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Es war überstanden. Sie hatte es hinter sich gebracht. Etwas war unwiderruflich zu Ende gegangen. Karin saß auf dem Mäuerchen und spürte der Erleichterung nach, die sich in ihr breitmachte, und der Dankbarkeit. Vor allem für Jens. Auch wenn sie nicht wusste, was er sich dabei gedacht hatte, als er Imke das Versprechen abnahm, nach Pelle zu suchen, er hatte es richtig gemacht.
Die Mädchen und ihre Männer trugen Tische auf die Terrasse und deckten für den Leichenschmaus mit dem guten Geschirr. Jemand holte beim Bäcker Kuchen und Torte. Imke und Geli verschwanden immer wieder in der Küche, um für Kaffeenachschub zu sorgen. Als gäbe es was zu feiern, anstatt jemanden zu betrauern. Und doch fühlte es sich richtig an. Alle redeten durcheinander. Ihre Enkelkinder hatten sich an einem Tischende zusammengefunden. Tobi so feierlich mit schwarzem Hemd. Steffi im kleinen Schwarzen. Schon beinahe eine Frau. Yvonne und Sabrina in Opposition zu ihrer Mutter, was bedeutete, dass sie in löchrigen Jeans und schwarzen Schlabberpullis zur Beisetzung erschienen waren. Sei’s drum, dachte Karin. Sie hatten
tatsächlich die weite Reise auf sich genommen. Ihretwegen. Das war schön. Auch Leopold war da. Er trank Bier statt Kaffee.
Vorhin hatte er ein wenig aus seinem Leben erzählt. Es war ihm nach Sankt Marien nicht gelungen, es in geordnete Bahnen zu lenken. Als er erzählte, dass er es in geschlossenen Räumen nicht aushielt und am liebsten draußen war, bei jedem Wetter, kam ihr das vertraut vor. Die eine oder andere Meise hatten sie wohl gemeinsam. Doch Karin erkannte auch, wie gut sie es im Leben getroffen hatte. Mit Jens. Mit ihren wunderbaren Töchtern. Mit ihren Enkelkindern. Es ging ihr gut.
Der Leo fing irgendwann vom Jüngsten Gericht an, vor dem sich die Nonnen und die Erzieher verantworten mussten, wenn es schon kein irdisches gab, dann immerhin das. Yvonne und Sabrina bestritten, dass es das jemals geben würde. Sie waren nicht gläubig. Niemand in der Familie Remy war das. Man diskutierte im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt, und Karin lehnte sich zurück, hörte zu und genoss es mit zufriedenem Herzen. Es war ein ganz neues Gefühl, und das auf ihre alten Tage. Frieden. Dankbarkeit. Ruhe.
Gegen Abend machten die Enkel den Vorschlag, Pizza zu bestellen. Doch Karin war fix und fertig. Ihr reichte es für heute. So viel Trubel war sie nicht mehr gewohnt. Also bat sie die ganze Bande, zu gehen und sie allein zu lassen. Natürlich wollten die Mädchen erst noch abräumen und aufräumen. Die Geschirrspülmaschine füttern und die Möbel reintragen. Mehr als Abräumen erlaubte Karin nicht. Sie wollte jetzt allein sein. Klar Schiff machen konnte sie auch morgen. Es wurden noch Kuchenpäckchen verteilt, und dann ging einer nach dem anderen. Alex trug doch noch
die Stühle und Polster in die Garage, obwohl kein Regen angekündigt war. Er tat ihr leid. Hoffentlich besann Anne sich, was sie an ihm hatte, und nahm ihn zurück. »Wir werden sehen«, sagte sie zu Madame Katze, die aus dem Nachbargarten kam, als der Letzte gegangen war. »Magst du was vom Kuchen? Es ist noch genug da.« Die Katze blinzelte, und Karin schnitt ihr ein Stück Biskuittrolle ab. »Aber wehe, du kotzt das auf den Teppich.« Für sich schenkte sie ein Glas Luganer ein, nahm das dicke braune Kuvert aus dem Sideboard und setzte sich aufs Mäuerchen. Es war Zeit, die Briefe ihrer Mutter zu lesen. Und die von Fred. Auf der Suche nach der anderen Karin. Nach der verloren gegangenen.