen ihnen aus, als hätten sie Angst, sich anzustecken. Als wären wir Aussätzige, dachte Karin. Doch dann stieg ihr der Geruch von gebrannten Mandeln in die Nase, und eine unerwartete Welle von Glück erfasste sie. Wie es hier duftete. Nach Lebkuchen und Magenbrot. Nach gebratenen Äpfeln und Glühwein. Die Gasse weitete sich zu einem Platz. Es gab ein Karussell für die Kleinen. Ein Leierkastenspieler drehte voller Hingabe die Kurbel seiner Drehorgel. Weiter hinten entdeckte sie eine Krippe, und überall standen Marktbuden mit Weihnachtsschmuck, Krippenfiguren und Süßigkeiten. Mit Handschuhen, Mützen und Socken. An einer gab es Kletzenbrot und Zwetschgenmanderl.
Die Nonnen befahlen den Mädchen, sich in zwei Gruppen aufzustellen. Edith gab ihr ein Zeichen, sich der anderen anzuschließen. »Viel Glück!«, flüsterte Karin ihr noch zu. Dann wurden sie getrennt.
Sie gingen über den Markt, und Karin konnte sich nicht entschließen, etwas zu kaufen. Sie machte sich Sorgen wegen Edith. Hoffentlich wurde sie nicht erwischt. Irgendwann bemerkte sie Unruhe unter den Nonnen. Herr Weber verließ seine Gruppe und eilte über den Platz auf eine schmale Gasse zu, die bergab führte. Die Nonnen trieben die Mädchen wieder zu einer großen Gruppe zusammen.
Sie wurden gefragt, wer wüsste, wo Edith war. Alle blickten zu Boden. Auch Karin.
Die übliche Androhung von Strafe folgte. Wehe, eine von ihnen log. Dann würde sie das bereuen. »Karin!« Das Wiesel deutete auf sie. »Sag mir, wo sie ist.«
»Ich weiß es nicht.«
»Du hast im Bus neben ihr gesessen, und ihr steckt auch sonst die Köpfe ständig zusammen.«
»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Karin mit fester Stimme und sah dem Wiesel dabei in die Augen. Es war ja nicht gelogen. Sie wusste es wirklich nicht.
***
Der Ausflug war vorbei. Die Mädchen wurden von zwei Nonnen zum Bus gescheucht, wo sie bei geschlossenen Türen warteten, während die anderen in der Stadt nach Edith suchten und Herr Weber am Bahnhof auf sie wartete. Es wurde schon dämmrig, als sie unverrichteter Dinge zurück nach Warting fuhren. Sie hatten Edith nicht gefunden, entsprechend schlecht war die Laune der Nonnen, und Karin ahnte, dass sie ihr Mütchen an den Kindern kühlen würden.
Zurück im Heim, wurde Karin zur Schwester Oberin gerufen. Sie solle sagen, was sie über Ediths Verschwinden wisse. »Nichts«, entgegnete sie.
»Du lügst. Es steht dir ins Gesicht geschrieben.« Die Oberin griff nach dem Lineal. Karin duckte sich weg. Zu spät. Der Schlag traf sie auf die Wange. Es brannte wie Feuer.
»Du sagst mir jetzt, wo sie ist!«
Karin hielt sich die Backe und unterdrückte die Tränen. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Wo!« Zack. Der nächste Schlag. Auf die andere Wange
.
»Ich weiß es nicht!«, schrie Karin. »Und wenn Sie mich totschlagen. Ich habe keine Ahnung.«
»Der Herrgott sieht alles! Der Herrgott weiß alles.«
»Ja dann soll er es Ihnen halt sagen!« Es war ein Fehler. Karin wusste es, noch ehe die Worte aus ihrem Mund gekommen waren.
»Du wagst es, den Namen des Herrn zu missbrauchen. Na warte!« Ein Regen an Hieben prasselte auf sie nieder. Sie duckte sich, hob die Arme schützend über den Kopf. Doch das Lineal traf sie immer dort, wo ihre Arme gerade nicht waren.
