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Schwierigkeiten
Bob – September 2331
Am Rand von Eta Leporis
Fünfzig AE außerhalb von Eta Leporis kam ich zu einem relativen Stillstand. Der Kuipergürtel und die Oortsche Wolke eines Sternensystems waren keine genau bestimmbaren Regionen. Doch es gab tatsächlich ein paar Kriterien, anhand derer sie sich vom Inneren des Systems unterscheiden ließen. Unter anderem existierte weiter außerhalb vergleichsweise wenig Materie, und es war schwer, Metallvorkommen zu finden. Bei der Entstehung von Sonnensystemen schienen ein paar universelle physikalische Gesetze zu gelten, wie zum Beispiel jenes, dass die schwereren Elemente eher im Zentrum zu finden waren, während sich alles Eis und die gefrorenen Gase weiter draußen ansammelten. Der Kuipergürtel und die Oortsche Wolke bestanden fast ausschließlich aus gefrorenem kondensiertem Gas, das aus dem inneren System hin ausgeschleudert worden war, als die Kernfusion der Sonne eingesetzt hatte. Ähnlich wie Regentropfen hatten sich die meisten Klumpen um irgendetwas herum kondensiert.
Als Erstes würde ich Kundschafter nach brauchbarem Material suchen lassen. Eine Von-Neumann-Sonde war dazu programmiert, Rohstoffe aufzuspüren, sie zu raffinieren und zu weiteren Von-Neumann-Sonden zu verarbeiten. Zwar hatte ich mich schon längst über mein ursprüngliches Anforderungsprofil hinaus entwickelt, dennoch empfand ich diese Routinetätigkeit stets als entspannend.
Dass es eine Weile dauern würde, machte mich allerdings nervös. Nach mehreren Jahren im interstellaren Raum mag es zwar merkwürdig erscheinen, dass ich wegen ein paar zusätzlicher Monate ungeduldig wurde, doch unterwegs hatte ich die meiste Zeit über meine Wahrnehmungsrate reduziert. Nun war ich angekommen und konnte es kaum erwarten, mit der Suche nach Bender zu beginnen. Außerdem wollte ich herausfinden, ob es in dem System tatsächlich eine Megastruktur gab. Die erst teilweise fertiggestellte Dyson-Sphäre der Anderen war das einzige Bauwerk von derart gigantischen Ausmaßen gewesen, das wir je gesehen hatten. Dass sie sich hier befanden, erschien mir zwar unwahrscheinlich, aber es war ein Worst-Case-Szenario, mit dem ich mich beschäftigen musste.
Mein derzeitiger Orbit lag zu weit außerhalb, um mit dem Bordteleskop irgendetwas im inneren System erkennen zu können. Das war frustrierend. Am liebsten hätte ich ein paar Überwachungsdrohnen dorthin geschickt. Doch Bender war vermutlich einfach hineingestürmt, und das schien ihm nicht gut bekommen zu sein. Daher würde ich das System wohl oder übel langsam und ganz vorsichtig erkunden müssen.
Ich lud meine Drucker aus und errichtete eine Orbitalfabrik. Unabhängig davon, was ich in dem System fand, würde ich eine Kommunikationsstation bauen müssen. Sobald ich etwas Zeit hatte, ging ich die Nachrichten der vergangenen Jahrzehnte durch. Es waren sehr viele. Am meisten interessierten mich die Meldungen meiner nachfolgenden Drohnen. Also passte ich den Suchfilter entsprechend an.
Sie hatten tatsächlich herausgefunden, dass Bender Kurs auf Eta Leporis genommen hatte – nur den Bruchteil eines Lichtmonats vor der Stelle, an der ich in dieselbe Richtung abgebogen war. Das bestätigte meinen Verdacht – und ließ mich kurzfristig ein wenig eingebildet werden.
Es dauerte vier Monate, bis ich genügend Rohstoffe gefunden hatte, um mit der Umsetzung meiner Pläne zu beginnen. Transportdrohnen schafften sie zur autonomen Fabrik, die nach den Vorgaben, die ich Guppy gegeben hatte, langsam Bauteile daraus herstellte. Die Roamer fügten sie Stück für Stück zu Drohnen und der Relaisstation zusammen.
Ein Jahr nach meiner Ankunft hatte ich schließlich genügend Erkundungsdrohnen, um mit der eigentlichen Suche nach Bender zu beginnen. In all der Zeit hatte ich abgesehen von ein paar kurzen E-Mail-Wechseln mit Bill mit keinem Kontakt. Zum einen wollte ich niemanden im Nacken sitzen haben, der ständig Updates von mir verlangte, zum anderen wären mit meiner kleinen provisorischen Relaisstation zwar Audio- und Video-Streams möglich gewesen, aber weder BobTime noch FaceBob.
