Imk e
Am nächsten Morgen entschloss Imke sich, nach Kolbermoor zu fahren und Gertraud Burczek im Seniorenheim einen Überraschungsbesuch abzustatten. Das Telefonat mit ihr am Vortag war alles andere als einfach gewesen. Zum einen hörte die Frau schwer, zum anderen hatte sie Bedenken geäußert, sich mit Imke zu treffen und über die Vergangenheit zu reden. »Es ist alles so lange her. Damals war das eben so.«
»Sie haben meine Mutter gekannt«, hatte Imke entgegnet. »Sicher könnte ich sie besser verstehen, wenn ich wüsste, wie es ihr in Sankt Marien ergangen ist. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten.«
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen weiterhelfen kann.«
»Bitte überlegen Sie es sich.«
»Ich melde mich«, hatte Gertraud gesagt und aufgelegt. Ohne zu fragen, wie sie Imke erreichen konnte.
»Einen Versuch ist es wert«, erklärte Imke nun ihrem Spiegelbild und nahm die Wagenschlüssel und den Shopper von der Flurkommode. Darin steckte ein Fotoalbum mit Bildern von Mama als junger Frau. Damit konnte sie Gertrauds Gedächtnis auffrischen, falls sie sich nicht an Karin erinnerte.
Der Verkehr war dicht. Über den Mittleren Ring fuhr Imke auf die A 8 Richtung Rosenheim. Kurz vor eins erreichte sie Kolbermoor und entdeckte einen Blumenladen. Spontan hielt sie und kaufte einen hübschen Sommerstrauß. Vor dem Heim rangierte sie den Wagen auf einen Stellplatz für Besucher und betrat den modernen funktionalen Bau durch den Haupteingang.
An der Pforte saß ein junger Mann. Sie fragte nach Gertraud und erfuhr, dass Frau Burczek im Garten saß. »Hinten beim Goldregen. Werden Sie erwartet?«
»Ich war grad in der Gegend«, antwortete Imke und hob die Blumen. »Eine kleine Überraschung.«
»Ja dann … Sie wird sich bestimmt freuen. Frau Burczek bekommt selten Besuch.« Er erklärte ihr den Weg.
Imke durchquerte das Foyer und ging über eine Terrasse in die Grünanlage. Zwei Männer spielten Schach. Eine Frau strickte. Eine las Zeitung, und ein paar andere versuchten gemeinsam ein Kreuzworträtsel zu lösen, wobei es hoch herging.
Weiter hinten saß eine Frau an einem Kunststofftisch unter einem gelb blühenden Strauch. Ein Rollator stand neben ihr. Das musste Gertraud sein. Imke näherte sich und bemerkte, wie die Frau die Brille am Nasenrücken weiter nach oben schob und sie musterte.
»Frau Burczek?«
»Ja?« Es kam zögernd.
»Ich bin …«
»Ich kann mir schon denken, wer Sie sind. Karins Tochter. Sie sehen ihr verblüffend ähnlich.«
»Ja, das sagt man mir oft. Grüß Sie, Frau Burczek. «
»Nennen Sie mich Gertraud. So wie Ihre Mutter früher. Die Kinder haben mich alle so genannt.«
Gertraud war eine mollige Frau mit kastanienbraun gefärbtem Haar und einem freundlichen Blick. Sie war also nicht so harsch, wie sie tat, vermutete Imke. Gertraud trug eine geblümte Bluse, eine dunkle Jerseyhose und eine Brille mit Metallgestell. Die Gläser waren ein wenig verschmiert, die Augen dahinter musterten sie interessiert.
»Gerne. Ich bin Imke.«
»Sind die Blumen als Bestechungsgeld für mich gedacht?«
Imke fühlte sich ertappt. »Eher als Türöffner«, entgegnete sie mit einem Lächeln.
»Dann stellen Sie die mal ins Wasser, während ich überlege, ob ich mit Ihnen sprechen will. Sie platzen hier einfach rein und überrumpeln mich. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass diese Taktik aufgeht.«
Imke ging ins Haus und suchte nach einer Vase. Als sie in den Garten zurückkehrte, lächelte Gertraud sie an. »Das ist ein hübscher Strauß. Danke dafür.«
Ein gutes Zeichen, fand Imke und stellte die Blumen auf den Tisch. Den Shopper mit Mamas Fotoalbum stellte sie ins Gras und setzte sich zu Gertraud.
