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Verfolgt von Problemen

Bob – Juli 2334

Ellbogen

Ein neuer Tag, eine neue Stadt. Das Leben auf Tour mit einer Band konnte sehr langweilig sein. Jedenfalls laut Garfield. Aus irgendeinem Grund verglich er uns mit Rockstars.

Wir ließen uns einen ganzen Tag lang treiben und kamen schließlich in einer Stadt namens Ellbogen an. Ja. Ellbogen. Der Name schien keine Kurzform zu sein. Vielleicht hieß die Stadt so, weil sie an einer Flussbiegung lag.

Wir hievten unsere tropfnassen Hintern auf den Landungssteg, schüttelten uns nach quinlanischer Art wie Hunde trocken und schlenderten ins Ortszentrum.

Ellbogen war relativ groß und schien von vielen darstellenden Künstlern bewohnt zu werden. Aber möglicherweise fand auch nur gerade ein Festival statt. Ungefähr jeder Dritte hatte ein Instrument dabei oder war wie ein Minnesänger angezogen. Vielleicht auch wie ein Clown. Das war teilweise schwer zu sagen.

Wir sahen mindestens zwei Bühnen, auf denen Leute auftraten, außerdem ein Kindertheater mit Puppen, die den Muppets ähnelten. Nein, Kermit war nicht dabei – das wäre auch echt zu schräg gewesen –, aber die Hauptfigur erinnerte mich an Fozzie. Als ich anhielt, um zuzuschauen, stieß Bridget mir einen Ellbogen in die Rippen.

Grummelnd schloss ich mich unserer Gruppe wieder an. Bridget fragte Passanten nach einer Bibliothek. Der zweite musterte uns auf verstörende Weise von Kopf bis Fuß und wies uns dann den Weg.

»Das war merkwürdig«, sagte Bill, als wir weitergingen. »Sind wir vielleicht underdressed?«

Ich blickte auf meinen Körper hinab, der abgesehen vom Fell nackt war. »Äh …« Bill lachte, und ich grinste. »Aber ich bin froh, dass nicht nur ich den Typen eigenartig fand.«

Da Bridget nun wusste, wo es hinging, hatte sie es nicht mehr ganz so eilig. Also konnten wir stehen bleiben und die Aufführungen betrachten. Ich stellte ein paar Fragen und ließ mir bestätigen, dass wir tatsächlich in ein jährlich stattfindendes Festival geraten waren. Es war irgendein örtlicher Brauch. Ich verstand zwar nicht genau, was gefeiert wurde, aber für eine Party war mir jeder Anlass recht.

Der Gesang war überraschend gut. Trotz ihrer Ähnlichkeit mit Wieseln und anderen Nagetieren besaßen Quinlaner erstaunlich gute Stimmen und ein ausgeprägtes Gespür für Harmonien. Ihre Tanzdarbietungen konnten da allerdings nicht ganz mithalten. Ihre kurzen Beine waren einfach nicht zum Springen geeignet. Ich versuchte weltmännisch und aufgeschlossen zu sein, aber es wollte mir nicht gelingen, ihre Bemühungen zu würdigen.

Nachdem wir eine Weile gelaufen waren, wurde es um uns herum ruhiger. Wir schienen in ein Geschäftsviertel gelangt zu sein, in dem nicht viel los war, da sich vermutlich alle auf der Party befanden.

»Augenblick mal, Leute«, sagte Garfield, als wir um eine Ecke bogen.

»Ja?«

»In dieser Straße« – er deutete in die entsprechende Richtung – »waren wir bereits. Ich habe eine Karte im Kopf angefertigt und festgestellt, dass der Typ uns auf einen ziemlichen Umweg geschickt hat. Mein Spinnensinn springt gerade auf und ab und wedelt mit den Armen.«

Ich drehte mich und erblickte eine vertraute Verkehrsinsel. Nun spielte auch mein eigener Spinnensinn verrückt. Ich drehte mich langsam im Kreis und betrachtete die gesamte Umgebung. »Bill? Bridget?«

»Nichts«, sagte Bridget. »Wir sind nur noch ungefähr zwei Seitenstraßen von der Bibliothek entfernt. Vielleicht kannte er nur den einen Weg dorthin. Oder er wollte, dass wir an den Sehenswürdigkeiten vorbeikommen. Hört mal, ich verstehe, dass ihr euch Sorgen macht, aber bis zur Bibliothek ist es weniger weit als zum Fluss, deswegen …«

»Stimmt«, erwiderte ich. »Aber bleibt wachsam.«

Während wir weitergingen, konzentrierten wir uns mit sämtlichen Sinnen auf die Umgebung und machten uns auf böse Überraschungen gefasst. Wenn in diesem Moment ein Unschuldiger aus einer Tür herausgetreten wäre, hätte es ein schlimmes Ende mit ihm nehmen können.

