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Er ist ein ganz normales Arschloch, dachte Anne und konnte es nicht glauben, dass Alex sie verlassen hatte. Abgelegt. Wie einen alten Mantel. Sie stand noch im Flur, hörte, wie sich draußen leise die Lifttüren öffneten und schlossen und der Fahrstuhl nach unten surrte. In die Tiefgarage, wo Alex’ Wagen stand, in den er steigen und mit dem er aus ihrem Leben verschwinden würde. Für immer. Unglaublich.
Sie ging in die Küche. Die Stille legte sich wie Watte über ihre Ohren. Nicht einen Versuch hatte er unternommen, sie umzustimmen. Nur ein Lippenbekenntnis, dass er sie nicht verlieren wollte. Dennoch war er gegangen. Hatte das Weite gesucht. So schnell es ging.
Sie stellte sich ans Fenster, lehnte den Kopf gegen die Scheibe und sah hinaus in den Sommerabend, der langsam in Dämmerung überging. Ein zarter Schein jenseits des Neckar am Horizont. Als ob nichts wäre. Rosa Wolken am Himmel. Dabei war Alex weg, und sie fühlte sich hohl und leer, überrascht, überrumpelt, maßlos erstaunt. Aber auch wie ausgekotzt und darauf herumgetrampelt
.
Sie entkorkte eine Flasche Wein und suchte nach der Tafel Schokolade, die hier noch irgendwo liegen musste. Während sie Wein trank und Schokolade aß, ließ die Wirkung der Beruhigungstabletten nach, und ein Gefühl breitete sich in ihr aus, wie sie es noch nie gefühlt hatte. Teerschwarz, schwer und zäh. Und doch auch seltsam tröstlich. Als hätte sie danach gesucht und es endlich gefunden. Und nun musste er ausgekostet werden, dieser bittersüße Schmerz. Bis zur Neige, denn er ließ sie spüren, dass sie lebte. Dass es sie wirklich gab, auch wenn sie nichts war und niemand sie mochte, geschweige denn liebte. Ihre Mutter nicht. Ihre Schwestern nicht und schon gar nicht ihr Mann. Ein wohltuender Schmerz. So schrecklich schön.
Sie schenkte sich vom Wein nach und legte den Kopf in den Nacken. Über ihr an der Decke baumelte ein einsamer Spinnwebfaden. Wie eine Hängebrücke über dem Abgrund. Und so fühlte sie sich auch, als ob sie über einem Abgrund balancierte. Auf einem Seil, das sie nicht tragen konnte. Etwas würde passieren. So oder so.
Nach dem dritten Glas Wein verblasste der schöne Schmerz und langsam stieg der gewohnte Hass in ihr auf. Der vertraute Zorn. Diese ohnmächtige Wut auf alle, die ihr so übel mitspielten. Die sie missachteten und ihr Leben zerstörten. Die sie vernichten wollten.
Und dann stellte sie sich vor, wie Geli es sich jetzt, genau in diesem Moment, auf ihrem weißen italienischen Designerledersofa gemütlich machte und das Glas auf ihre zerstörte Ehe hob. Wie sie sich ins Fäustchen lachte, es ihrer hochmütigen Schwester heimgezahlt zu haben. Jetzt sind wir quitt!
Das werden wir ja sehen!, dachte Anne.
Was für ein mieses Spiel Geli gespielt hatte! Und so
akribisch vorbereitet. Sie hatte nicht nur eine Menge Geld in Judith investiert, sie musste auch jemanden angeheuert haben, der Alex ausspioniert hatte, damit sie ihm die Falle stellen konnte.
Judith sprach akzentfrei Deutsch. Geli hatte dieses Flittchen tatsächlich nach Kopenhagen einfliegen lassen. Sie hatte ein Vermögen für ihre Retourkutsche ausgegeben. Während sie nicht bereit gewesen war, ihr auch nur einen Cent für den Unternehmensstart zu leihen. Noch dazu hatte sie mit gezinkten Karten gespielt. Während sie selbst nur eine WhatsApp weitergeleitet hatte. Die Wahrheit. Keine Lüge, keine Falle. Sondern Fakten. In der Nachricht an Niklas war es um eine Tatsache gegangen. Um einen Augenöffner. Während es Geli um Rache ging. In ihrem Hass hatte sie eine Lüge kreiert.
Geli hatte ihre Ehe zerstört! Vorsätzlich und sehenden Auges. Und nun wähnte sie sich im Recht: Sie hatte es ja gewusst. Kein Säulenheiliger.
Jetzt sind wir quitt.
»Das sind wir noch lange nicht!« Anne fegte das Glas von der Küchentheke. Es zerbarst. Rotwein spritzte gegen Wände und Küchenfronten. »Noch lange nicht, meine Liebe. Darauf kannst du wetten.«
Im Flur riss sie den Wagenschlüssel aus der Schale und die Handtasche vom Sideboard. Die Wohnungstür fiel krachend hinter ihr ins Schloss. Der Lift wollte nicht kommen. Sie wartete nur einen Moment, dann lief sie die fünf Etagen hinunter bis in die Tiefgarage und riss die Tür ihres Wagens auf. Einen Moment später schoss sie mit aufheulendem Motor auf die Straße. Kurz vor der Autobahnauffahrt befand sich eine Tankstelle. Sie tankte voll. Auch den Reservekanister, und kaufte noch ein Feuerzeug. Weiter ging
es auf die Autobahn. Gut zwei Stunden Fahrt lagen vor ihr. Sie gab Gas. Linke Spur. Lichthupe.
Dieses Miststück!
Dafür würde Geli bezahlen. Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen! Anne wusste nicht, woher diese Zeile stammte, woher sie kam, aber sie konnte nicht aufhören, sie zu denken. Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen!
Die Autobahn war voll. Sie blieb auf der linken Spur. Auf der mittleren waren die Schleicher unterwegs. Die Dämmerung ging in Dunkelheit über. Sie bretterte Richtung München. Der Tacho zeigte 190. Nach dem Flughafen ließ der Verkehr nach. In der temporegulierten Strecke an der Geislinger Steige wurde sie gleich zweimal geblitzt. »Scheiß drauf!« Sie raste durch die Nacht.
Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen!
Anderthalb Stunden später näherte sie sich München. Kurz hinter Augsburg zog ein Mittelspurschleicher auf die linke Spur. Ihr Fuß knallte auf die Bremse. Sie betätigte Lichthupe und Hupe. Das Heck ihres Wagens brach aus, krachte in die Leitplanke. Ein höllisches Knirschen von Metall auf Metall, und dann geschah für einen Moment alles in Zeitlupe. Der Wagen überschlug sich, drehte sich langsam um die Längsachse, während er durch die Luft schwebte wie eine Feder und dann mit dem Dach voran auf den Asphalt krachte. Ein tierisches Geräusch. Die Scheiben barsten. Funken und Scherben stoben um sie herum, und alles wurde schwarz.