»Es freut mich, dass er Ihnen gefällt.«
»Und vor allem, dass er als Türöffner funktioniert. Wo Sie schon mal da sind, können wir auch reden.«
»Es ist nett, dass Sie sich die Zeit nehmen.«
»Ach, Zeit habe ich mehr als genug. Dass Sie mich gesucht haben …« Gertraud schüttelte den Kopf. »Ich bekomme selten Besuch, wissen Sie. Ich habe keine Kinder, und die Kinder aus dem Heim …« Sie machte eine vage Handbewegung. »Die besuchen mich natürlich nicht. Für sie war das eine schlimme Zeit.« Ein Seufzer folgte. »Mach en Sie es nicht wie ich. Ich war mir zu gut für den einen Mann, der mich haben wollte. Jetzt sitze ich allein hier. Er war übrigens Lehrer in Sankt Marien. Vielleicht hat Ihre Mutter von ihm erzählt. Sie hat bei ihm im Chor gesungen. Joseph Frieß. Ein netter und freundlicher Mann. So musikalisch. Doch er war … Wie soll ich sagen? Er war ein wenig eigenbrötlerisch und so wie alle Männer damals. Eine Frau hatte zu kuschen. Ich wollte mich aber nicht unterordnen. Und der Preis dafür ist nun die Einsamkeit.«
»Vielleicht wäre der Preis höher gewesen, wenn Sie ihn geheiratet hätten.«
»Weil die seinerzeit alle so herrisch waren? Das stimmt schon. Aber der Joseph war anders. Er hätte mich nicht geschlagen.«
»Die Kinder aber schon?«
»Das war damals so. Niemand hat etwas dabei gefunden. Es war eine andere Zeit. Wobei Joseph sich zurückgehalten hat. Die anderen waren schlimmer. Vor allem die Nonnen. Mir haben die Kinder leidgetan. Ich habe ihnen geholfen, wo ich konnte. Auch Ihrer Mutter. Meine Güte, als sie in Sankt Marien ankam, wollte sie mit dem Kopf durch die Wand. Sie hat sich lange widersetzt, war ständig im Karzer und hat oft Prügel bezogen. Vor allem von Schwester Barbara. Karin war ein rotes Tuch für sie. Auf sie hat ›das Wiesel‹ wie ein gereizter Stier reagiert.«
»Das Wiesel?«
»So hat Ihre Mutter Schwester Barbara genannt. Ich habe mir Sorgen um Karin gemacht und dafür gesorgt, dass sie in mein Küchengeschwader kam. Das hat aber gedauert. Den Arbeitsplatz bei mir in der Küche mussten sich die Mädchen verdienen.«
»Wie lang war meine Mutter im Heim? «
Gertraud überlegte. Dafür, dass sie zuerst nicht reden wollte, war sie ziemlich redselig, stellte Imke erleichtert fest.
»Es müssen fünf oder sechs Jahre gewesen sein. Bis sie volljährig wurde. Sie hat lange gebraucht, um ihren Platz zu finden. Anfangs war sie verzweifelt, weil ihre Mutter nichts von ihr und Peter wissen wollte. Sie hatte wieder geheiratet und sich nicht mehr um ihre Kinder geschert. Nicht ein Brief. Nicht ein Besuch. In all den Jahren. Ein Vormund hat sich um die beiden gekümmert.«
Das war eine Neuigkeit! Über Omas zweite Ehe hatte Mama nie ein Wort verloren. Vieleicht gab es irgendwo weitere Verwandtschaft. Halbgeschwister von Mama. Deren Kinder und Enkel.
»Das wusste ich gar nicht«, sagte Imke.
»Nicht?«
»Meine Mutter spricht kaum über die Vergangenheit.«
»Die wenigsten reden darüber«, meinte Gertraud. »Wie kann ich Ihnen nun helfen?«
»Das tun Sie schon. Sie erzählen mir von meiner Mutter. Wie sie damals war. Mit dem Kopf durch die Wand. So kenne ich sie nicht. Nur still und zurückgezogen.« Und lieblos und depressiv, ergänzte Imke in Gedanken. Chaotisch und schwierig. Überfordert, Verantwortung zu tragen.