Plötzlich blieb Bridget so unvermittelt stehen, dass Bill fast gegen sie gelaufen wäre. »Wie nennt ihr das noch mal? Spinnensinn?« Sie deutete auf ein reich verziertes, offiziell aussehendes Gebäude, über dessen Eingang auf Quinlanisch Heiligtum des Geschriebenen Wortes stand.

»Was ist los, Bridge?« Abgesehen von den beiden Leuten, die vor der Tür standen, konnte ich nichts sehen.

»Ich bin nicht sicher. Einer der beiden hat sich zu uns umgedreht und dann ruckartig wieder weggeschaut, als hätte jemand Nicht hinsehen, du Idiot zu ihm gesagt …«

Wir blieben einen Moment lang unentschlossen stehen. Dann sagte Bill: »Lasst uns ausprobieren, was passiert, wenn wir umkehren.« Er machte kehrt und ging in die Gegenrichtung davon.

Bridget, Garfield und ich wechselten einen kurzen Blick und folgten ihm.

Einen Moment später brach die Hölle los.

Hinter uns erklang ein Ruf, den gleich darauf jemand beantwortete. Fast gleichzeitig stürmte mehr als ein Dutzend Quinlaner aus Hauseingängen und Gassen auf den Platz. Sie galoppierten auf allen vieren und trugen wie Piraten Schwerter zwischen den Zähnen.

»Oha, ich glaube nicht, dass dies das offizielle Empfangskomitee der Stadt ist.«

»Vielen Dank für die scharfsinnige Analyse, Bob«, sagte Bridget. »Jetzt beweg deinen Hintern, oder geh mir aus dem Weg.« Ohne abzuwarten, wofür ich mich entscheiden würde, schoss sie an mir vorbei und auf direktem Weg zum Dock. Anscheinend hatte sie Garfields Karte zu Rate gezogen.

Natürlich hatte das Empfangskomitee genau damit gerechnet. Vor uns tauchten sechs weitere Quinlaner auf, die entweder mit sehr langen Messern oder mit Kurzschwertern bewaffnet waren. Egal. Ich hatte ohnehin nicht vor, anzuhalten und die Klingen zu vermessen. Drei von ihnen schienen außerdem Handfeuerwaffen in Holstern stecken zu haben. Waren das Betäubungspistolen?

Ich erhöhte meine Wahrnehmungsrate ein wenig, um mich mit den anderen unterhalten zu können, aber nicht so stark, dass ich dabei die Verbindung zum Manny verlor. Bridget, Bill und Garfield synchronisierten sich automatisch mit mir.

»Wie viele sind es?«

»Soweit ich es überblicken kann, sechs vor und zwölf hinter uns. Ein paar von denen vor uns haben Betäubungspistolen.«

»Hinter uns sind vierzehn«, korrigierte Garfield Bridgets Schätzung.

»Links klafft eine große Lücke. Die könnten wir ausnutzen.«

»Das ist ein gut geplanter Überfall, Bob. Glaubst du wirklich, dass sie aus Versehen eine ganze Straße unbewacht gelassen haben? Das kann ich mir kaum vorstellen.«

Bill hatte recht. »Guter Punkt. Lasst uns nicht dorthin gehen.«

»Wir werden nicht durchbrechen können, solange sie uns mit diesen Messern bedrohen«, sagte Garfield.

