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Zwischenspiel
Bob – Juli 2334
Virt
Hugh saß mit einem Kaffee in der Hand auf einem Sitzsack und starrte ins Leere. Er war sofort bei mir aufgetaucht, als ich ihm die Aufzeichnungen der letzten Tage zugeschickt hatte.
»Betäubungspistolen, wie?« Er trank einen Schluck. »Eine interessante Bewaffnung.«
»Inwiefern?«
»Es gibt viel einfachere Methoden, seine Gegner auszuschalten. Man könnte sie zum Beispiel erstechen oder mit echten Patronen erschießen. Da Himmelsfluss keine Raumstation ist, muss man sich keine Gedanken über Löcher in der Außenwand machen. Es bräuchte schon ein ziemlich großes Kaliber, um das Hüllenmaterial auch nur ansatzweise zu beschädigen.«
»Okay. Was lernen wir daraus?«
»Wenn wir davon ausgehen, dass die Waffe gestohlen wurde – und ich glaube, das können wir –, dann scheint die Verwaltung ganz bewusst niemanden töten zu wollen.« Hugh schwieg einen Moment lang. »Und das Verstreuen … Ich glaube, dass ihr den Begriff richtig deutet. Da wäre Töten ebenfalls unkomplizierter.«
»Ist das bedeutsam?«
Hugh setzte ein paarmal zu einer Antwort an. Schließlich verzog er das Gesicht. »Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht töten die Quinlaner einander einfach nicht gern. Aber …«
»Ja, dagegen spricht Quin. Ihr Planet.«
»Hör mal, Bob, ihr habt doch immer noch den Ersatz-Manny, den ihr in der Nähe der Transitstation begraben habt. Habt ihr darüber nachgedacht, ihn zu aktivieren und jemanden darin loszuschicken? Vielleicht stromaufwärts.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, er ist für den Notfall gedacht, Hugh. Wenn wir einen von unseren schrotten. Wir müssen zu viert bleiben.«
»Hmm. Das ist schade. Ich würde gern einen ausprobieren.«
»Wir haben immer noch die Testversionen auf Quin. Soweit ich weiß, haben sich Will und Howard mit denen vergnügt.«
»Und anscheinend einen kaputtgemacht«, erwiderte Hugh. Als er meinen Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Oh, das wusstest du wohl noch gar nicht. Äh, sag besser Bridget nichts davon.«
»Howard hat ihn zerstört?«
Anstelle einer Antwort grinste Hugh nur. Er stellte seine Tasse ab und stand auf. »Ich habe den Scan von Galen Town fertig. Bei der Auflösung, die ich in der kurzen Zeit hinbekommen habe, konnte ich nichts Ungewöhnliches entdecken. Vor allem habe ich keine Elektronik oder verbotene Technik gefunden.«
»Was bedeutet, dass der Widerstand entweder keine technischen Geräte besitzt oder sie sie nicht in der Stadt aufbewahren. Was ist mit den Betäubungspistolen?«
Hugh zuckte die Achseln. »Da sie keine Elektronik enthalten, hätte ich speziell nach ihnen Ausschau halten müssen. Und bevor ich das tun konnte, ist die Wärmeableitung ausgefallen. Genau aus diesem Grund können wir nicht einfach willkürlich scannen. Für diese Untersuchung musste ich eine Drohne opfern, und die fehlt mir jetzt, bis ich einen Ersatz einfliegen kann. Wir sprechen später weiter.« Er hob eine Hand und verschwand.
Da ich etwas Zeit erübrigen konnte, beschloss ich ganz spontan, Will auf Walhalla zu besuchen. Unsere letzte Begegnung hatte sehr abrupt geendet. Als er mir eine Einladung schickte, tauchte ich sofort bei ihm auf.
Eine Sekunde später legte ich meinen Manny ab und schaute mich um. Ich erwartete, Will in einem Sessel sitzend zu sehen. Doch stattdessen erblickte ich einen Zwei-Fuß-Roamer, der mir mit einem Bein zuwinkte. Er setzte sich in Bewegung und hielt einen Moment später vielsagend inne. Wahrscheinlich warf er mir einen ungeduldigen Blick zu. Da Roamer vollkommen symmetrisch konstruiert waren, ließ sich das jedoch nicht mit Sicherheit sagen.