Ich befahl einer Handvoll Drohnen, nach Benders Eintrittspfad in das System zu suchen. Da ihre Sensoren vier Lichtstunden weit reichten, war die Spirale, die sie dabei fliegen mussten, einigermaßen überschaubar.
Schließlich hatten sie Erfolg! Bender war tatsächlich in das System eingedrungen. Ich markierte seinen Annäherungsvektor und ließ die Drohnen der Flugbahn folgen.
Je wahrscheinlicher es schien, dass ich Bender tatsächlich finden würde, desto begeisterter wurde ich – aber auch nervöser. Immer wieder musste ich daran denken, was wir mit den Anderen alles erlebt hatten: die unangenehmen Überraschungen, die gesprengten Bobs … Allein Hal hatten sie zwei-, nein, dreimal in die Luft gejagt.
Ich wollte nicht, dass man sich an virtuellen Lagerfeuern Geschichten über den Tod von Bob-1 erzählte, doch falls es tatsächlich dazu kam, sollten die anderen Bobs wenigstens davon erfahren. Daher beschloss ich, keine Risiken einzugehen, solange die interstellare Relaisstation noch nicht in Betrieb war.
Zu meinem Verdruss brauchte die autonome Fabrik in Delta Eridani länger als erwartet, um die Station zu bauen und auf den Weg zu bringen. Als sie sich endlich an Ort und Stelle befand und online ging, mottete ich die aus einer Drohne zusammengepfuschte Relaisstation umgehend ein, prüfte meine Bandbreite und schickte ein längst überfälliges Back-up von mir an Ultima Thule, Bills monströses Archiv in Epsilon Eridani.
Meinen Blog wollte ich dagegen erst updaten, wenn ich etwas wirklich Interessantes zu posten hatte.
Während meiner Wartezeit hatte ich ein paar erste astronomische Studien betrieben und dabei bereits sechs Planeten identifiziert. Der zweite befand sich in der bewohnbaren Zone. Außerdem hatte ich eine Lücke zwischen dem zweiten und dritten Planeten ausgemacht. Dort hatte die Infrarotsignatur ihren Ursprung. Da ich in dieser Zone nichts erkennen konnte und die Signatur von der anderen Seite des Sterns stammte, tippte ich auf eine Art Schwarm – möglicherweise einen auf die Ekliptik beschränkten Dyson-Schwarm. Wenn meine Vermutung stimmte und der fragliche Schwarm aus so etwas wie O’Neill-Zylindern bestand, ergab es durchaus Sinn, dass ich bislang noch keine Details erkennen konnte.
Auf dem Planeten in der bewohnbaren Zone schien kein intelligentes Leben zu existieren. Zumindest gingen keine Funksignale von ihm aus. Dafür fing ich irgendetwas Sporadisches aus dem System auf. Eine Art Tschilpen, ein abgehacktes und scheinbar zufälliges Geräusch. Das enge Übertragungsspektrum deutete jedoch darauf hin, dass es sich um verschlüsselte und komprimierte Nachrichten handelte. Also lebte dort doch irgendetwas .
Vielleicht war es an der Zeit, dass ich mich wieder dem Bobiversum anschloss und die anderen um Rat fragte.
Auf das Trööööt der Drucklufthupe folgten die traditionellen Buhrufe des Publikums. Bill grinste vom Podium herab. »Ja, ja. Also gut, beim heutigen Treffen hören wir unter anderem einen Bericht von Bob-1« – Bill musste abwarten, bis die erneuten Proteste und Pfiffe verstummten – »über Bender und die Situation in Eta Leporis.« Das Schweigen, das auf diese Ankündigung folgte, war noch durchdringender als der vorangegangene Lärm. Bender galt seit seinem Verschwinden als der Fliegende Holländer des Bobiversums.
Ich winkte und lächelte, verblüfft über die Gesichter, die sich mir nun zuwandten. Die Bobs waren immer schon respektlos gewesen und hatten auf den Versammlungen Sticheleien und Beleidigungen gerufen, doch diesmal war es nicht nur Spaß. Ich hatte deutlich einen gehässigen Unterton herausgehört.
Ohne eine Miene zu verziehen, betrat ich das Podium und betrachtete die Menge. Wenigstens schenkten mir alle ihre Aufmerksamkeit. »Ich bin sicher, das meiste dessen, was ich zu sagen habe, macht bereits gerüchteweise die Runde. Daher werde ich mich kurzfassen.« Ich gab ihnen den gleichen Überblick wie zuvor Bill. Dann bat ich um Fragen und deutete aufs Geratewohl auf eine der Hände, die überall gehoben wurden.