»Vielleicht ist es Zeit, auch Unmögliches zu tun. Ich will nicht als Sushi enden.«

Für Bridget war das ein großes Zugeständnis. »Oder als Geschenk verpackt.«

»Okay« , pflichtete Bill bei. »Lasst uns die sechs da vorn mit voller Kraft überrennen.«

Nachdem alle zugestimmt hatten, schaltete ich meinen Manny in Overdrive. Er verwandelte sich zwar nicht in einen Transformer, doch dafür erhöhte sich die interne Energieversorgung auf vollen Output, sämtliche Reparatur-Naniten wurden ausgeschüttet, und das falsche Blut zirkulierte schneller, um das System stärker abzukühlen. Anschließend würden ein paar Wartungsarbeiten fällig sein.

In meinem Sichtfeld verlangsamte sich das Geschehen, und ich nahm mir Zeit, um die Winkel und Entfernungen abzuschätzen. Garfield und Bridget waren auf einem Kurs unterwegs, der sie entweder durch die jeweiligen Enden der Verteidigungslinie oder außenherum führen würde, also würde ich in der Mitte durchbrechen müssen. Ich sah zu Bill hinüber, der offenbar dieselbe Idee gehabt hatte wie ich.

Wir rannten geradewegs auf die Gegner zu und beschleunigten dabei, wie es nur mechanische Otter vermochten. Knapp außerhalb ihrer Waffenreichweite ließen wir uns auf alle viere fallen. Wie erwartet senkten die Quinlaner die Spitzen ihrer Klingen zu uns herab.

Wir sprangen und flogen direkt über sie hinweg.

Natürlich können echte Quinlaner ebenfalls springen, allerdings nicht derart kraftvoll. Nach quinlanischen Maßstäben legten wir zwar nicht gerade einen Stabhochsprung ohne Stab, aber doch eine Mischung aus Hoch- und Weitsprung hin, mit der wir alle Rekorde gebrochen hätten.

Das Gleiche galt für unseren Sprint. Wir landeten genau in dem Moment, als auch Garfield und Bridget hinter der Verteidigungslinie auftauchten. Die beiden Gegner an den äußersten Enden hatten gerade nach oben geschaut, als sie sie ausknockten. Sie ließen sich ebenfalls auf alle viere fallen. Dann zündeten wir den Nachbrenner und verschwanden schneller in der Straße, als irgendein echter Quinlaner laufen konnte. Ein paar scharfe Aufprallgeräusche an den Wänden um uns herum verrieten, dass nun mindestens einer unserer Gegner auf uns schoss.

Einen Moment lang herrschte hinter uns erstauntes Schweigen, was gut war, dann erklangen mehrere Warnrufe, was schlecht war. Diese Rufe galten offensichtlich jemandem, der sich ein gutes Stück von ihnen entfernt befand. Ich hatte den schlimmen Verdacht, dass diese Sache noch nicht ausgestanden war.

»Wir müssen einen Umweg machen, Leute. Auf dem direkten Weg sind entweder Fallen ausgelegt, oder jemand lauert dort auf uns.«

Ich erhielt drei Bestätigungssignale. Keiner von uns verschwendete seine Energie auf weitere Worte. An der nächsten Kreuzung bogen wir scharf nach links ab, immer noch in einem Tempo, das jeden quinlanischen Olympioniken zur Verzweiflung getrieben hätte. Falls sie so etwas wie Olympische Spiele überhaupt kannten.

Weitere Rufe ertönten. Zumindest hatten wir es geschafft, sie zu verärgern.

»Nach links und rauf da«, sagte Bill.

Ich blickte in die entsprechende Richtung. Ha, nicht schlecht. Ein dreistöckiges Gebäude mit Flachdach, das relativ leicht zu erklimmen war, wenn man auf Parkour stand. Man kann durchaus sagen, dass Quinlaner nicht gerade geborene Kletterer sind. Sie wären niemals darauf gekommen, dass wir an Abflussrohren hochklettern und von einem Dach zum nächsten springen könnten.

Bill stieg als Erster hinauf, wir anderen folgten ihm. Unsere mechanischen Muskeln und Computerreflexe sorgten dafür, dass es zu keinerlei Ausrutschern kam, und so lagen wir bereits wenige Sekunden später flach auf dem Dach. Es war von einer niedrigen Mauer umsäumt, die vermutlich nur aus optischen Gründen dort angebracht worden war. Jedenfalls konnte ich mir keinen praktischen Zweck vorstellen, dem sie dienen sollte. Ich öffnete den Mund, spuckte einen Roamer aus und setzte ihn auf die Mauerkrone. Die anderen taten dasselbe, und einen Moment später hatten wir vier Videofenster in unserem Head-up-Display, während wir selbst in Deckung lagen.

