Imk
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»Warten Sie hier.« Die Ärztin wies auf eine Bank vor dem Untersuchungsraum, während eine Schwester den Rollstuhl mit Mama hineinschob und die Schiebetür schloss.
Imke nutzte die Zeit und schrieb Anne und Geli eine SMS. Mama ist gestürzt und hat sich den Knöchel verletzt.
Da sie kurz bewusstlos war, bin ich mit ihr in die Klinik gefahren. Sie wird gerade untersucht. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß.
Sie schickte die Nachricht los und entdeckte einen verpassten Anruf von Moritz, von vor einer Stunde. Mit dem Handy ging sie vor die Tür und rief ihn zurück. »Ich habe deinen Anruf gerade erst entdeckt. Was gibt’s denn?«
»Ich war nur neugierig, wie es dir mit Gertraud ergangen ist.«
»Erzähl ich dir später. Ich bin grad mit Mama im Krankenhaus.« Sie erklärte ihm, was passiert war, und er sagte, die Klinik würde auf dem Weg liegen, er käme vorbei.
Imke kehrte auf die Bank zurück. Zehn Minuten später ging die Tür zum Untersuchungsraum wieder auf, die Ärztin steuerte Imke an. Hinter ihr schob die Schwester Mama heraus. »Wir machen sicherheitshalber ein CT.
«
»So ein Unfug!«, sagte Mama.
»Wir wollen eine Schädelverletzung ausschließen. Das haben wir doch gerade besprochen, Frau Remy.«
Imke setzte sich wieder, während Mama in einen anderen Raum gefahren wurde. Eine SMS von Moritz kam. Bin da. Wo bist du?
Sie schrieb, wo er sie fand, und kurz darauf kam er. »Grüß dich, Schatz. Wie geht es Karin?«
»Sie hat sich die Bänder am rechten Knöchel überdehnt. Jetzt machen sie sicherheitshalber noch ein CT, weil sie sich nicht erinnern kann, ob sie mit dem Kopf aufgeschlagen ist. Jedenfalls war sie kurz bewusstlos.«
»Was hat sie auf dem Speicher gemacht?«
»Einen alten Koffer heruntergeholt. Frag mich nicht, warum.«
»Und wie war es in Kolbermoor?«
»Erst hat Gertraud sich ein wenig geziert, aber am Ende hat sie doch mit mir geredet. Sie ist nett und warmherzig. Wenn sie immer so war, muss sie für Mama ein Lichtblick im Heim gewesen sein. Stell dir vor, sie hat in Gertrauds Küchengeschwader gearbeitet. Es macht mich ganz traurig, was sie erzählt hat.« Imke berichtete, dass ihre Mutter auf dem Gymnasium gewesen war und Medizin studieren wollte. »Bevor sie ins Heim kam, war sie eine ganz normale Sechzehnjährige voller Träume.«
»Hast du erfahren, weshalb man Karin und Peter nach Sankt Marien geschickt hat?«, fragte Moritz.
»Nein. Aber ich habe eine Vermutung. Laut Gertraud hat meine Oma wieder geheiratet und den Kontakt zu ihren Kindern abgebrochen. Deshalb gab es einen Vormund, der sich um Mama und Pelle kümmerte. Vielleicht hat Oma das Sorgerecht verloren, weil sie ihre Kinder vernachlässigte.
«
Moritz zog die Stirn in Falten. »Ich weiß nicht … Hat Karin nicht gesagt, dass sie sich den Aufenthalt im Heim redlich verdient hätte und alles ihre Schuld war?«
»Ja, du hast recht.« Imkes Blick fiel auf den Shopper, der neben ihr auf dem Boden stand. »Ich hab dir noch gar nicht erzählt, was ich heute gefunden habe. Besser gesagt, geklaut.«
»Du klaust?«
»Eigentlich hab ich sie geborgt.« Sie zog die Akten aus der Tasche. Moritz las die Aufschriften und stieß einen erstaunten Pfiff aus. »Wo waren die denn?«
»Bei Gertrauds Onkel. Als das Heim aufgelöst wurde, haben die Nonnen einige Unterlagen beiseitegeschafft. Etwas muss besonders daran sein. Das hier ist die Akte von Peter. Die meiner Mutter steckte darin. Von den anderen konnte ich Fotos machen, bevor Gertraud sie mir abgenommen hat. Sie meint, die gehören der Kirche. Gott sei Dank hatte ich die von Mama und Peter schon vorher eingesteckt.«
»Geborgt. So, so. Das sind ganz neue Seiten an dir. Du überraschst mich.«
»Es ging nicht anders. Den Nonnen gegenüber war Gertraud mehr als vierzig Jahre lang loyal. Sie hat deren Prügelpädagogik mit dem Hinweis auf andere Zeiten gerechtfertigt. Außerdem hat sie die Barmherzigen Schwestern als Erben für ihr kleines Anwesen eingesetzt. Also habe ich mir keine großen Chancen ausgerechnet, dass sie mir die Akten überlässt.«
Die Tür zum Untersuchungsraum wurde geöffnet. Die Ärztin trat auf den Flur. Der Rollstuhl mit Mama folgte. Imke nahm Moritz die Akten ab und ließ sie im Shopper verschwinden, bevor ihre Mutter sie entdecken konnte.