»Wirst du einfach in das System hineinstürmen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken?«
Ich hob überrascht die Augenbrauen. Der Ton und die Wortwahl waren bewusst konfrontativ. Ich sah mir den Sprecher noch einmal genauer an und erkannte, dass es sich tatsächlich um einen Bob-Replikanten handelte. Ich starrte ihn herausfordernd an. »Hast du je von einem Bob gehört, der irgendwo blindlings hineingestürmt wäre? Kennst du uns überhaupt?«
»Wenn es sich um eine einheimische Zivilisation handelt, besteht die Gefahr, dass du sie in ihrer Entwicklung beeinträchtigst. Können wir uns darauf verlassen, dass du dich in dem Fall zurückziehst?«
»Wow«, erwiderte ich. »Nette Vorverurteilung. Um die eigentliche Frage zu beantworten: Das hängt von den Umständen ab. Es wäre Quatsch, sich jetzt schon festzulegen. Es könnte sein, dass diese mutmaßliche Zivilisation Bender vorsätzlich abgeschossen hat. Möglicherweise haben sie aber auch nur den Blitz seines explodierenden Reaktors gesehen. Je nachdem würde ich völlig unterschiedlich vorgehen.«
»Du könntest sie aber auch einfach in Ruhe lassen. Vergiss nicht die Oberste Direktive, Alter!«
Ich schaute den Bob mit zusammengekniffenen Augen an und versuchte seine Metadaten zu erkennen. Zu meinem Erstaunen hatte er die Informationen über seine Person als nichtöffentlich markiert – was ich extrem unverschämt fand.
Ich warf Bill einen Blick zu, den er mit einem Achselzucken quittierte. Dann wandte ich mich wieder dem Sprecher zu. »Selbst wenn wir Gesetze hätten, Alter , würde die Oberste Direktive nicht dazugehören. Das war nur eine unrealistische Drehbuchidee.«
»Das ist deine Meinung, aber ein paar von uns sehen das anders.«
»Der Ursprüngliche Bob hat es so gesehen«, gab ich zurück. Dieser Typ ging mir allmählich auf die Nerven, und es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben. »Aber du hast natürlich das Recht auf deine eigene Meinung.« Ich drehte mich von ihm weg und deutete auf eine andere Hand.
»Wie lange willst du diese Suche in die Länge ziehen, falls du in dem System nichts findest? Wirst du um Freiwillige bitten, die noch weiter hinausfliegen?«
»So lange wie nötig, und ja. Schließlich ist er einer von uns, Herrgott noch mal.«
»Dann wird das also wieder so ein Kreuzzug der älteren Bobs. Und von uns anderen wird erwartet, dass wir dabei einfach mitmachen, oder wie?«
Ich drehte mich zu dem Zwischenrufer um. Natürlich war es wieder die Nervensäge von vorhin. Ich beschloss, ihm die Stirn zu bieten. »Was ist bloß los mit dir? Hast du den Verstand verloren? Dieses Gespräch werden wir erst fortsetzen, wenn du dich traust, deinen Namen zu zeigen.« Damit wandte ich mich erneut von ihm ab.
Angesichts dieser Auseinandersetzung wirkte der ganze Raum wie erstarrt. Niemand hatte mehr Fragen. Wenn es wie immer lief, warteten die Anwesenden jedoch nur darauf, dass die offizielle Versammlung zu Ende ging, damit sie unter vier Augen mit mir sprechen konnten. Das war mir nur recht. Falls der Typ mich dann noch einmal anmachte, würde ich ihn wie ein schwarzes Loch verschlucken.
Die Versammlung war vorbei, und die meisten Bobs hatten sich in ihre eigenen VR s zurückgezogen. Bill und ich saßen von leeren Tischen umgeben im Pub.