Unsere Verfolger kamen in Sicht. Sie bildeten einen wild zusammengewürfelten Haufen. Offenkundig hatten sie mit dieser Entwicklung nicht gerechnet. Ein paar von ihnen blickten in die Hauseingänge und Gassen, die anderen liefen auf allen vieren hin und her. Ich sah fünf offen getragene Betäubungspistolen. Schließlich stieß eine von ihnen einen Ruf aus, und die anderen versammelten sich um sie. Ich markierte sie als potenzielle Anführerin und schoss eine Nahaufnahme von ihr.

Sie begann ein Gespräch mit den anderen, von dem wir nichts mitbekamen. Offenbar war es ein Streit, denn sie wedelten heftig mit den Armen und fielen sich ständig gegenseitig ins Wort. Einer von ihnen versuchte sogar, einen anderen zu beißen. Doch schließlich einigten sie sich auf einen Plan. Zwei Quinlaner bezogen Stellung in den Schatten, von wo sie die Straße im Blick behalten konnten, während der Rest in die Richtung zurückkehrte, aus der sie gekommen waren.

»Wie es aussieht, werden wir eine Weile hierbleiben müssen«, bemerkte Bill.

»Ich brauche einen Kaffee«, verkündete ich.

Wir ließen die KMI s unserer Mannys Wache schieben und versetzten uns alle in meine VR . Sobald wir auf unseren jeweiligen Lieblingssitzmöbeln Platz genommen hatten, öffnete ich die vier Videofenster von unseren Überwachungsroamern und befestigte sie an der Wand.

Bill beugte sich vor und schaute jedem von uns in die Augen. »Als Erstes müssen wir wohl klären, woher sie wussten, dass wir kommen.«

»Du setzt also voraus, dass sie uns erwartet haben.«

Bridget sah mich von der Seite an. »Davon ist auszugehen. Schließlich haben wir in keine Wagen geschaut und auch sonst keine Aufmerksamkeit erregt.«

»Ein einziger Fehler …«

»Das ist aber ein guter Punkt. Ich hatte schon das Gefühl, dass wir in eine Falle laufen, als wir uns nach dem Weg zur Bibliothek …« Garfield verstummte mitten im Satz und schaute ins Ferne, wobei sich seine Augen sichtlich weiteten.

»Was? Was?« Wir alle kannten diesen Gesichtsausdruck. Es war der Geistesblitzblick.

Anstatt zu antworten, öffnete Garfield ein Videofenster, in dem unsere Begegnung mit dem Quinlaner zu sehen war, der uns den Weg zur Bibliothek beschrieben hatte. Er pausierte das Video und öffnete ein weiteres, das die Konfrontation vor der Bibliothek zeigte. Er spulte die Aufnahme ein Stück vor, hielt sie ebenfalls an und platzierte die beiden Fenster nebeneinander.

Der hilfreiche Quinlaner war einer unserer zwanzig Gegner vor der Bibliothek.

»Damit gibt es keinen Zweifel mehr, wenn je einer bestanden hat.« Bill sah uns erneut in die Augen. »Sie haben speziell nach uns Ausschau gehalten, in einer Stadt, in der wir noch nie zuvor gewesen waren.«

»Die normale Bevölkerung besitzt weder Telefone noch Funkgeräte oder Telegrafen.« Garfield öffnete Hughs Bericht. »Sie haben keine Elektrizität.«

»Und Hugh hat noch mal bestätigt, dass es in Galen keine elektrischen Geräte gibt«, fügte ich hinzu. »Aber es gibt auch andere Möglichkeiten, über lange Entfernungen miteinander zu kommunizieren.«

Garfield zuckte die Achseln. »Mit dem Pony-Express, der Schiffspost oder Semaphor-Telegrafie wie in Vorgriff auf die Vergangenheit . Von alldem haben wir nichts gesehen.«

