Imk e
Einige Tage nachdem sie mit dem Team des BR in Sankt Marien gewesen war, wo Leopold Schmalisch Gregor und Nette auf seine wirre Art erklärt hatte, dass die Wiese, vor der sie standen, ein Friedhof war, dass dort die Gebeine von Kindern lagen, deren Leichen man in den Fünfziger- und Sechzigerjahren hier verscharrt hatte, stand Imke in ihrer Seifenwerkstatt und traute sich noch immer nicht, ihrer Mutter zu sagen, was sie vermuteten: Dass Peter das Erziehungsheim nie verlassen hatte. Dass ihm die Flucht nicht geglückt war. Dass Mamas Suche nach ihm vom ersten Tag an vergeblich gewesen war. Dass man nicht ausschließen konnte, dass er Opfer eines Verbrechens geworden war, genau wie sie es immer vermutet hatte. Doch ganz anders, als sie glaubte. Imke wagte noch nicht, in ihrer Mutter die Hoffnung auf ein Ende zu wecken. Auf einen Abschluss und einen Abschied von ihrem Bruder. Wenn nun nicht stimmte, was Schmalisch erzählt hatte? Es blieb ein Rest an Zweifel, obwohl Gregors und Nettes Recherchen und das, was sie selbst herausgefunden hatte, zu seinen Angaben passte. Sollte sie abwarten, bis die Gebeine geborgen wurden, und erst dann mit Mama reden? Oder sollte sie sie darauf vorbereiten und das Gespräch endlich hinter sich bringen?
Seit Tagen lagen die beiden Akten und Peters Marien-Medaillon in der Seifenwerkstatt in einer Schreibtischschublade. Wieder überlegte sie, zu Mama hinüberzugehen und ihr zu sagen, was sie wusste, und entschied sich, doch noch abzuwarten. Bis sicher war, dass die Ermittlungen aufgenommen wurden.
Gregor und Nette waren mit den Ergebnissen ihrer Recherche zu einem Staatsanwalt gegangen, den sie kannten, um Anzeige zu erstatten. Er hatte sie zur zuständigen Kollegin begleitet, und die prüfte derzeit, ob es für die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens reichte.
Seit gestern war die Webseite für ihre Seifenmanufaktur online. In den vergangenen Wochen waren über Facebook und Mund-zu-Mund-Propaganda ein paar Bestellungen eingegangen. Imkes Vorrat war erschöpft. Sie musste für Nachschub sorgen und wollte heute Lavendel- und Orangenseife herstellen und morgen Rosmarin und zwei Sorten Haarseifen. Langsam lief das Geschäft an. Wenn es derzeit auch nur Bestellungen im Wert von etwa hundert Euro waren, so war es doch ein schöner Anfang, und reich werden musste sie mit den Seifen nicht. Wenn es für ein zweites Standbein reichte, war es gut. Mit diesem Gedanken gelangte sie bei Anne an.
Während sie die Zutaten für die Lavendelseife heraussuchte, dachte sie wieder einmal über die Familie nach. Wie hatte Schmalisch gesagt? Wenn plötzlich einer fehlt, müssen die anderen sich neu zusammenraufen. Das war wohl so. Wobei es ihr nicht wie ein »Zusammen« erschien.
Vorgestern hatte sie einen zweiten Versuch unternommen, mit Anne zu reden. Sie sollte in den nächsten Tagen aus der Klinik entlassen werden. Das hatte sie von Alex erfahren, den Anne ebenso wenig sehen wollte wie ihre Schwestern oder ihre Mutter. »Sie meint das ernst«, hatte er ihr am Telefon erklärt. »Du weißt doch, wie nachtragend sie sein kann. Sie steigert sich da jetzt hinein. Du musst warten, bis sie wieder runterkommt. Vielleicht ist sie dann bereit, mit dir zu reden.«
»Ich verstehe nicht, wieso sie mich nicht sehen will. Ich habe ihr nichts getan.«
»Du hast Partei für eure Mutter ergriffen. Damit hast du dich automatisch gegen sie gestellt. Außerdem ist sie der Ansicht … Ich nehme an, du weißt das?«
»Du meinst ihre hirnrissige Idee, dass ich Mamas Konto plündere?«
»Genau die.«
»Sorry, Alex. Das ist krank. Ich hoffe, du glaubst das nicht.«
»Natürlich nicht.«
»Ich nehme an, um eure Ehe steht’s nicht gut.«
»Das wird nichts mehr. Sie wird mir diesen Seitensprung nicht verzeihen.«
»Es tut mir so leid. Was hat Geli sich nur dabei gedacht?«
»Nicht viel. Sie hat sich gerächt. Aber sie hat immerhin die Größe besessen, mich anzurufen und sich zu entschuldigen. Damit habe ich nicht gerechnet. Wobei es Anne war, die damit angefangen hat und sich bei Geli bestimmt nicht entschuldigen wird.«
»Eher schneit es im August.«
»Weißt du, Imke, wenn ich ehrlich bin, hat Gelis Aktion die Trennung nur beschleunigt. Anne hat sich in den letzten Monaten verändert. Wobei es schon früher begonnen hat, aber nach Jens’ Tod hat sich das verschärft. Sie sieht nur noch sich. Sie münzt alles um gegen sich, und sie kann mit Niederlagen überhaupt nicht mehr umgehen. Das war schon immer schwierig, aber jetzt … Ich kann dir gar nicht sagen, wie übel sie einem beruflichen Widersacher mitgespielt hat. Wir hatten Streit deswegen und nicht nur deswegen. Vermutlich hätte es nicht mehr lange gehalten. In der Woche vor dem Unfall habe ich darüber nachgedacht, auf Distanz zu gehen und auszuziehen. Ich erkenne meine Frau nicht wieder.«
Ich auch nicht, dachte Imke nun, während sie die Lauge abmaß. Entgegen Alex’ Rat war sie gestern in die Klinik gefahren und wieder von ihrer Schwester des Zimmers verwiesen worden. Mit großer theatralischer Geste und einer Wortflut, die eigentlich Gelis Markenzeichen war. Der Begriff »Erbschleicherin« war gefallen, und dann hatte Anne das Bild von der Ertrinkenden benutzt, der niemand eine rettende Leine zuwarf, sondern, im Gegenteil, sie noch untertauchte. Da hatte es Imke dann gereicht, und sie war der wiederholten Aufforderung gefolgt, zu verschwinden.