Ich funkelte ihn über mein Bier hinweg an. »Würdest du mir bitte erklären, was los ist?«
»Du hast dich ein paar Jahrzehnte lang zurückgezogen, Bob. Ich verstehe gut, wieso du allein sein wolltest. Die Sache mit Archimedes hätte jeden umgehauen. Aber du hast einiges verpasst. Das Bobiversum entwickelt sich weiter. Mittlerweile stammen einige Bobs aus der zwanzigsten oder einer noch höheren Generation. Die replikative Abweichung ist so weit fortgeschritten, dass dir ein paar von ihnen nur noch rein äußerlich ähneln. Wenn überhaupt. Am Aussehen wird nämlich auch viel herumgespielt. Und damit meine ich nicht bloß die Gesichtsbehaarung. Fünf oder sechs Bobs laufen sogar wie Borg herum.« Bill wirkte einen Moment lang verlegen, dann schuf er um uns herum einen Stillekegel. Ich war erschüttert. Normalerweise setzten wir diese Vorrichtung ein, um störende Hintergrundgeräusche auszublenden, doch Bill hatte sie aktiviert, um uns gegen Lauscher abzuschirmen. »Um ehrlich zu sein, Bob, wenn du seit dem letzten Klonen deine Verschlüsselungscodes und Passwörter noch nicht verändert hast, dann solltest du es dringend nachholen. Ich habe es bereits getan. Bislang misstraue ich zwar noch niemandem, aber ich bin mir sicher, dass es früher oder später einen Klon geben wird, der vor nichts zurückschreckt.«
Ich nickte und schickte Guppy eine entsprechende Anweisung. Dann wechselte ich das Thema. »Was ist aus Howard und Bridget geworden? Und wie geht’s Henry Roberts?«
»Weder Bridget noch Henry haben sich geklont. In Bridgets Fall gibt es deswegen einiges Gemaule im Bobiversum. Was vermutlich genau der Grund ist, weshalb sie es nicht getan hat. Ich vermute mal, sie will nicht die Standardehefrau von allen werden.«
Ich schnaubte.
»Und was Henry anbelangt«, fuhr Bill fort. »Der lässt sich nur selten hier blicken. Im Moment segelt er auf Quilt.«
Ich hob eine Braue. »Und was ist mit Poseidon? Ist er dort schon fertig?«
Bill lachte. »Nachdem er zum dritten Mal mitsamt seinem Schiff aufgefressen wurde, hat er aufgegeben. Er sagt, es hat keinen Sinn. Beim Segeln brauche man ein Ziel. Und Poseidon …«
»Ja, ich weiß. Überall nur Meer und nirgends Land in Sicht.«
»Bridget und Howard katalogisieren derweil weiterhin alles Leben im Kosmos«, erklärte Bill, immer noch lächelnd. »Trotz … Du weißt schon …«
Ich nickte. »Trotz der berüchtigten Prometheus-Expedition. Na ja, wenigstens werden sie sich nie langweilen.« Ich zögerte, nicht sicher, wie ich fortfahren sollte.
Ein paar Bobs kamen zu uns herüber. Als sie den Stillekegel bemerkten, zogen sie ab, um andere Gesprächspartner zu finden.
Schließlich beschloss ich, nicht länger um den heißen Brei herumzureden. »Um noch einmal auf die replikative Abweichung zurückzukommen: Was war das für ein anonymer Schwätzer? Bekommen wir es jetzt mit politischen Parteien zu tun?«
»Es ist ein bisschen mehr als das. Die Bobs waren immer schon wie ein Rudel Katzen, und diese Eigenschaft wird gerade gleichzeitig schwächer und ausgeprägter. Sie schließen sich zu Gruppen zusammen, von denen ein paar ganz schön bizarr sind. Es gibt zum Beispiel eine, die ein Matrjoschka-Gehirn bauen will.«
»Hä …?« Ich sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Dank der Casimir-Energieversorgung benötigen wir …«
»… die Zentralgestirne nicht mehr als Energiequelle. Ja, das stimmt. Aber das Wärmemanagement ist nach wie vor ein Problem. Und mit einer Schwerkraftquelle kann man alles gut organisieren. Soweit ich weiß, bauen sie es um einen grauen Zwerg herum. Ich mache mir vor allem Sorgen, dass sie dabei sind, ein Geschöpf aus einem Vernor-Vinge-Roman zu erschaffen.«
»Oder etwas von Lovecraft.«
Bill lachte leise und schaltete den Stillekegel ab. »Du solltest auf jeden Fall meinen Blog lesen, Bob. Darin nehme ich kein Blatt vor den Mund. Dort erfährst du, wohin sich das Bobiversum gerade entwickelt.«
Ich nickte und prostete ihm mit erhobenem Glas zu. Bill drehte sich zu jemandem um, der schon seit einer Weile mit ihm sprechen wollte, und ich machte mich auf die Suche nach Luke und Marvin.
Während ich den Blick über die Anwesenden gleiten ließ, konnte ich ein Schnauben nicht unterdrücken. Nun gab es also Bob-Borg.
Das würde Cthulhu gar nicht gefallen.
Bill hatte wahrscheinlich recht. Ich hatte wie schon so oft einen auf Schildkröte gemacht und mich aus der Gesellschaft der Bobs zurückgezogen. Ich beschloss, es wieder in Ordnung zu bringen und zuallererst Will aufzusuchen. Laut seinem Blog hatte er die Kolonialverwaltung in 82 Eridani endlich aufgegeben und war nach Walhalla umgezogen, wo er mithalf, den größten Mond von Asgard zu terraformen. Auf Walhalla war die Luft zwar noch ein bisschen dünn, aber das würde einem Manny nichts ausmachen.