»Still wurde sie später. Anfangs war sie ein Sturschädel. Sie hat sich nichts gefallen lassen. Obendrein war sie mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit gesegnet. Ein nettes Mädchen. Freundlich, hilfsbereit und gut erzogen. Im Gegensatz zu einigen anderen Kindern, die aus schlimmen Verhältnissen kamen.« Mit diesen Worten begann Gertraud, ihr von Mama zu erzählen. Wie schwer sie sich getan hatte, in Sankt Marien anzukommen. Sich einzufügen und ihren Aufenthalt im Heim zu akzeptieren. Dass sie sich gleich zu Beginn mit einem Mädchen angefreundet hatte, das kurz darauf das Heim verlassen konnte. Danach hatte Karin sich niemandem mehr angeschlossen. »Freundschaften wurden nicht gerne gesehen. Die Nonnen haben sie verhindert oder einen Keil zwischen die Kinder getrieben. Sie haben befürchtet, dass sie sich zusammentun und einen Aufstand anzetteln. Das kam später.« Gertraud lachte leise auf. »Stellen Sie sich vor, eines Tages haben die Älteren ein Plakat mit Forderungen an die Tür der Schwester Oberin genagelt. Wie Luther seine Thesen an die Kirchentür in Wittenberg. Sie forderten besseres Essen, Bildung, Bezahlung für Arbeit und ein Kontrollgremium. Sie haben auch ein Transparent an die Mauer gehängt, und dann sind sie in einen Hungerstreik getreten.«
»Hat meine Mutter dabei mitgemacht?«
»Das war Anfang der Siebzigerjahre. Da war Ihre Mutter nicht mehr in Sankt Marien. Ab dem Tag ihrer Volljährigkeit musste sie alleine zurechtkommen. Die Barmherzigen Schwestern haben ihr angeboten, eine Ausbildung als Säuglingspflegerin in München zu machen. Sie betreiben dort eine Schule mit angeschlossenem Heim. Soweit ich weiß, hat Karin das Angebot angenommen.«
»Ja, das hat sie.« Imke zog das Album aus dem Shopper und zeigte Gertraud die Fotos aus jener Zeit.
»Sie war ein hübsches Mädchen«, sagte Gertraud. »Sie ist also Säuglingspflegerin geworden.«
Was hätte sie auch sonst werden können, dachte Imke. Mama hatte keine andere Wahl. Ohne Schulabschluss. Mit einundzwanzig hatten andere ihre Ausbildung längst hinter sich und standen im Berufsleben. Oder sie studierten. »Hat meine Mutter eigentlich mal davon gesprochen, was sie ursprünglich werden wollte? «
Einen Moment dachte Gertraud nach, dann nickte sie. »Medizin wollte sie studieren und Ärztin werden. Sie war ja aufs Gymnasium gegangen, bevor sie nach Sankt Marien kam. Genau wir ihr Bruder Peter. Ein netter Junge, mit einer wunderbaren Stimme. Wie ein Engel. Er hat bei Joseph im Chor gesungen. Jedenfalls bis er in den Stimmbruch kam. Da hat Joseph ihn dann an die Orgel gelassen. Meine Güte, was konnte der Junge spielen. So wundervoll. Und dann ist er eines Tages davongelaufen. Im Herbst war das.«
»Im September 1958. Seither wird er vermisst.«
Erstaunt sah Gertraud sie an. »Wie meinen Sie das?«
»Er hat sich nie bei meiner Mutter gemeldet. Als sie für ihre Ausbildung nach München kam, hat sie nach ihm gesucht. Später dann zusammen mit meinem Vater. Vielleicht ist er an die falschen Leute geraten. Er war ja erst dreizehn, als er davongelaufen ist. Mama denkt jedenfalls, dass er schon lange tot ist.«
Mit der Hand fuhr Gertraud sich übers Gesicht. »Das ist eine schreckliche Vorstellung. Wobei ich damals sicher war, dass er keine vierundzwanzig Stunden fort sein würde. Wie fast alle, die davonliefen. Man hat sie schnell gefunden. Die Leute aus dem Dorf haben sie zurückgebracht. Man erkannte sie an der Kleidung. Oder sie wurden von der Polizei aufgegriffen. Am Bahnhof oder an der Landstraße. Außerdem haben die Erzieher nach ihnen gesucht. Allen voran der Weber mit seinem Hund. In den beinahe fünfundvierzig Jahren, in denen ich in Sankt Marien gearbeitet habe, haben es nur wenige geschafft. Aber der Peter schon.« Wieder fuhr sie sich übers Gesicht. »Das dachte ich. Und Sie sagen, er ist schon lange tot.«
»Es ist eine Vermutung meiner Mutter. Vielleicht lebt er noch«, sagte Imke .