Moritz begrüßte Karin, während die Ärztin ihr erklärte, dass ihre Mutter zur Beobachtung eine Nacht hierbleiben würde. Verdacht auf Gehirnerschütterung. Karin war es nicht recht. »Das ist, weil ich privat versichert bin. Die wollen nur Geld mit mir verdienen.« Doch Imke überzeugte sie, dass es so besser war.
Sie begleiteten Karin auf die Station und blieben bei ihr, bis die Schwester ihr ins Bett geholfen hatte. Der Knöchel war bandagiert und wurde hochgelagert. Zusätzlich legte die Schwester eine Kühlmanschette an. Imke besorgte beim Kiosk das Nötigste. Kamm, Zahnbürste und Zahnpasta. Außerdem eine Illustrierte und eine Tafel Schokolade. Rum-Traube-Nuss. Mamas Lieblingssorte. Sie nahm ihr das Versprechen ab, nach der Schwester zu klingeln, wenn sie sich komisch fühlen sollte oder falls ihr übel wurde, und dann verabschiedeten sie sich.
Auf dem Weg zum Parkplatz kam Moritz auf die Akten zu sprechen, und Imke zeigte ihm im Auto die Fotos der anderen Aktendeckel, die sie gemacht hatte. Und dann die Aufnahme des Chorfotos in Gertrauds Album. »Das ist Mama, und das ist Peter.« Sie reichte Moritz ihr Smartphone. »Er trägt die Kette, die Schmalisch mir gegeben hat. Gertraud erinnerte sich, dass er ein geweihtes Medaillon aus Lourdes an einer Kette um den Hals trug.«
Moritz betrachtete das Bild. »Diese Medaillons sind sicher Massenware.«
»Ich würde ihn trotzdem gerne fragen, woher er es hat.«
»Den Schmalisch?«, fragte Moritz.
»Er hat gesagt, wir könnten mit unseren Fragen zu ihm kommen. Irgendetwas weiß er also.«
»Dann lass uns zu ihm fahren. Kyreinstraße. Obdachlosenheim, wenn ich mich recht erinnere.«
**
*
Die Obdachlosenunterkunft befand sich in einem schmucklosen Nachkriegsgebäude mit vier Etagen. Neben der Haustür standen zwei Bänke in der Abendsonne. Auf einer saß Schmalisch mit einer Flasche Bier. »Griaß euch«, sagte er, als Imke und Moritz sich näherten. »Ich hab ja gewusst, dass ihr noch Fragen habt’s.« Er rutschte zur Seite, schlug mit der Hand auf die freie Fläche neben sich, und sie nahmen Platz. Schmalisch trank den letzten Schluck aus seiner Flasche, schüttelte sie und hielt sie gegen das Licht. »Da tun’s auch immer weniger nei. Kaufst mir ein Sixpack?«
»Von mir aus«, sagte Moritz. »Wo gibt’s hier was?«
»Beim Kiosk um die Ecke.«
»Gut, dann gehe ich.« Moritz sah Imke fragend an, und sie nickte. Mit Schmalisch kam sie zurecht. Er war zwar ein wenig seltsam, aber er wollte reden. Imke zeigte ihm das Foto vom Chor auf ihrem Smartphone. »Kennen Sie eines der Kinder?«
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er das Bild. »Die kenn ich alle. Des is die Elvira und des die Martina. Die Dorothee und die Sabine.« Sein Finger wanderte weiter. »Die Thea und daneben die Karin, die wo dir so ähnlich sieht, dass ich denk, du bist ihr Kind.« Mit einem verschmitzten Lächeln sah er sie an, und sie nickte. »Stimmt. Karin ist meine Mutter.«
»Und des da, des is der Peter, der Bruder von der Karin.« Schmalisch wies auf den mittleren der fünf Jungen. »Dein Onkel, sozusagen. Bist wegen dem bei mir?«
»Die Kette, die er trägt …« Imke wies mit dem Finger auf den dunklen Fleck.