»Schwester Barbara!«
Das Wiesel kam herein. »Holen Sie die Wahrheit aus diesem verstockten Mädchen heraus.«
Das Wiesel packte sie am Arm und zog sie über den Flur, die Treppe hinauf in den Waschraum. »Ausziehen!«
Verdattert starrte Karin die Nonne an. Wieso ausziehen? Wo Nacktheit in den Augen der Nonnen doch etwas Schreckliches war. Ehe Karin es sich versah, holte das Wiesel mit dem Schlüsselbund aus. Der Schlag traf sie auf den Hinterkopf. »Runter damit!«
Hastig entledigte sie sich ihres Kleides und der Wollstrümpfe, bis sie nur noch das Unterkleid und den Schlüpfer anhatte.
»Alles!«
Schließlich stand Karin nackt vor dem Wiesel und wusste nicht, wohin zuerst mit den Händen. Sie wollte ebenso ihre Scham wie ihre Brust bedecken. Und sie wollte auf keinen Fall weinen und biss die Zähne zusammen.
»Mein Gott, bist du hässlich.« Das Wiesel musterte sie von Kopf bis Fuß und wiederholte, wie hässlich sie war. »Du wirst nie einen Mann finden. Und jetzt unter die Dusche.
«
Karin verstand nicht, was los war. Geduscht wurde am Samstagnachmittag, nach der Arbeit und vor der Beichte. Und nicht splitterfasernackt, sondern in dünnen Hemden, die bis zu den Knien reichten. Sie stellte sich unter den Brausekopf. Das Wiesel drehte das Wasser auf. Eiskalt traf es sie. Instinktiv wich Karin dem Schauer aus. Doch die Nonne schubste sie wieder darunter. »Da bleibst du jetzt, bis du mir sagst, wo Edith ist.«
»Ich weiß es nicht.«
»Wie du willst.« Das Wiesel nahm den Schlauch vom Haken und blieb hinter ihr stehen. Das Wasser lief eiskalt an ihrem Körper hinab. Karin presste die Lippen aufeinander, entschlossen, nichts zu sagen. Die Kälte kroch in ihren Körper. Sie hatte nicht gewusst, wie weh das tun konnte. Ein ziehender Schmerz, der sich zuerst in Hände und Füße setzte und dann tief in ihr Innerstes vordrang. Sie begann zu zittern und zu bibbern. Aber sie blieb stehen und sagte kein Wort, während ihre Zähne aufeinanderschlugen. Egal wie oft das Wiesel fragte, wo Edith war, Karin blieb stumm. Es war ein Machtkampf, das war ihr bewusst, und sie würde siegen.
Sie schlang die Arme um ihren Körper, doch es half nicht. Das eisige Wasser rann ihr aus den Haaren über Gesicht und Brust und Rücken, an den Beinen hinab in den Abfluss. Karin zählte die Reihen weißer Kacheln an Wand und Boden wieder und wieder. Die Zeit veränderte ihren Takt. Auch sie fror ein. Sie blendete die Stimme des Wiesels aus, konzentrierte sich aufs Durchhalten. Doch dann veränderte sich etwas. Die Stimme der Nonne wurde schrill. Hysterisch. »Du verstocktes Biest. Na warte. Dir werde ich es zeigen.« Das Schlauchende erschien schwingend in Karins Blickfeld. Dann traf sie schon ein Schlag auf die Schulter.
Dann auf den Rücken. Auf den Po. Hieb um Hieb prasselte auf sie nieder. Schnaufend und schimpfend schlug das Wiesel zu. »Nichtsnutz! Abschaum! Gesindel!« Haut platzte auf. Blut spritzte an die Kacheln, rann hinab. Verschwand im Abfluss. Karin riss die Hände schützend über den Kopf. Plötzlich lag sie auf dem Boden. Wasser und Blut liefen ihr in Mund und Nase. Sie hustete und spuckte. Füße erschienen in ihrem Blickfeld. Noch eine Nonne. Es war Schwester Agnes. »Es ist genug, Schwester Barbara! Sie bringen sie ja noch um!«
Keuchend hörte das Wiesel auf, warf den Schlauch auf den Boden und verschwand.