»Was bedeutet, dass sie über eine unmittelbarere Kommunikationsform verfügen.«

»Du meinst die Verwaltung?«

»Das scheint mir die wahrscheinlichste Erklärung zu sein.«

»Glaubst du wirklich, dass sie sich mit Einheimischen zusammentut?«

»Wer sagt, dass sie Einheimische sind?«, mischte sich Bill in meine Diskussion mit Garfield ein. »Ich meine, sie sind offensichtlich Quinlaner, aber vielleicht kehren sie nach Feierabend in ihre technisch voll ausgestatteten unterirdischen Bunker zurück.«

»Ah. Dann wären sie so etwas wie eine Geheimpolizei.«

»Wartet«, sagte Bridget. »Wieso glaubt ihr, dass das keine Widerstandskämpfer waren?«

»Wegen der schnellen Kommunikation zwischen den Städten und ihren vielen Betäubungspistolen«, antwortete Bill.

Ich nickte. »Das ergibt durchaus Sinn, wenn man darüber nachdenkt. Es existiert eine hochtechnisierte Geheimgesellschaft, welche die breite Öffentlichkeit kontrolliert oder zumindest überwacht. Vermutlich sind sie es auch, die Leute ›verstreuen‹, wenn sie gegen die Regeln verstoßen.«

»Moment mal. Die Leute, die in Galen Town Skeve töten wollten, haben über das Verstreuen gesprochen, als wäre es etwas, das ihnen jemand anders antäte. Sie können nicht zur Verwaltung gehören.«

Garfield hob die Hände. »Falls Skeve und seine Kontaktleute uns nicht fangen wollten, Bridget. Vielleicht ist ihnen aufgefallen, dass wir nach Skeve gesucht haben.«

»Nein, das kann auch nicht sein. Denk dran, dass Skeve bereits zweimal verstreut worden ist. Er konnte in Galen Town niemanden kennen.« Ich verzog frustriert das Gesicht. Verdammt. Fliehen wir vor Skeve und seinen Leuten oder vor seinen Angreifern? Und falls Letzteres stimmt, heißt das dann, dass es mehr als nur eine Gruppe gibt? Und vertritt irgendjemand von ihnen die Verwaltung?«

Bill holte tief Luft und lehnte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen zurück. »Sei es, wie es will, wir haben jedenfalls irgendjemandes Aufmerksamkeit erregt. Und wenn diejenigen über irgendeine Art inoffiziellen Kommunikationskanal verfügen, sind sie dem Rest der Bevölkerung so oder so um eine Nasenlänge voraus.«

Ich seufzte. »Wir haben zwar viele Theorien, aber keine echten Antworten. Die Frage lautet, ob wir uns fangen lassen?«

»Was?«

»Bist du verrückt?«

»Das ist lächerlich!«

Offensichtlich traf meine Idee auf wenig Gegenliebe. Ich erwiderte die schockierten und aufgebrachten Blicke. »Es ist nur ein Gedanke, Leute. Und diese Möglichkeit steht uns immer noch offen, wenn die Lage verzweifelt wird. Wahrscheinlich würde es uns auf die eine oder andere Weise mit irgendjemanden in Kontakt bringen.«

»Wir werden es uns merken, Bob«, sagte Bill. »Aber ich glaube, für diesen Schritt müssten wir schon sehr verzweifelt sein. Es wäre eine Alles-oder-Nichts-Option, und wenn wir falschliegen, stehen wir wieder ganz am Anfang. Eigentlich schlimmer noch, weil die Verwaltung dann genau wüsste, mit wem sie es zu tun hat.«

Ich nickte und fühlte mich vage enttäuscht. Allerdings wusste ich nicht, ob über meinen Vorschlag oder die Reaktion meiner Freunde darauf.

Früh am nächsten Morgen hatten die Beobachter auf der Straße aufgegeben und waren nach Hause oder wohin auch immer zurückgekehrt. Also beschlossen wir, wieder unsere Mannys zu übernehmen. Als Erstes mussten wir vom Dach runter. Ich wollte nicht, dass wir auf demselben Weg hinunterstiegen, den wir herauf genommen hatten, da nicht auszuschließen war, dass irgendwer das Gebäude immer noch von einer weniger offensichtlichen Stelle aus beobachtete. Doch es stellte sich schnell heraus, dass unsere Aufstiegsroute die einzig Mögliche war. Alternativ blieb uns nur noch der Weg durchs Gebäude.