»Die hab ich dir gegeben. Weißt nimmer?
«
»Natürlich. Sind Sie sicher, dass sie Peter gehörte?«
»Ja mei. Was is schon sicher?« Er hob die Hände und ließ sie dann auf die Oberschenkel fallen. »Sicher ist der Tod, und dass ich an Durscht hab. Sonst nix.«
»Peter ist davongelaufen. Wissen Sie das?«
Der Alte lachte. »Sicher weiß i des, und i weiß auch ganz sicher, dass nix sicher ist. Nix Gewisses weiß man nia ned.«
»Er ist abgehauen, aber die Kette hat er im Heim gelassen?«
»Sonst hätt ich sie dir ja nicht geben können.«
»Wann haben Sie die gefunden?«
»Ja mei. Vor der Zeit. So wird’s gewesen sein. Vor der Zeit. Weil, ich sammle nämlich Beweise.«
»Beweise wofür?«
»Fürs Jüngste Gericht. Das kommt. Hab ich dir doch gesagt.« Er beugte sich zu ihr. »Bald wird abgerechnet. Es naht die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören und hervorkommen werden.« Mit der Bierflasche fuchtelte der Alte Richtung Himmel. »Die das Gute getan haben zur Auferstehung des Lebens. Die aber das Böse verübt haben zur Auferstehung des Gerichts. So ist das. Wirst schon sehen. Die Weiber und ihre Knechte vors Gericht.«
Moritz kam mit einem Sixpack Dosenbier, und der alte Mann brabbelte weiter vom Tag der Auferstehung, von himmlischen Heerscharen und dem Jüngsten Gericht und leerte dabei eine Dose Bier. Es gelang Imke nicht, mehr zu erfahren. Nur wirres Gerede, in dem seine Verachtung für die Nonnen deutlich wurde, die er nur »die Weiber« nannte und die Erzieher ihre Knechte. Was sie ihm angetan hatten. »Des Leben ham’s ma versaut, die Weiber.«
**
*
Es war kurz nach sieben, als sie nach Hause kamen und Moritz’ Handy zu klingeln begann. Der Duft von Kräutern und gebratenem Gemüse stieg Imke in die Nase, und sie merkte, wie hungrig sie war. Steffi stand in der Küche und schob gerade eine Gemüse-Lasagne in den Ofen, als Imke hereinkam, während Moritz im Flur das Gespräch annahm.
»Gutes Timing«, sagte Steffi. »Essen ist in zwanzig Minuten fertig.«
»Du bist ein Schatz.«
»Ne, ganz egoistisch. Ich hatte Lust zu kochen.«
»Trotzdem: Danke.« Auch ihre Tochter hatte ein Problem, Lob und Anerkennung anzunehmen, wurde Imke in diesem Moment bewusst. Auch sie verkehrte nette Worte häufig ins Gegenteil. Es vererbte sich. Es übertrug sich. Man war nichts Besonderes. Man war es nicht wert, beachtet zu werden. Sie nahm ihre Tochter in den Arm. Prompt machte sie sich los. »He, Mama. Warum so sentimental?«
»Bin ich nicht. Ich will dir nur sagen, dass du eine wunderbare junge Frau bist und keine Egoistin. Dass ich dich so mag, wie du bist, und dass ich dich liebe. Und das kannst du ruhig annehmen und einfach so stehen lassen. Okay?«
»Ja. Ist okay!« Steffi warf die Arme in die Luft und sah sie verwundert an. »Ist echt alles in Ordnung?«
»Ich hätte weiß Gott was dafür gegeben, wenn Mama so etwas mal zu mir gesagt hätte«, sagte Imke. »Und jetzt ist es gut.« Sie trug die Tasche in ihr Speisekammer-Büro und nahm die Akten heraus.