»Aber dann hätte er Karin doch nicht im Unklaren gelassen. Seine eigene Schwester. Die beiden waren sehr eng. Doch, doch. Sie hat bestimmt recht. Es muss ihm etwas zugestoßen sein. Das macht mich jetzt ganz traurig.«
»Mit Sicherheit wissen wir es nicht. Ein Freund meines Mannes ist Journalist. Er forscht nach, ob die Polizei damals Hinweise auf Peters Verbleib hatte. Ob es eine Spur von ihm gab. Wer weiß …« Sie machte eine vage Handbewegung.
»Wie will er das denn nach so langer Zeit herausfinden?« Gertraud reichte ihr das Fotoalbum, und Imke steckte es zurück in den Shopper.
»Er beginnt mit dem Vermisstenbuch. Möglich, dass es weitere Polizeiakten gibt. Leider sind die Akten aus dem Heim verloren gegangen. Wissen Sie, was mit ihnen geschehen ist, als das Heim aufgelöst wurde?«
Gertraud schüttelte den Kopf. »Das war in dem Jahr, als ich in Rente gegangen bin. Nur ein paar Monate davor. Alles wurde in Umzugskartons gepackt. Auch die Akten.«
»Erinnern Sie sich, wohin sie gebracht wurden?«
»Nach München, nehme ich an. Obwohl …« Gertraud strich sich über die Nasenwurzel.
»Obwohl?«, fragte Imke.
»Irgendetwas war da mit einem Karton. Ich hab’s gleich.« Sie schloss die Augen. Mit dem Mittelfinger der rechten Hand malte sie Kreise auf die Plastiktischplatte. Imke wartete.
»Jetzt weiß ich es wieder.« Die Augen öffneten sich. »Einen Karton voller Unterlagen. Den hat die Schwester Oberin dem Herrn Pfarrer anvertraut. Er sollte ihn für sie aufbewahren.«
»Wissen Sie, warum? «
»Nein. Ich habe damals nur gesehen, wie der Hochwürden den Karton von der Schwester Oberin bekommen und in sein Auto geladen hat. Er wollte ihn aber auch nicht, denn er hat meinen Onkel gefragt, ob er ihn bei sich unterstellen könnte. Der war damals der Mesmer«, erklärte Gertraud. »Und er hat dem Hochwürden diesen Wunsch natürlich nicht abgeschlagen.«
»Lebt Ihr Onkel noch?«
»Ach wo. Der ist schon vor fünfzehn Jahren gestorben.«
»Und wissen Sie, was aus dem Karton wurde?«
Nachdenklich schüttelte Gertraud den Kopf. »Vielleicht ist er noch in seinem Häuschen. Ich habe es geerbt. Aber was sollte ich damit? Ich hatte ja schon das Häuschen meiner Eltern. Jetzt steht es schon seit fünfzehn Jahren leer. Es ist klein und ohne jeden Komfort. Das mietet niemand. Wir waren ja Flüchtlinge. Meine Mutter, mein Vater, sein Bruder und ich. Bis fünfundfünfzig haben wir in einer Baracke am Waldrand gehaust. Aber mein Vater und sein Bruder waren fleißige Männer. Sie haben in der Molkerei gearbeitet und jede Mark gespart, die sich sparen ließ.« Während Gertraud davon erzählte, wie ihre Familie nach dem Krieg Fuß in Warting gefasst hatte und ihr Vater und ihr Onkel in den Fünfzigerjahren am Dorfrand ein Grundstück erworben und darauf gebaut hatten, überlegte Imke, ob sie Gertraud dazu bringen konnte, mit ihr im Haus ihres Onkels nach dem Karton zu suchen.