Ich pingte Will an. Kurz darauf erhielt ich eine Einladung und die Adresse eines Besucher-Mannys, in den ich mich sofort einklinkte.
Die Diagnose der Androidensysteme dauerte nur ein paar Millisekunden. Anschließend öffnete ich die Augen und fand mich auf einer Terrasse im Freien wieder. Am Himmel, der eher malvenfarben als blau war, hing Asgard. Der Mond war etwa dreimal so groß wie die Erde, wenn man sie von Luna aus betrachtete. Will saß auf einem Adirondack-Stuhl, hielt eine Tasse Kaffee in der Hand und grinste mich an.
Er steckte in einem Standard-Bob-Johansson-Manny. Seine ungekämmten Haare standen wirr zu allen Seiten ab, und auch sein Bart war nicht mehr so gepflegt wie der von Commander Riker. Stattdessen sah er aus, als würde er sich einfach nicht mehr rasieren. Der Mann trug Kleidung, wie man sie bei einem Holzfäller erwarten würde. Ohne hinzusehen, wusste ich, dass mein Besucher-Manny ein generischer und haarloser Mensch war, allerdings nicht so leichenblass wie Howards erste Version.
Ich löste mich vom Haltgestell und nahm gegenüber von Will Platz. Grinsend sah er zu, wie ich aus reiner Gewohnheit versuchte, einen Kaffee zu materialisieren, und zeigte auf einen Beistelltisch, auf dem eine Thermoskanne und ein paar Tassen standen. »Tut mir leid, Bob. Hier in Real bereiten wir unseren Kaffee auf herkömmliche Weise zu.«
Ich erwiderte sein Lächeln. »In Real ?«
»Die Sprache entwickelt sich weiter. Heutzutage heißt es Real und Virt .«
»Ha. Das werde ich mir merken.« Ein paar Sekunden später hielt ich ebenfalls eine Tasse in der Hand und prostete ihm damit zu. »Du hast deinen Look ein bisschen verändert.«
»Ich hatte aus mehreren Gründen das Gefühl, mich von meiner alten Riker-Persönlichkeit verabschieden zu müssen – unter anderem, weil immer wieder Leute mit Kolonieproblemen zu mir kamen. Sie wollten einfach nicht einsehen, dass ich mich zur Ruhe gesetzt habe. Seit ich wie Rübezahl aussehe, scheinen sie es zu kapieren.«
»Und wie ist das Rentnerleben?«
»Zur Ruhe gesetzt bedeutet in meinem Fall nur, dass ich keinen festen Beruf mehr ausübe und tun und lassen kann, was ich will. Die meiste Zeit terraforme ich Walhalla und befasse mich mit ein paar persönlichen Projekten. Es hilft, dass ich hier lebe. So kann ich sehen, was meine Bemühungen bewirken.«
»Und wie geht es voran?«
Will winkte bescheiden ab. »Bill hat auf Ragnarök viel Vorarbeit geleistet. Er hat die Luft gereinigt, Wasser hinzugefügt und die Biosphäre angepasst. Auf Walhalla gab es bereits ein einheimisches Ökosystem. Bill hat bei sich schon fast alle Fehler begangen, und ich muss sie hier nur noch vermeiden.«
»Verlierst du viele von den ursprünglichen Tierbeständen?«
»Überraschenderweise nicht. Als wir anfingen, war es ein ziemlich feindseliger Lebensraum, als befänden wir uns auf einem hoch im Norden gelegenen Berg auf der Erde. Wir sorgen dafür, dass das Leben auf dem Mond einfacher wird – wärmer, mit mehr Sauerstoff, mehr Wasser und so weiter. Die Herausforderung besteht darin, die irdischen Arten so langsam einzuführen, dass die einheimischen Spezies Zeit haben, sich an sie anzupassen und nicht verdrängt werden.«
Ich nickte, nippte am Kaffee und verzog das Gesicht. Da Wasser in der immer noch zu dünnen Atmosphäre bei einer niedrigeren Temperatur kochte, war der Kaffee lauwarm und dünn. Doch mit derartigen Dingen musste man sich abfinden, wenn man in … äh … Real einen Manny verwendete. Ich schaute Will über den Rand meiner Tasse hinweg an und wechselte das Gesprächsthema. »Ich habe schon mit Bill über die Versammlung neulich gesprochen, aber mich interessiert auch, was du davon hältst.«
Will schnitt eine Grimasse. »Ich war nicht dabei – wir hatten ein Problem mit einer der Sortieranlagen. Aber ja, ich habe von deiner Auseinandersetzung mit Morlock gehört …«
»Morlock? Er nennt sich tatsächlich Morlock ?«
»Nein, eigentlich heißt er Jeremy. Keine Ahnung, ob das auch eine Anspielung auf Die Zeitmaschine sein soll. Jedenfalls nennen ihn alle mittlerweile nur noch Morlock.« Will sah mich mit erhobener Augenbraue an, als wartete er auf einen Kommentar. Da ich nichts sagte, fuhr er schließlich fort: »Die replikative Abweichung wird immer stärker. Bis ungefähr zur fünfzehnten Generation waren die Bobs noch mehr oder weniger wie wir. Seither werden die Unterschiede immer größer. Bislang hatten wir zwar noch keine ausgewachsenen Psychopathen, aber dafür schon ein paar echte Unsympathen.«
So viel zu unserer Vision von zahlreichen Bobs, die die gesamte Galaxie bevölkern. Andererseits könnte die Vielfalt auch ein Vorteil sein. Schließlich hatte die menschliche Spezies auch aus mehreren Milliarden Individuen bestanden … und es geschafft, sich komplett auszulöschen. Mist.