Steffi folgte ihr und legte die Arme um sie. Automatisch wollte Imke ihre Tochter abwehren. Doch sie schaffte es
gerade noch, das nicht zu tun. »Und du bist die beste Mutter, die man haben kann«, erklärte Steffi. »Du hast das toll gemacht, obwohl Oma mit ihren Gefühlen so geizig ist. Das kannst du jetzt auch einfach mal so stehen lassen.«
In Imkes Hals setzte sich ein Klumpen. »Ist gut.«
»Hab ich was verpasst?« Moritz kam mit dem Handy herein.
»Nur eine Runde Sentimentalitäten«, erklärte Steffi und verschwand in die Küche.
Fragend sah Moritz sie an. Imke zuckte mit den Schultern. »Was gibt’s?«
»Gregor ist dran und fragt, ob er und Nette vorbeikommen können. Sie sind bei ihren Recherchen auf etwas Interessantes gestoßen. Passt dir das?«
»Ja, natürlich.«
Moritz verschwand aus ihrem Büro, und sie wollte die Zeit bis zum Essen nutzen, um einen Blick in die Heimakten zu werfen. Sie rochen ein wenig muffig, waren aber in gutem Zustand und nur an den Kanten abgegriffen. Auf dem Aktendeckel stand die Aufschrift: Katholisches Erziehungsheim Sankt Marien.
Darunter befanden sich vorgedruckte Linien, in die handschriftlich die Daten der Fürsorgezöglinge eingetragen waren.
Warum hatte man diese Akten aussortiert und nicht mit den anderen nach München gebracht? Imke zog ihr Smartphone hervor und suchte die Fotos heraus, die sie am Nachmittag von den anderen Aktendeckeln gemacht hatte. Neben Peter und Karin Allenstein waren es siebzehn Namen, die Imke natürlich nichts sagten. Weshalb hatte Karins Akte in der ihres Bruders gesteckt? Hatte das etwas zu bedeuten?
Die Farbe auf den Vorderseiten war verblasst, ebenso Mamas und Peters Namen. Der des Vormunds und seine
Adresse standen auf beiden Vorderseiten. Udo Krohnen, Rechtsanwalt mit Kanzlei in der Nymphenburger Straße. Imke atmete durch und schlug die Akte ihrer Mutter auf. Ein Stapel Papier befand sich darin. Sie blätterte ihn durch. Der Aufnahmebogen vom September 1956. Der Durchschlag des Gerichtsbeschlusses zur Heimeinweisung, die der Vormund beantragt hatte. Seine Begründung: Sittliche Verwahrlosung.
Wie konnte das sein? Ihre Mutter war schrecklich prüde. Nicht ein Mal hatte sie Mama in einem Badeanzug oder Bikini gesehen, geschweige denn jemals nackt. Ihrer Mutter war alles Körperliche zuwider. Und sie war außerstande, zärtlich zu sein. Als Jugendliche hatten Geli und sie sich gefragt, wie Mama wohl mit ihnen schwanger geworden war. Etwa nach dem Motto »Close your eyes and think of England«? Sittlich verwahrlost? Das passte nicht zu Mama.
Es folgten mehrere Seiten knapp formulierter Beurteilungen, wie sich der Fürsorgezögling Karin Alleinstein im Heim gemacht hatte, die Imke erst einmal nur überflog. Frech. Vorlaut. Widerständig. Ungezogen. Renitent. Nicht bildungsfähig. Später dann: Fügsam, fleißig, still, gelehrig. Die knapp formulierten Beurteilungen endeten im Mai 1961,
als Karin volljährig geworden war und das Heim verlassen durfte, um ins nächste zu ziehen. In das Heim der Barmherzigen Schwestern in München, wo sie ihre Ausbildung beginnen durfte. Die Nonnen lobten sich, wie gut es ihnen gelungen war, dieses Mädchen auf den rechten Weg zu bringen und aus ihr ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu machen. In Imke verkrampfte sich etwas, verknotete sich, und ihre Hand ballte sich zur Faust. Medizin hatte Mama studieren wollen. Sie hatte das Gymnasium besucht, und dann hieß es plötzlich: nicht bildungsfähig
!
Hinten im Aktendeckel befand sich eine eingeklebte Tasche. Etwas steckte darin. Sie nahm es heraus. Es war ein Bündel Briefe.