Meine Güte, dachte sie nun. Hoffentlich kann man irgendwann wieder vernünftig mit ihr reden.
Immerhin hatte Geli auch bei ihr angerufen und sich entschuldigt. Für die Treuetestaktion, von der Imke ja nicht betroffen war. Für den schrecklichen Satz, der von Mama stammen könnte. Da hatte Imke tatsächlich lachen müssen. Richtig. Solche Sätze kamen normalerweise von ihrer Mutter, und sie hatten sich weiter darüber unterhalten, dass sie beide schon als junge Mädchen gewusst hatten, dass sie nie wie Mama werden wollten, und Imke hatte gedacht: Ich wüsste gerne, wie Mama war, bevor man sie mit sechzehn in das Erziehungsheim gesteckt hat. Und vor allem, warum.
Was in der Akte stand, konnte nicht stimmen. Zusammen mit Moritz hatte sie sich die Heimakten von Peter und Karin inzwischen angesehen. Es gab Ungereimtheiten. Vor allem, was die Rolle des Vormunds betraf. Zwei Nachbarinnen hatten Doris Allenstein beim Jugendamt angeschwärzt. Sie sei eine unfähige Mutter, führe ein lockeres Leben mit wechselnden Männerbekanntschaften und erziehe ihre Kinder nicht. Die Tochter verwahrlose. Sie treibe sich mit einer Gruppe von Halbstarken herum und sei vorlaut und frech. Dieselben Nachbarinnen hatten wenig später Doris Allenstein wegen Kuppelei angezeigt. Ein Junge hatte bei Karin übernachtet. Die Mutter habe es geduldet. Das war offenbar der Auslöser für den Entzug des Sorgerechts gewesen.
Was für eine schreckliche Zeit, in der Nachbarn einander bespitzelten und denunzierten, als wäre die Nazizeit nicht längst vorbei gewesen. In der der Stab über ein junges Mädchen gebrochen wurde, nur weil es anders sein wollte, als man es erwartete. Weil sie die falsche Musik hörte und die falsche Kleidung trug und sich nicht in das eine, alleingültige Schema pressen ließ.
Ein Geräusch riss Imke aus ihren Überlegungen. Es war die Katze. Sie kam zum angelehnten Fenster herein und sah sich um. Mama nannte sie neuerdings Madame Katze . Das gefiel Imke, da bahnte sich eine Freundschaft an.
Mit Mamas Fuß wurde es langsam besser. Seit heute verzichtete sie ganz auf die Krücken. Die Schiene konnte bald weg. Erika war heute Morgen in ihre Wohnung zurückgekehrt, und in Mamas Wohnzimmer lag nun der alte blaue Koffer, der auf dem Dachboden gestanden hatte, seit Imke denken konnte. Neulich hatte sie hineingesehen. Notenblätter lagen darin. Sie nahm an, dass sie Peter gehört hatten. Und außerdem einige Fotoalben. Vermutlich die, nach denen sie als Kinder manchmal gefragt hatten. Imke nahm sich vor, ihre Mutter mittags darauf anzusprechen, als ihr Handy klingelte. Nette meldete sich. »Es gibt Neuigkeiten. Die Staatsanwältin hat gerade das Ermittlungsverfahren eingeleitet und eine Untersuchung des Geländes angeordnet.«
»Das ist gut. Ich hatte schon Angst, sie würde das vielleicht als Hirngespinste abtun.«
»Sie fand unsere Recherche beeindruckend, obwohl wir die Akten aus der Küchenbank nicht haben.«
In diesem Punkt war Gertraud sich treu geblieben. Die Akten gehörten sicher der Kirche oder dem Orden. An Journalisten wollte sie die Unterlagen nicht herausgeben. Dass Imke Karins und Peters Akte an sich genommen hatte, ahnte sie nicht.
»Jedenfalls reicht es für einen Anfangsverdacht«, meinte Nette. »Die Polizei wird die Akten beschlagnahmen. Morgen wird in Sankt Marien gegraben. Wenn sich unser Verdacht bestätigt, wird ein paar Tage später unsere Reportage im Fernsehen laufen und zeitgleich ein Artikel in der Münchner Zeitung erscheinen. Ich hoffe, dass du dein Versprechen gegenüber deinem Vater halten kannst und wir Peter dort finden.«
»Ja, das hoffe ich auch. Auch wenn es eine schreckliche Vorstellung ist.«
»Du kannst uns begleiten. Wir dürfen filmen. Denkst du, Karin möchte mit dabei sein?«
»Sie weiß noch gar nichts davon. Ich muss endlich mit ihr reden.«