Das war ein Problem. Und zwar ein großes. Die für den Ursprünglichen Bob typische Nichteinmischungspolitik war in diesem Fall vielleicht nicht angebracht.
Als ich zu einer Erwiderung ansetzte, legte sich eine Nachricht von Guppy über mein Sichtfeld. [Die Kundschafter im System wurden angegriffen. 100 % Verlust.]
»Ich muss los!«, rief ich Will zu und versetzte mich sofort zurück nach Virt. Ich schickte Will noch schnell eine Nachricht, in der ich mich dafür entschuldigte, dass ich den Manny nicht aufs Gestell zurückgeräumt hatte, und versprach, ihm später alles zu erklären, dann wandte ich mich an Guppy: »Was ist passiert?«
[Die telemetrischen Daten befinden sich in der Warteschlange.]
Ich schnappte mir ein paar Videofenster und startete die Wiedergabe. Die Drohnen glitten gerade auf Benders Flugbahn entlang und sorgten mit SUDDAR dafür, dass sie seine Spur nicht verloren, als von einer von ihnen plötzlich keine Daten mehr hereinkamen. Ehe die KMI s darauf reagieren konnten, brach auch die Übertragung der zweiten Drohne ab. Die dritte bekam zunächst offenbar nur einen Streifschuss ab. Sie war zwar nicht mehr voll funktionsfähig, schaffte es aber noch ihr SUDDAR zu rekonfigurieren und einen Scan mit niedriger Auflösung zu machen, bevor ihr Signal ebenfalls endete.
Das vierte Fenster zeigte das Resultat dieses Scans: Aus fünf Uhr waren zwei Raumschiffe gekommen und hatten die Kundschafter angegriffen. Sie waren ungefähr zwanzig Fuß lang, wahrscheinlich automatisiert und eindeutig nicht für Atmosphärenflüge geeignet. Sie bestanden aus einem Skelett aus Metallträgern, an denen ohne jeden Sinn für Ästhetik Ausrüstungsgegenstände festgeschraubt waren. An zwei Seiten befanden sich Geräte, die Strahlenwaffen zu sein schienen, und dazwischen, jeweils um neunzig Grad versetzt, zwei Kommunikationsschüsseln.
Als ich einen Blick auf die Datenprotokolle warf, konnte ich keinen Hinweis auf einen Raketenbeschuss entdecken, dafür aber jeweils einen kurzen Temperaturanstieg, bevor die Signale abbrachen. Meine Strahlenwaffen- Hypothese schien sich also zu bestätigen.
»Laser. Eine interessante Wahl. Das sind eigentlich keinen guten Gefechtswaffen.« Ich starrte das Fenster noch einen Augenblick lang an, dann schloss ich es. »Guppy, weshalb haben die Kundschafter sie nicht kommen sehen?«
[Das SUDDAR war nach vorn gerichtet, auf den Bussard-Streifen, der von den Gravitationseffekten des Sonnensystems auseinandergezogen wird.]
Das war ein nachvollziehbarer Grund. Zwischen den Sternen blieben Bussard-Streifen oft jahrhundertelang erhalten. Innerhalb der Heliopause änderte sich das jedoch rasch.
»Wir haben keinen SUDDAR -Puls von ihnen empfangen?«
[Negativ. Die Telemetrie des letzten verbliebenen Kundschafters fing Radarsignale auf.]
»Radar? Wer verwendet heutzutage denn noch Radar ?«
[Offensichtlich diese Raumschiffe.]
Ich starrte Guppy an und nahm mir – nicht zum ersten Mal – vor, einen Blackbox-Test mit ihm zu machen. Für Sarkasmus brauchte man ein Ich-Bewusstsein, und ich konnte mich nicht daran erinnern, dass mir schon mal ein Brecher oder eine Drohne derart frech gekommen waren.
