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Untersuchung
Bob – November 2332
Am Rand von Eta Leporis
Eine Wolke aus Wrackteilen drehte sich langsam um ein gemeinsames Massezentrum. Ein Teil davon war erkennbar, das meiste jedoch nicht. Ich war ein wenig überrascht, dass es überhaupt etwas gab. Eigentlich hätte ich erwartet, dass ein Laser alles zu Schlacke verbrennt. Aber vielleicht waren Benders Angreifer ja mit anderen Waffen bestückt gewesen als die Drohnen, die über meine Kundschafter hergefallen waren.
All diese Dinge würde ich herausfinden, sobald ich dort war. Er ergab keinen Sinn, die Trümmerstücke von meinen Drohnen einsammeln und herbringen zu lassen. Das würde zu lange dauern, und außerdem bestand die Gefahr, dass sie dabei etwas verloren oder weiter beschädigten. Stattdessen würde ich mein gesamtes Kontingent Roamer zu der Stelle schicken und alles aus nächster Nähe inspi zieren lassen. Doch zuvor wollte ich meine Erkundungsdrohnen nach herannahenden Boojums Ausschau halten lassen, auch wenn es unwahrscheinlich schien, dass sie sich auf einmal für das Wrack interessierten, nachdem sie es so lange unbehelligt im Weltraum hatten treiben lassen. Was vermutlich daran lag, dass es sich vom System entfernte. Wenn ich sie mit meinen Aktivitäten aufschreckte, würden sie es sich aber vielleicht anders überlegen.
Ich muss zugeben, dass ich schneller zu der Fundstelle hinflog, als ratsam war. Im Moment war Vorsicht einfach nicht meine oberste Priorität. Zum Glück begegnete ich unterwegs keinen Boojum-Wachposten. Und noch mehr Glück hatte ich, dass ich nicht mit irgendwelchen Asteroiden zusammenstieß.
Ich ließ die Roamer auf das Wrack los. Dabei bestätigte sich schnell mein Verdacht, dass Benders Schiff von einer Explosion im Inneren auseinandergerissen worden war. Wahrscheinlich hatte der Laser das Kontrollsystem des Atomreaktors zerstört. Ich erinnerte mich an mein erstes Zusammentreffen mit Medeiros, vor vielen, vielen Jahren in Espilon Eridani. Damals hatte er das gleiche Schicksal erlitten. Dabei hatte die Kernschmelze auch seine Matrix vernichtet. Ich konnte nur hoffen, dass es Bender nicht genauso ergangen war.
Natürlich war die Sonde ganz anders konstruiert als Medeiros’ Kriegsschiff. Das Brasilianische Reich hatte sogar seine menschlichen Soldaten für entbehrlich gehalten, von einer replizierten Intelligenz ganz zu schweigen. Bender steckte dagegen in einem Schiff, das ich extra neu gestaltet hatte, damit die Replikanten-Matrix darin sicherer war.
Nachdem die Roamer von außen alles inspiziert hatten, drangen sie in das Sondeninnere ein. Ich hatte verschiedene Videofenster geöffnet und versuchte, alles gleichzeitig im Auge zu behalten. Schließlich gab ich jedoch meine VR auf und steigerte stattdessen meine Wahrnehmungsrate. Damit hatte ich zwar nur noch Datenfenster zur Verfügung, doch das war es mir wert, denn nun entging mir nichts mehr.
Einer der Roamer piepste, und ich richtete meine Aufmerksamkeit auf das entsprechende Fenster. Hätte ich in diesem Moment in einem Körper gesteckt, hätte ich gelächelt. Der Roamer hatte im stärksten gepanzerten Abschnitt der Sonde den Behälter für die Replikanten-Matrix gefunden. Er wirkte unversehrt.
Als der Roamer den Behälter öffnete, wich meine Freude jedoch blankem Entsetzen … Er war leer.