Die Roamer hatten sich seit ihrer Erfindung vor zweihundert Jahren nicht sehr verändert. Zumindest nicht prinzipiell. Natürlich hatte es viele Verbesserungen gegeben, wie zum Beispiel die Casimir-Energiequelle, bessere Materialien, kompaktere Elektronik und so weiter. Dennoch war ein Roamer immer noch ein achtbeiniger Allzweckroboter, der von einer beschränkten Maschinenintelligenz gesteuert wurde. Vielleicht hatten die Skippys recht. Eine funktionierende KI , ganz gleich, ob sie empfindungsfähig war oder nur auf Zombie-Niveau operierte, würde die Gesellschaft vielleicht noch stärker verändern, als es die Subraumtheorie und die daraus resultierenden Technologien getan hatten.
Der Roamer führte mich aus Wills Haus hinaus und eine lange Reihe von Treppen hinab, von denen ein paar erbaut und andere einfach in das natürliche Gestein geschlagen worden waren. Als ich gerade anfing, mich zu fragen, ob ich den Roamer womöglich missverstanden hatte, erreichten wir schließlich eine Ebene auf der Südseite des Kaps, auf dem Will sein Haus errichtet hatte.
Dort stand er und winkte mir zu, während der Roamer kehrtmachte und zum Haus zurückging. Da er nun nicht mehr auf die Beschränkungen meiner humanoiden Gestalt Rücksicht nehmen musste, kletterte er geradewegs die Klippe hinauf. Dieser Angeber.
»Hey, Will. Was ist das hier?«
Will deutete lächelnd auf das Sammelsurium aus Topfpflanzen und Beeten. »Ein experimenteller Garten. Ich habe hier sowohl terranische als auch einheimische Pflanzen und prüfe, wie gut sie zusammenpassen. Wir wollen keine Überraschungen riskieren, wenn wir mit der Landwirtschaft beginnen.«
Ich nickte bedächtig. »Es ist wirklich interessant: Der Ursprüngliche Bob hat nie viel mit Gartenarbeit am Hut gehabt. Und trotzdem seid du und Bill zu echten Pflanzenspezialisten geworden.«
»Wenn’s ums Terraformen geht, gewinnt das noch mal eine ganz andere Bedeutung, mein Freund.« Will deutete auf ein paar Adirondack-Stühle am Rand des Gartens. Ich setzte mich auf einen von ihnen und bewunderte einen Moment lang die Aussicht. Will hatte sich einen Ort ausgesucht, von dem man auf einen großen, von niedrigen Bergen umgebenen See blickte. Die weit entfernten Hänge waren nur ungefähr bis zur Hälfte mit Bäumen oder baumartigen Pflanzen bewachsen. Was wahrscheinlich an der nach wie vor zu dünnen Atmosphäre lag.
Will folgte meinem Blick und erahnte, worüber ich nachdachte. »Die Baumgrenze wandert jedes Jahr mehrere Fuß die Hänge hinauf. Sobald sich das System stabilisiert hat, wirst du bis zu den Bergspitzen Vegetation sehen. Dann werden Menschen hier leben, ohne Atemmasken tragen oder sich unter einer Kuppel aufhalten zu müssen.«
Nach dieser Erklärung schwiegen wir wieder ein paar Sekunden lang. Will schien es nicht eilig zu haben. Schließlich drehte ich mich zu ihm um. »Bei meinem letzten Besuch haben wir über die Sternenflotte gesprochen. Größtenteils jedenfalls. Es gibt die Sternenflotte, die Borg, Gamers, Skippys …«
»Und das sind nur diejenigen, die Spitznamen tragen«, erwiderte Will. »Das Bobiversum erweitert sich in viele Richtungen. Buchstäblich und metaphorisch betrachtet. Mittlerweile nehmen einige Replikanten ihre Aufgabe als Von-Neumann-Sonden sehr ernst. Zum Beispiel gibt es aktuell mehrere tausend Bobs, die sich aktiv vom Weltraum der Menschen entfernen. Manche halten an, um Stationen zu errichten, andere beschleunigen einfach nur.«
»Ja.« Ich betrachtete meine Hände. »Ich habe dabei einfach ein mieses Gefühl. Das Bobiversum war eine Weile lang eine Überflussgesellschaft und eine Utopie, zumindest für die meisten von uns. Aber was wird aus einer Überflussgesellschaft, wenn ein Teil von ihr Macht über die anderen ausüben will?«
»Ich nehme an, dann verwandelt sie sich in eine Dystopie oder spaltet sich in zwei Gesellschaften auf.«
»Aber wird der Übergang geordnet und friedlich verlaufen?«
Will seufzte. »Ich weiß es auch nicht, mein Freund. Wir müssen einfach abwarten, wie weit die Sternenflotte gehen wird.«
Ich lehnte mich mit verschränkten Armen zurück und starrte in die Ferne. Anscheinend war eine Utopie ein instabiler Zustand.