Doch im Moment zählte nur, dass ich kein Militärstratege war – eine Tatsache, die ich beinahe vergessen hatte. Nachdem ich mit Medeiros und den Anderen fertig geworden war, hatte ich es mir zu leicht gemacht. Dafür hatte ich nun die Quittung erhalten. Nun musste ich mich wieder auf meine gute alte Paranoia besinnen und mir ein paar Verteidigungsmaßnahmen ausdenken.
»Na, das ist ja echt toll. Und sie haben wirklich ohne Vorwarnung …« Ich unterbrach mich. Guppy hatte die schlechte Angewohnheit, Informationen zurückzuhalten. All meine Versuche, daran etwas zu ändern, hatten lediglich dazu geführt, dass er mich mit unbedeutenden Daten zumüllte. Ich hatte nach wie vor den Verdacht, dass es sich dabei um passiv-aggressives Verhalten handelte. »Haben sie abgesehen von dem Radarscan noch etwas anderes gemacht?«
[Bestätigt. Es gab ein paar Funkübertragungen.]
Wahrscheinlich hatten sie nur feststellen wollen, ob es sich bei den Kundschaftern um Freunde oder Feinde handelte. Damit hätte ich aber ohnehin nichts anfangen können, da ich die richtige Antwort nicht kannte. Tatsächlich hätte eine Reaktion von den Kundschaftern die Situation nur noch verschlimmert. Dann wäre ihnen – wer immer sie waren – nämlich klar gewesen, dass sich noch jemand anders im System befand. Und das hätte fatale Folgen haben können. Wer’s nicht glaubte, musste nur Hal fragen.
Ich lud Bill dazu ein, sich mit mir zusammen die Aufnahmen anzuschauen. Er deutete auf eine Stelle im Videofenster. »Interessant. Siehst du das?«
»Hmm, ja. Ein Fusionsbrenner. Großartige Beschleunigung und Manövrierbarkeit. Schluckt aber viel Treibstoff.«
»Auf kurze Distanz sind sie wahrscheinlich schneller als du, Bob. Sei besser vorsichtig.«
»Hmm.« Ich setzte mich wieder auf den La-Z-Boy. »Ich habe nicht die Absicht, hinüberzufliegen und mich ihnen vorzustellen. Bislang gab es zwei Begegnungen, zwei Angriffe und einen toten Replikanten.«
»Das sind doch alles nur Vermutungen.«
»Aber derart fundierte, dass ich erst einen Gegenbeweis sehen will, bevor ich meine Meinung ändere.« Ich streckte die Hand aus und spulte das Video ein Stück vor. »Kein SUDDAR , kein SURGE , kein SCUT . Sie, wer immer sie sind, haben bislang die Subraum-Theorie noch nicht entdeckt. Andererseits ist ihr Fusionsantrieb echt eindrucksvoll und auch ihre Waffentechnik, wenn das tatsächlich Laser waren. Die holen aus diesen kleinen Drohnen wirklich eine ganze Menge Watt heraus.«
»Was bedeutet, dass ihre Fusionsreaktoren wahrscheinlich besser sind als unsere.« Bill grinste und zuckte die Achseln. »Aber das überrascht mich nicht. Niemand verwendet mehr Fusionsreaktoren.«
Das stimmte. Wir waren schon vor langer Zeit auf die Casimir-Technologie umgestiegen, die wir von den Anderen übernommen hatten. Sie war jeder Art von Fusion haushoch überlegen, schon allein deshalb, weil sie keine Emissionen erzeugte. Daher stagnierte die Entwicklung unserer Fusionstechnologie natürlich, aber das war uns allen egal.
»Also …« Ich tippte mir nachdenklich ans Kinn. »Diese, äh, Sowiesos haben möglicherweise auf traditionelleren Gebieten weitergeforscht und daher bei ein paar Technologien die Nase vorn, während sie uns bei anderen hinterherhinken. Zumindest lassen ihre Drohnen diesen Schluss zu.«
»Das hast du gut zusammengefasst. Was hältst du davon, wenn wir ihre Drohnen Boojums nennen?«
»Klar, warum nicht?«
»Also, wie ist der Plan?«
»Plan? Wer braucht schon einen Plan?« Wir grinsten uns an. »Mal im Ernst: Im Moment fällt mir nur nicht erwischen lassen ein. Alles andere ist noch ein bisschen vage.«
»Dir ist schon klar, dass wir in den Archiven eine Bauanleitung für Radartarnung haben, oder?«
Ich schaute Bill einen Moment lang verblüfft an. »Oh Mann. Anscheinend werde ich wirklich alt. Irgendeine vor Radarsignalen geschützte kohlrabenschwarze Außenhaut, mit der wir nicht gesehen werden können, dazu Niedrigenergie-Elektronik kombiniert mit einem hocheffizienten Wärmeableiter, damit wir auch nicht im Infrarotspektrum auftauchen …« Ich beugte mich begeistert vor. »Wir können hineingleiten und brauchen keine Tarnvorrichtung, da sie kein SUDDAR zu haben scheinen. Wir selbst können dagegen mit Langstrecken-SUDDAR nach Patrouillen Ausschau halten … Ja, das ist gut!«
»So gefällst du mir«, erwiderte Bill. »Hast du genügend Flugbahndaten von Bender, um seinen voraussichtlichen Aufenthaltsort zu bestimmen?«
»Innerhalb gewisser Fehlertoleranzen, ja. Ich werde ein paar weitere Kundschafter außenherum schicken und nach ihm suchen lassen. Beziehungsweise nach seinen Überresten.« Einen Moment lang schwiegen wir beide nachdenklich.