Zum Glück gab es einen Eingang, eine Dachluke, die wahrscheinlich direkt ins oberste Stockwerk hinabführte. Dummerweise schien sie verschlossen zu sein. Doch dafür hatten wir schließlich Roamer. Ich spuckte ein paar Zwei-Millimeter-Modelle aus und schickte sie durch Risse im Gebäude nach unten. Bereits nach wenigen Sekunden hatten sie das Problem geortet – einen einfachen Schieberiegel. Leider war dieses spezielle Roamer-Modell zu schwach, um ihn zu bewegen, selbst wenn wir unser gesamtes Kontingent auf diese Aufgabe angesetzt hätten.

»Können wir den Riegel durchtrennen?«, fragte Bill.

»Ich glaube, das müssen wir«, erwiderte ich. »Lasst uns schnell machen. Spuckt eure Flöhe aus.«

Insgesamt schickten wir zwanzig von den kleinen Kerlchen mit einsatzbereiten Lichtschwertern nach unten. Nach zehn Sekunden Kampf mit der Dunklen Seite gab der Riegel mit einem dumpfen Knall nach. Ich hob die Luke an, und wir stiegen vorsichtig die sehr steilen Stufen hinunter.

Das Gebäude sah wie ein Mietshaus aus – lange Korridore mit nummerierten Türen, die alle gleich weit voneinander entfernt waren. In der Mitte des Gebäudes gab es eine Treppe, aber natürlich keine Aufzüge. Die Stufen knarzten laut genug, um die Toten in der nächsten Stadt aufzuwecken, und wir zuckten bei jedem Schritt zusammen.

Als wir im Erdgeschoss ankamen, schaute Bridget sich um und streckte schließlich den Finger aus. »Hintertür.« Ohne auf unsere Zustimmung zu warten, ging sie voraus. Die Tür führte auf eine Gasse hinaus, in der es wegen der zu beiden Seiten aufragenden Gebäude ziemlich düster war. Wir blieben stehen, um die nächsten Schritte zu besprechen.

»Werden wir uns wieder einfach aus dem Staub machen?«, fragte Bill.

»Gute Frage«, erwiderte ich. »Möglicherweise ist es gar keine schlechte Idee, die Nacht über hierzubleiben und morgen früh die Bibliothek zu besuchen. Sie rechnen wahrscheinlich damit, dass wir sofort stromabwärts weiterziehen. Vielleicht haben sie sogar Wachen am Fluss postiert, die nach uns Ausschau halten.«

»Wir könnten aber auch zum nächsten Fluss übersetzen und stromaufwärts zurückkehren«, schlug Garfield vor. »Gut möglich, dass die Kommunikation zwischen den Flüssen weniger verlässlich oder zumindest langsamer ist.«

»Oder«, meldete Bridget sich zu Wort, »wir schwimmen unter Wasser flussabwärts und überspringen ein paar Städte.«

»Was haltet ihr davon, einen Nebenfluss zu nehmen?«, fragte Bill. Wir schauten ihn überrascht an. »Die Bevölkerung siedelt sich nicht ausschließlich an den Hauptwasserwegen an. Es gibt auch ein paar Nebenflüsse und Seitenarme, an denen meistens ein oder zwei kleine Städtchen oder Dörfer liegen.«

»In denen gibt es wahrscheinlich keine gut sortierten Bibliotheken, Bill. Danach suchen wir.«

»Ja, aber wahrscheinlich auch keine Schläger, die es auf uns abgesehen haben. Zumindest hoffe ich das.«

»Also gut. Dann stimmen wir ab.« Ich startete die Voting-App, und zwei Millisekunden später erschien das Resultat.

Jeweils eine Stimme für jede der vier Alternativen. Seufz.

»Na ja, dann ist es wohl Zeit für eine weitere Runde Schere, Stein, Papier, Echse, Spock

Die K.-o.-Runden dauerten ein paar zusätzliche Millisekunden, doch schon bald kristallisierte sich heraus, dass wir flussabwärts weiterziehen würden.