Moritz steckte den Kopf zur Tür herein. »Essen ist fertig. Kommst du?«
***
Während des Abendessens drehte sich das Gespräch zunächst um Mamas Sturz, der schlimmer hätte ausgehen können, und um die Frage, weshalb sie auf dem Dachboden gewesen war und was sie wohl mit dem alten Koffer wollte. Das hatte Imke ihre Mutter auch gefragt, aber keine Antwort erhalten. Vielleicht würde sie morgen mal einen Blick hineinwerfen, wenn sie in Mamas Haus nach dem Rechten sah.
Die Lasagne schmeckte köstlich. Nach dem Essen deckte Tobi den Tisch ab und räumte die Küche auf, während Imke wieder in ihrem Büro verschwand. Was waren das für Briefe in Mamas Akte?
Der oberste war an Doris Allenstein in der Nibelungenstraße in München adressiert. Eine Briefmarke klebte in der rechten oberen Ecke, war aber nicht abgestempelt. Links hatte jemand das Kuvert handschriftlich mit einer ›1‹ nummeriert. Es war sauber aufgeschnitten. Imke nahm den Brief heraus. Ein Blatt. Vorne und hinten so eng beschrieben, dass die Schrift nur schwer zu entziffern war. Imke überflog den Text. Er begann mit Liebe Mami, es tut mir so leid
und endete damit, dass Mama ihre Mutter beschwor, sie aus dem Heim zu holen. Es ist Unrecht, was hier geschieht. Krohnen ist ein Schwein. Er hat etwas so Schmutziges und Unaussprechliches getan, dass ich es dir gar nicht schreiben kann
.
Grundgütiger!, dachte Imke und musste erst einmal verdauen, was ihre Mutter andeutete. Doch dann wurde ihr etwas anderes klar. Oma Doris hatte diesen Hilferuf ihrer Tochter nie erhalten! Er hatte das Heim nie verlassen. Er war in der Akte verschwunden. Mit zitternden Fingern nahm sie den nächsten Brief. Er trug die Nummer ›2‹. Die Marke war abgestempelt. Er kam von Oma Doris und war an Karin und Peter adressiert. Auch dieses Kuvert war akkurat geöffnet worden.
Meine liebe Karin, mein lieber Peter,
von Frau Meister vom Jugendamt habe ich erfahren, was geschehen ist und wo ihr seid. Krohnen wollte es mir nicht sagen, und es aus der Meister herauszubekommen, war nicht einfach. Haltet durch. Ich werde gerichtlich gegen den Beschluß vorgehen und mir das Sorgerecht zurückholen.
Das klang ganz und gar nicht nach einer Mutter, die froh war, ihre Kinder los zu sein. Mit fliegenden Fingern breitete Imke die Kuverts vor sich aus. Auf Mamas Briefen klebten nicht mal Marken. Sie hatte an ihre Mutter und an einen Fred Meinhardt geschrieben. Auch die Briefe von Oma und Fred waren alle ordentlich mit einem Brieföffner geöffnet worden. Die Nonnen hatten sie konfisziert. Keiner dieser Briefe hatte je seinen Empfänger erreicht. Die Nonnen hatten den Kontakt zwischen Oma und ihren Kindern verhindert.
Das war so unsäglich niederträchtig!
»Diese Weiber!«, flüsterte Imke. »Diese verdammten Weiber!« Wie elend Mama sich gefühlt haben musste. Wie
allein und im Stich gelassen. Wie ungeliebt. Als keine Antworten auf ihre Briefe kamen.
Imke bemerkte ein Kuvert, das anders aussah. Die Adresse war mit Maschine geschrieben. Der Absender war Udo Krohnen. Auch dieser Brief trug eine Nummer, die 17.
München, den 17. März 1957
Sehr geehrtes Fräulein Allenstein,
heute habe ich die traurige Pflicht, Ihnen und Ihrem Bruder Peter den Tod Ihrer Mutter bekanntzugeben. Sie starb vorgestern bei einem tragischen Verkehrsunfall in München.
Wegen der Beisetzung, die übermorgen auf dem Münchner Waldfriedhof stattfindet, werde ich mich mit der Schwester Oberin ins Benehmen setzen und hoffe doch sehr, daß Ihr Betragen und das Ihres Bruders Ihrer beider Teilnahme zuläßt.
Hochachtungsvoll
Udo Krohnen