»Ich hätte das Häuschen natürlich verkaufen können. Für einen lächerlichen Preis«, erklärte Gertraud. »Das wollte ich aber nicht. Ich bin auf das Geld nicht angewiesen.«
Imke fasste sich ein Herz. »Könnten wir nachsehen, ob der Karton noch da ist?«
»Das glaube ich nicht. «
»Aber sicher sind Sie sich nicht? Es ist ja nicht weit.«
»Warum interessieren Sie sich für diesen Karton?«
»Vielleicht sind Akten darin oder andere Dokumente. Polizeiberichte oder etwas in der Art. Ich will herausfinden, was aus Peter wurde.«
»Sie sagten doch, er wäre tot.«
»Das glaubt meine Mutter. Es ist doch möglich, dass es Hinweise gab, wohin er verschwunden ist. Vielleicht wurde er aufgegriffen und in ein anderes Heim gebracht, ohne dass man es Mama gesagt hat. Oder es hat sich eine Pflegefamilie gefunden. Vielleicht sogar Adoptiveltern.«
»Ich weiß nicht … Möglich wäre es schon. Die renitenten Kinder wurden verlegt. In andere Heime, in denen es strenger zuging.« Gertraud überlegte kurz und zuckte dann mit den Schultern. »Na schön. Fahren wir nach Warting. Ich habe ja sonst nichts zu tun.«
***
Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde. Gertraud dirigierte sie durch den Ort zu einer Straße, die in einer Sackgasse endete. Imke stoppte vor einem rostigen Tor aus Metalldraht, das windschief in den Angeln hing. Eine verwilderte Thuja-Hecke umgab das Grundstück. Gertraud gab Imke einen Bund mit mehreren Schlüsseln. Sie sperrte das Tor auf. Ein spitzgiebeliges Häuschen mit verwitterter Eternitverkleidung stand im Schatten einiger Fichten. Die Rollläden an den Fenstern und der Terrassentür waren heruntergelassen. In den Ritzen des gepflasterten Wegs wuchsen Löwenzahn und Gänseblümchen. Der Rasen war zur Wiese geworden. Das Gras stand hüfthoch. Klatschmohn und Margeriten blühten darin. Weiter hinten entdeckte Imke einen eingeschossigen Flachbau, an dem der Putz in großen Placken abgefallen war. Das musste Onkel Brunos Refugium sein. Imke fuhr den Wagen aufs Grundstück, half Gertraud beim Aussteigen und nahm den Rollator aus dem Kofferraum.
»Herrje, wie das hier aussieht. Da muss man sich ja schämen.«
»Mich stört es nicht«, sagte Imke. »Die Wiese ist wunderschön.«
»Ich sollte jemanden suchen, der sich darum kümmert.«
»Vielleicht Ihre Erben.«
»Die Barmherzigen Schwestern bekommen es. Die werden alles abreißen lassen und sich vorher nicht die Mühe machen, den Garten zu pflegen.«
Ausgerechnet die Nonnen? Imke verkniff sich die Frage, wieso.