»Na schön, aber diesmal können wir uns nicht treiben lassen. Damit würden wir nur weiteren Ärger provozieren.«

»Einverstanden, Bill. Lass uns mit hoher Geschwindigkeit unter Wasser schwimmen, wie Bridget vorgeschlagen hat. Damit werden wir sie hoffentlich abhängen.«

Es machte mir schon jetzt keinen Spaß mehr, zum Ufer zu schleichen. Die Vegetation war dicht, und wie aquatisch die Quinlaner auch sein mochten, ich konnte matschigem Boden nichts abgewinnen. Doch schließlich befanden wir uns im Wasser.

Wir tauchten sofort unter und schwammen mehrere Stunden lang, so schnell unsere Mannys es zuließen, zwanzig bis dreißig Fuß unter der Oberfläche gen Westen. Wir hatten immer noch keine Wartungsarbeiten durchgeführt, und ich machte mir ein wenig Sorgen, dass es zu Ausfällen kommen könnte, doch die Mannys waren ordentlich gebaut und bereiteten uns keine Probleme.

Dieser Schwimm-Marathon würde uns in das nächste Segment führen. Wir waren uns einig, dass das eine gute Sache war und interessant werden würde. Ob wir damit unsere Verfolger abschütteln konnten, stand allerdings auf einem anderen Blatt.

Kurz vor dem Gebirge tauchten wir auf und schlossen uns zu einem Floß zusammen. Grundsätzlich wussten wir, womit wir zu rechnen hatten. Die Flüsse verengten sich, während sie sich der Abschnittsgrenze näherten, bis nur noch vier Ströme durch das Gestein flossen, die breit genug waren, um das gesamte Wasser zu transportieren, ohne dass es dabei zu Stromschnellen kam.

Die Berge selbst waren beeindruckend. Sie erhoben sich beinahe übergangslos aus der Hülle. Nach nur ein oder zwei Meilen Vorgebirge stiegen die Hänge in einem Winkel von mindestens siebzig Grad steil an. Diese extreme Steigung war nötig, um im Notfall die Atmosphäre zu versiegeln. Die Gebirge schienen endlos aufzuragen.

»Seid ihr sicher, dass die geschlossen werden können?«, fragte Bridget, während sie das spektakuläre Panorama betrachtete.

»Wir haben Scans davon«, erwiderte Bill. »Sie sind nicht sehr detailliert, aber man kann erkennen, dass ungefähr die mittleren hundert Meter der Abschnittsgrenze ein Diaphragma sind, ganz ähnlich wie eine Kamerablende. Wenn es in Gang gesetzt wird, verschließt es das Segment wahrscheinlich zur Gänze, bis zum Zentralzylinder. Wenn du deine Teleskopsicht aktivierst, siehst du zwei Garnituren Spanndrähte, Masten oder Streben, die links und rechts von der Mittellinie des Gebirges am Zentralzylinder befestigt sind.«

»Die Diaphragmen dienen vermutlich zwei Zwecken«, fügte Garfield hinzu. »Einerseits erhalten sie den Druck, wenn neben einem Segment ein neues angebaut wird, und andererseits verhindern sie im Katastrophenfall eine völlige Dekompression.«

»Wie fließt im Fall eines Verschlusses das Wasser hindurch?«, fragte ich.

»Es gibt bereits zwei Strömungsrichtungen. Wenn ein Segment dichtgemacht wird, muss man nur alles Wasser im Kreis fließen lassen.«

»Wow.« Bridget schüttelte ehrfürchtig den Kopf. »Sind wir sicher, dass wir diesen Leuten technisch überlegen sind?«

»Nein, nicht wirklich. Wir haben nur ein paar Technologien, die sie nicht besitzen. Aber vergiss nicht, Bridget, was wir zu Beginn dieser Mission gesagt haben. Das Beeindruckende an dieser Struktur ist vor allem ihre Größe. Alles, was wir hier sehen, könnten auch Menschen konstruieren, wenn sie es wirklich wollten und vorausschauend genug wären, um den Bau wer weiß wie lange voranzutreiben.«

Bridget schwieg einen Moment. »Ich frage mich, ob die Quinlaner sich mit dem Wissen motiviert haben, dass sie sich in absehbarer Zeit gegenseitig umbringen würden.«

»Angesichts ihres aufbrausenden Temperaments und ihrer Fortschritte in der Waffentechnologie ist das auf jeden Fall eine plausible Theorie.«

Während wir uns unterhielten, trieben wir in die Wasserstraße. Da der Arkadien hier nur ungefähr zwei Meilen breit war, vermutete ich, dass er über das gesamte Segment hinweg relativ flach sein musste. Andernfalls hätten vier vergleichsweise enge Kanäle wie dieser nicht die ganzen Wassermassen aufnehmen können.