Nein, nicht leer. Schlimmer noch: Es fehlte nicht nur die Replikanten-Matrix, sondern auch die Schnittstellen-Hardware. Das war nicht gut. Offenbar hatte irgendwer beides ausgebaut, wahrscheinlich um Bender zu untersuchen und vielleicht sogar wiederzubeleben. Ich dachte an Homer und malte mir schaudernd aus, wie Bender gefangen gehalten und gefoltert wurde.
Eines stand auf jeden Fall fest: Die Boojums beziehungsweise ihre Konstrukteure wussten, dass sie nicht allein im Weltraum waren.
Nachdem ich nun herausgefunden hatte, dass Benders Schiff leer war, legte ich meine panische Hast ab und schaltete stattdessen wieder auf paranoide Vorsicht um. Um sicherzugehen, dass ich auf dem Rückweg weder die Boojums auf mich aufmerksam machte noch gegen einen Asteroiden knallte, ließ ich mir für die Strecke fast eine Woche Zeit.
In der Zwischenzeit stand ich vor einem Dilemma: Sollte ich gleich jetzt von meinem Fund berichten oder abwarten, bis ich mehr wusste? War ich überhaupt dazu in der Lage, eine Woche lang Stillschweigen zu bewahren? Und würde Will den Mund halten können? Ich hatte ihn zwar nicht explizit darum gebeten, aber eigentlich ging ich davon aus, dass er abwarten und mir nicht die Schau stehlen würde.
Egal. Ich zog meine Konsole heran und verfasste einen Blog-Eintrag. Als erster Bob-Replikant hatte ich einige Follower und war mir ziemlich sicher, dass Luke und Marvin jeden Post lesen würden.
Ich brauchte mehrere Sekunden, um den richtigen Ton zu treffen. Vorsichtiger Optimismus, gepaart mit einer realistischen Sicht auf die möglichen Probleme. Ich war voller Hoffnung, aber zugleich auch auf alles vorbereitet.
Schließlich war ich fertig und drückte auf Posten. Dann lehnte ich mich zurück und wartete ab. 3 … 2 … 1 …
Luke, Marvin und Bill tauchten gleichzeitig bei mir auf. Sie redeten wild durcheinander und wedelten mit den Armen.
Ich drehte mich auf dem Bürostuhl zu ihnen um und wartete, bis Ruhe einkehrte. »Aber natürlich«, sagte ich schließlich. »Ich habe gerade nichts vor. Ihr könnt gerne vorbeikommen.«
»Du kannst mich mal«, erwiderte Marvin. »Wo ist er?«
»Nun, das ist die Vierundsechzigtausend-Dollar-Frage, nicht wahr?« Während ich für alle Stühle entstehen ließ, trat Jeeves mit Kaffee ein.
»Verdammt«, murmelte Marvin. »Verdammt, verdammt …«
»Was ist der nächste Schritt?«, fragte Luke. »Hast du einen Plan?«
»Noch keinen konkreten, nein. Ich glaube, als Erstes müssen wir die Basis der Boojums ausfindig machen, oder die Quelle oder was auch immer. Ich halte es für gut möglich, dass Bender dort ist. Wenn nötig, können wir diesen Ort mit SUDDAR bestreichen, bis wir seine Matrix finden, und dann weitersehen.«
»Sprichst du von einem Überfall?«
»Wenn das die beste Vorgehensweise ist …« Ich reckte das Kinn vor. »Falls irgendwer Bender gekidnappt hat und mit ihm herumexperimentiert, halte ich mich sicher nicht lange mit diplomatischen Depeschen auf.«
»Ganz ruhig, Bob«, sagte Bill. »Lass uns erstmal abwarten, was wir dort finden, bevor wir mit dem Bau von Bomben anfangen, okay?«
»Ja, schon klar. Macht euch keine Sorgen, ich werde vorsichtig sein.«
Darauf wusste keiner der anderen etwas zu sagen. Schließlich nickte Marvin und stand gemeinsam mit Luke auf. Sie winkten mir zu und verschwanden.