»Jetzt fragen Sie sich gerade, warum ich es denen vermache. Stimmt’s?«
»Ja, schon. Aber es geht mich nichts an.«
»Weil ich sonst niemanden habe, und die Nonnen immer gut zu mir waren. Fünfundvierzig Jahre war ich bei ihnen in Lohn und Brot und kann mich nicht beklagen.«
Gertraud vielleicht nicht, dachte Imke. Aber die Kinder und Jugendlichen, die der »Fürsorge« dieser Frauen ausgeliefert gewesen waren, schon. Sie sagte es nicht. Stattdessen half sie Gertraud, den Rollator über den holprigen Weg zum Flachbau zu schieben. Als sie die Tür öffnete, schlug ihnen ein Schwall abgestandener Luft entgegen. »Sie müssen erst die Sicherung reindrehen, dann können wir Licht machen. Der Kasten ist gleich links, neben der Haustür.«
Imke fand ihn, drehte die Porzellanfassung in die Halterung und schaltete das Licht an. Das Haus war winzig. Linker Hand das Bad. Rechter Hand ein Schlafzimmer und am Ende des Gangs die Küche, die gleichzeitig das Wohnzimmer war. Alles in allem etwa vierzig Quadratmeter. Wenn der Karton noch da war, mussten sie nicht lange suchen. Es gab keinen Dachboden, und Imke entdeckte auch keinen Zugang zu einem Keller. Gertraud stützte sich auf ihre Gehhilfe und ging voran in die Wohnküche. Sie zog den Rollladen hoch und öffnete das Fenster. »Lassen wir Luft herein.«
Imke sah sich um. Die Einrichtung stammte größtenteils aus den Fünfzigerjahren. Ein weiß emaillierter Elektroherd. Ein Küchenbuffet mit cremefarbenen Fronten und verglasten Türen im Oberteil. Daneben ein moderner Kühlschrank. In einer Ecke hing ein Kruzifix unter der Decke. Unter dem Fenster stand eine Holzbank und davor ein alter Tisch mit einer Kunststoffplatte. Alles von einer feinen Schicht Staub überzogen. Spinnwegen hingen in den Ecken und von der Decke. »Wissen Sie, wo Ihr Onkel den Karton aufbewahrt hat?«
Gertraud zuckte die Schultern. »Nach Onkel Brunos Tod habe ich hier aufgeräumt und ein paar seiner Sachen weggegeben. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ihn gesehen habe. Wenn er noch da ist, dann am ehesten im Schlafzimmer. Auf dem Schrank oder unter dem Bett. Suchen Sie ruhig.« Sie setzte sich auf die Holzbank vor dem Fenster.
»Es macht Ihnen wirklich nichts aus, wenn ich mich hier umsehe?«
»Ach wo. Onkel Bruno hatte nichts zu verbergen. Das hoffe ich jedenfalls.«
Im Schlafzimmer schob Imke den Vorhang beiseite und zog die Jalousie hoch. Licht fiel herein. Sie öffnete das Fenster und sah sich um. Außer dem Bett, das mit einem Laken abgedeckt war, gab es nur einen Nachttisch, einen Stuhl und den Schrank. Er war leer, und auf ihm befand sich nichts außer einer Staubschicht. Imke ging auf die Knie und entdeckte unter dem Bett einen alten Kunstlederkoffer. Sie zog ihn hervor. Auch er war leer. Im Nachtkästchen lagen nur Gebetbuch und Rosenkranz. Sie ging hinüber in das kleine Bad. Ein angeschlagenes Waschbecken befand sich darin, daneben ein altmodisches WC mit einem Spülkasten, der unter der Decke hing und eine Kette mit Porzellangriff hatte, an der man ziehen musste. Eine Badewanne. Keine Möglichkeit, etwas zu verstauen. Enttäuscht kehrte Imke in die Küche zurück.
»Und?«, fragte Gertraud.
»Nichts. Wenn die Akten noch da sind, dann in der Küche.«
»Nur zu.«
Im Küchenbuffet befanden sich Geschirr und Töpfe und ein Bündel Briefe und Postkarten. Eine Schublade enthielt die leere Geldbörse, den Ausweis und einen Hefter mit amtlichen Dokumenten. Eine andere zwei Pralinenschachteln voller Fotos. »Ach, Imke. Die sollten wir ansehen! Manchmal hat Onkel Bruno im Heim fotografiert. Vielleicht sind Aufnahmen Ihrer Mutter und Ihres Bruders dabei.« Während Gertraud die Bilder durchsah, suchte Imke weiter und fand nichts. Auch Gertraud hatte keinen Erfolg. Sie schlug vor, in ihr Haus zu gehen. In ihren Fotoalben waren sicher Bilder von Karin und Peter.