»Klingt, als hättest du einiges zu tun, Bob«, sagte Bill. »Dann lasse ich dich jetzt allein.«
Einiges zu tun bedeutete, dass ich die Pläne und Notizen im BobNet verwenden und die Attribute, die ich wollte, miteinander kombinieren musste. So fürchterlich die Kriege gegen die Anderen und Medeiros auch gewesen waren, immerhin hatten sie die Entwicklung unserer Militärtechnologien beschleunigt. Aber konnte man das nicht seit jeher über alle Kriege sagen?
Die Ingenieursarbeit stellte mich vor keine allzu großen Probleme. Schließlich war ich ein Computer, auch wenn ich es mir selbst nur selten eingestand. Die eigentliche Fertigung würde allerdings länger dauern, da ich immer noch alles an der Schnittstelle zwischen Kuiper-Gürtel und Oortscher Wolke erledigen musste und nach wie vor kein wundersamer Vorrat an nützlichen Elementen aufgetaucht war, der mir das Leben erleichtern würde.
Die einzige Erfindung, die ich selbst hinzufügte, war ein Eiskern mit einer Temperatur von wenigen Grad Kelvin. Die Kundschafter verbrauchten zwar kaum Energie und erzeugten infolgedessen auch nur sehr wenig Wärme, doch ich wollte, dass nicht einmal die sichtbar war. Die Abwärme wurde an den Eiskern transferiert und steigerte so sukzessive dessen Temperatur. Ich hatte die Übertragungsrate berechnet und war ziemlich sicher, dass die Kundschafter durch das System kommen konnten, bevor ihr Kühlkörper versagte und sie Infrarotstrahlung emittierten.
Der Nachteil war, dass sie ihr Wärmebudget nur einhalten konnten, wenn ich keinen Kontakt zu ihnen hielt. Was bedeutete, dass ich sie womöglich verlieren und es erst merken würde, wenn sie sich am anderen Ende des Systems nicht zurückmeldeten. Na ja, das Leben ist nun mal nicht perfekt.
Ich berechnete die Flugbahnen und -zeiten und feuerte die Kundschafter persönlich mit der Schienenkanone ab. Von diesem Moment an waren sie ballistisch. Wenn sie manövrieren mussten, würde die Kühlung sofort überlastet werden. Wenn alles nach Plan verlief, würden sie erst in ein paar Monaten auf der anderen Seite wieder aus dem System austreten.
Als ich mit alldem fertig war, hatten die anderen Kundschafter einmal das gesamte System umrundet und begannen nun damit, Benders wahrscheinlichen Aufenthaltsort nach einem festgelegten Raster abzusuchen. Ich hatte Bill zwar gesagt, dass die Fehlermargen extrem hoch seien, was an dem riesigen Gebiet lag, das die Kundschafter durchforsten mussten, dennoch war ich über jeden Tag enttäuscht, der ergebnislos verstrich.
Nur um etwas zu tun zu haben, setzte ich selbst Kurs auf die andere Seite des Boojum-Systems. Ich nahm den langen Weg außenherum, da ich nicht bereit war, das System zu durchqueren. Ich hatte keine Ahnung, wie weit draußen die Boojums patrouillierten.
Als ich ungefähr die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, hatte Guppy eine gute Nachricht für mich: [Die Kundschafter haben etwas gefunden.]
»Cool! Was ist es denn?«
[Etwas.]
Ich würde den Blackbox-Test ohne Betäubung an ihm durchführen. Und zwar schon bald.
»Gib mir den Bericht.«
Vor mir tauchte ein Fenster auf, randvoll mit allen möglichen Statistiken und Messdaten. Das Wichtigste war jedoch die Aufnahme eines Wrackteils, das von einer Heaven-2-Sonde stammte.
Bender.