Damit war nur noch Bill da.
»Also, Nummer zwei, was gibt’s Neues?«
»Ha, ha. Ich bin geblieben, weil ich dich fragen will, wie du in das System eindringen und nach den Boojums suchen willst – und auch, ob du diese Sache an die große Glocke zu hängen planst.«
»An die große Glocke …? Was zum Teufel? Willst du damit etwa andeuten, dass irgendwer was dagegen haben könnte?«
»Natürlich nicht, Bob. Zumindest niemand aus unserer Generation. Die Sternenflotte agitiert allerdings …«
»Wie bitte? Die Sternenflotte?«
Bill seufzte. »Du hast meinen Blog immer noch nicht gelesen, stimmt’s?«
»Äh, nein. Tut mir leid, ich war beschäftigt.«
»Erinnerst du dich noch an Morlock? Wir nennen ihn und seine Gruppe mittlerweile Sternenflotte, weil sie von nichts anderem reden als der Obersten Direktive. Für sie ist sie zu einer Art Evangelium geworden. Sie wollen, dass wir nicht einmal mehr mit den Menschen interagieren. Und sie versuchen, eine formelle Erklärung zu erwirken, dass wir alle Spezies, die wir finden, in Ruhe lassen.«
»Ist eine formelle Erklärung so etwas wie ein Gesetz?«
Bill schnaubte. »Wir haben keine Gesetze. Aber wenn sich genügend Leute zusammentun, können sie gesellschaftlichen Druck erzeugen.«
»Wie? Etwa durch Ausgrenzung?«
»Na ja, irgendwas in der Art. Sicher wird es um irgendeine Form von Ansehensverlust gehen.«
»Um Himmels willen, Bill. Der Ursprüngliche Bob hat sich einen Dreck um so etwas geschert.«
»Ja, ich weiß, aber die neuen Bobs ähneln ihm immer weniger. Ich nenne sie auch gar nicht mehr Bobs, sondern nur noch Replikanten, um die Unterscheidung klarzumachen.«
»Und sie machen sich mehr Gedanken darüber, was andere von ihnen halten?«
»Na ja, noch weniger Gedanken als der Ursprüngliche Bob können sie sich schlecht machen. Aber du hast recht. Wir sehen immer mehr Replikanten, die sich zusammenschließen und alle möglichen Interessensgruppen bilden .«
»So wie die Sternenflotte und die Borg.«
»Mhm. Und die Skippys …«
»Skippys? Skippys? « Ich merkte selbst in der VR , wie mir fast die Augen aus dem Kopf traten. »Was soll das heißen? Sehen ihre Avatare aus wie Bierdosen, und beschimpfen sie andere Leute als Affen?«
Bill schnaubte seinen Kaffee durch die Nase und brauchte einen Moment, um sich wieder zu fassen. »Nein, diese Gruppe versucht ein Matrjoschka-Gehirn zu bauen. Du weißt schon, eine Singularität, also eine Super-KI . Ich weiß nicht, wer auf ihren Spitznamen gekommen ist, aber die Skippys haben sich noch nicht darüber beschwert. Sie wollen ebenfalls, dass wir den Kontakt mit der Menschheit abbrechen, aber nur, weil sie glauben, dass die Menschen uns aufhalten und daran hindern, unser Schicksal zu erfüllen.«
»Gibt es noch andere …? Nein, vergiss die Frage, ich werde deinen Blog lesen. Verdammt, da bin ich wenige Jahrzehnte weg, und schon fliegt der ganze Laden auseinander.« Ich grinste Bill an. »Offenbar habe ich das eine oder andere verpasst.«
»Das ist mal eine echte Untertreibung. Gib Bescheid, wenn du noch was brauchst.« Damit nickte Bill mir zu und verschwand.
Wir lebten in wirklich interessanten Zeiten.