»Grundgütiger«, sagte Schwester Agnes. »Komm, steh auf.« Sie half ihr auf die Beine und wickelte sie in ein Handtuch, das sich voll Blut und Wasser sog. Karin zitterte am ganzen Körper. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Sie konnte es nicht stoppen. Schwester Agnes führte sie in ihr Büro. Darin war es mollig warm. Im Kachelofen brannte ein Feuer. Gertraud brachte einen Becher heißen Tee, Verbandszeug und Karins Kleidung. Nach einer Weile kehrte die Wärme in ihren Körper zurück, und mit ihr kamen die Schmerzen. Das Wiesel hatte nichts ausgespart. Keine Stelle. Rote Striemen zogen sich über ihren Körper. Platzwunden an Rücken und Po. Behutsam tupfte Schwester Agnes das Blut ab, trug Salbe auf und reichte Karin schließlich die Kleidung. »Zieh dich an.«
»Danke.«
»Du musst mir nicht danken. Es ist meine christliche Pflicht.«
»Das Prügeln auch?«, fragte Karin, und es tat ihr gleich leid. »Ich meine nicht Sie. Ich meine … die anderen.«
»Kinder wie du brauchen eine strenge Hand. Man muss
euch alles beibringen. Disziplin und Wahrheitsliebe. Wir meinen es nur gut. Aber Schwester Barbara … Sie ist ein wenig über das Ziel hinausgeschossen. Geht’s wieder?«
Karin nickte. Ihr tat zwar alles weh, aber die Wärme tat ebenso gut wie die mitfühlenden Worte.
»Warum hast du nicht einfach gesagt, was du weißt? Dann hättest du dir das erspart.«
»Ich weiß aber wirklich nicht, wo Edith ist. Das ist die Wahrheit.« Schwester Agnes fuhr ihr durchs Haar. »Ja, wenn das so ist … Morgen, spätestens übermorgen wird sie ohnehin wieder da sein. Schlaf dich aus.«
Karin wurde ohne Abendbrot zu Bett geschickt. Sie tat in dieser Nacht kein Auge zu. Egal wie sie sich drehte, alles schmerzte.
Der Montag begann wie jeder Arbeitstag. Gottesdienst. Frühstück. Und dann ab in die Wäscherei. Der Platz neben Karin blieb leer, und innerlich jubelte sie. Edith war die Flucht gelungen. Doch ihr selbst tat jede Bewegung und jeder Handgriff weh. Überall war sie grün und blau, und die Wunden würden Tage brauchen, um zu verheilen.
Kurz vor dem Mittagsläuten kamen die beiden Männer mit dem Lieferwagen. Sie brachten schmutzige Wäsche und nahmen die frische mit. Kaum waren sie weg, fuhr ein grauer Opel vor. Ein Mann stieg aus und zog die sich sträubende Edith vom Beifahrersitz. Es gelang ihr, sich loszureißen. Doch sie kam nicht weit. Weber, der gerade mit einem Trupp seiner Jungs vom Feld kam, wo sie Steine geklaubt hatten, fing sie ein und brachte sie ins Haupthaus.
Von Gertraud erfuhr Karin, dass Edith im Karzer saß. Erst am Montag der Folgewoche erschien sie zum Frühstück, und Karin erschrak. Nicht nur wegen des blutunterlaufenen Auges oder weil sie so blass und dünn geworden
war, sondern wegen der Glatze. Die Nonnen hatten ihr die Locken vom Kopf geschoren. Die Oberin stand auf. »Seht sie euch an, die Edith. Dieses schreckliche Mädchen. So ergeht es allen, die weglaufen. Lasst es euch eine Warnung sein!«