Also gingen sie hinüber. Imke schraubte auch hier die Sicherung hinein und machte Licht. Zielsicher steuerte Gertraud im Wohnzimmer die Schrankwand an. Imke zog die Rollläden hoch, während Gertraud ein Album auf die Sitzfläche des Rollators legte, ihn zum Sofa schob und Imke Platz anbot. Ein Weilchen blätterte sie, bis sie ein Bild fand. » Da, Imke, sehen Sie. Joseph hat das Foto gemacht.« Gertraud reichte ihr das Album. Ein postkartengroßer schwarz-weißer Fotoabzug war auf der Seite eingeklebt. Er zeigte den Chor von Sankt Marien. Die Kinder standen in drei Reihen auf den Stufen vor dem Altar. Vorne fünf Jungen, dahinter etwa doppelt so viele Mädchen. Imke erkannte ihre Mutter sofort. Klein und zierlich. So zerbrechlich wirkend. Schon damals. Sie stand in der mittleren Reihe ganz außen und trug ein dunkles Kleid und eine hellere Schürze darüber. Das schulterlange Haar war zu Zöpfen geflochten. Ihr Blick ging ins Leere und hatte nichts Aufmüpfiges an sich.
»Das muss in ihrem zweiten Jahr in Sankt Marien gewesen sein«, sagte Gertraud. »Weihnachten 1957. Und der hier ist Peter. Pelle hat sie ihn immer genannt.« Gertraud deutete auf den mittleren der fünf Jungen. Ein zierliches Kind. Zu klein für einen Zwölfjährigen. Viel zu zart. So wie Mama. Er wird im Heim nichts zu lachen gehabt haben.
Die Buben trugen dunkle Hosen, helle Hemden und darüber Strickjoppen. Das Haar war akkurat gescheitelt. Pelles Gesichtsausdruck war neutral. Kein Lächeln. Kein Grimm. Nichts an Gefühlen spiegelte sich darin. Bestenfalls eine Spur Trotz ließ sich erahnen. Ein Pokerface. Vielleicht war er clever, ein kleines Schlitzohr, dachte Imke. Denn ihm war gelungen, was so gut wie keinem gelang: abzuhauen und nicht zurückgebracht zu werden.
Der oberste Knopf des Hemdes war offen. An seiner Brust entdeckte Imke einen Fleck. »Was hat er da?«
»Das ist seine Kette. Ein geweihtes Medaillon der Jungfrau Maria aus Lourdes.«
»Aus Lourdes? Sind Sie sicher?«, fragte Imke. War das etwa dieselbe Kette, die Schmalisch ihr gegeben hatte ?
»Doch. Daran erinnere ich mich genau. Schmuck war verboten. Aber gegen diese Kette hatten die Nonnen natürlich nichts einzuwenden. Peter durfte sie behalten. Seine Kameraden haben ihn deswegen gehänselt. Und es gab eine Zeit, da haben einige behauptet, dass Peter vom anderen Ufer wäre. Also homosexuell.«
»Ach, du meine Güte.« Ihr war klar, was das für ihn bedeutet hatte.
Imke machte mit ihrem Smartphone eine Aufnahme des Chorfotos, und dann war es Zeit, zurückzufahren. Sie legte das Handy zum Fotoalbum in den Shopper und half Gertraud, die Fenster zu schließen, die Rollläden runterzulassen und den Rollator die Haustreppe hinunterzutragen. Danach war Gertraud erschöpft und setzte sich auf ihre Gehhilfe. »Eine kleine Pause. Sind Sie so nett und machen bei Onkel Bruno die Schotten dicht?« Sie reichte ihr den Schlüssel. »Und vergessen Sie die Sicherung nicht.«
Imke ging hinüber und schloss die Fenster und Jalousien. Zuletzt in der Küche, und dabei fiel ihr etwas auf. Die Bank unter dem Fenster, auf der Gertraud gesessen hatte, besaß einen Korpus und die Sitzfläche ein Scharnier. Imke klappte sie hoch. Im Innenraum lagen ein altes Bügeleisen, ein Dampfkochtopf und ein schwarzer Plastikbeutel. Sie nahm ihn heraus. Es fühlte sich an, als wären Zeitschriften darin. Vielleicht Onkel Brunos antiquarische Pornosammlung? Doch es kam ein Stapel verblichener graugrüner Aktendeckel zum Vorschein. Auf der Vorderseite war ein Schriftzug aufgedruckt. Katholisches Erziehungsheim Sankt Marien.