Die Strömung nahm zu, und der Wind frischte auf. An dieser Stelle wäre es sehr schwer und langwierig gewesen, mit einem Boot gegen die Fließrichtung anzusegeln.

Die Berge wuchsen links und rechts von uns senkrecht aus dem Wasser, ohne irgendwelche betretbaren Küstenabschnitte. Am näher gelegenen Ufer glaubte ich eine Straße oder einen Pfad zu erkennen, doch ich konnte die Stelle selbst bei maximaler Vergrößerung nicht gut genug ausmachen, um sicher zu sein.

Es war eine eindrucksvolle, aber kurze Passage. Nach ein paar Minuten wurden wir auf der flussabwärts gelegenen Seite der Berge wieder ausgespuckt, und der Fluss begann sofort wieder, sich zu verästeln.

Außerdem entdeckten wir etwas Neues. Auf dieser Seite des Gebirges war es mitten in der Nacht. Ich blickte zu den Sternen hinauf. »Wir haben doch keinen Zeitsprung gemacht, oder?«

»Interessant«, erwidert Bill. »Anscheinend wechseln sich die Segmente in den Tag- und Nachtphasen ab. Das ergibt durchaus Sinn. So benötigt jeweils immer nur die Hälfte der Segmente Energie für Sonnenlicht.«

»Oder bei diesem Segment ist die Birne kaputt«, sagte Garfield.

»Klar, das könnte natürlich auch sein«, entgegnete Bill und verdrehte die Augen.

Nachdem wir drei weitere Stunden lang getrieben waren, erreichten wir im Morgengrauen eine größere Stadt. Mehrere mit Flussschiffen besetzte Stege zeugten von einer florierenden Industrie. Unweit der Stadt zweigten einige Nebenflüsse ab, und es war anzunehmen, dass sich an ihnen weitere Siedlungen befanden. Dies würde ein guter Ort sein, um nach Informationen zu suchen und vielleicht Kontakt mit einer nützlichen Gruppe aufzunehmen, sofern wir es schafften, während der Vorstellungsrunde nicht erstochen oder erschossen zu werden.

Wir beschlossen, unsere Überlebenschancen zu erhöhen, indem wir die Stadt einzeln betraten. »Eine Gruppe Sabbatarier mit einer Frau« war vermutlich ein guter Suchfilter, wenn sie die Neuankömmlinge überwachten. Hoffentlich besaßen sie keine fotorealistischen Holzschnitte von uns.

Der Erste in der Stadt, Bill, suchte sich eine Stelle, von wo er unauffällig die Landungsstege im Auge behalten und nach jemandem Ausschau halten konnte, der dasselbe tat. Als Nächster ging Garfield an Land und bemühte sich um eine Unterkunft. Kurz danach folgte Bridget. Sie hörte sich nach einer Bibliothek um. Ich kam als Letzter und suchte nach Pubs. Wir hatten lange darüber diskutiert, ob das wirklich nötig war, doch es ließ sich nicht von der Hand weisen, dass wir während der Sache mit Skeve einiges herausgefunden hatten, indem wir nur dasaßen und zuhörten.

Garfield berichtete alsbald, dass er ein großes Zimmer gefunden und für uns klargemacht hatte. Und dass er dabei unsere genaue Zahl nicht hatte angeben müssen. Wahrscheinlich würde es das Beste sein, wenn wir das Wort vier komplett aus unserem Sprachgebrauch strichen. Bridget war der Weg zu einer Bibliothek gewiesen worden, ohne dass sie dabei erneut von Kopf bis Fuß gemustert wurde. Sie war gerade dorthin unterwegs und schickte uns eine Karte mit der Wegbeschreibung.

Bill meldete, dass er ungefähr ein halbes Dutzend Leute bemerkt habe, darunter zwei Polizisten. Er räumte jedoch ein, dass sie möglicherweise alle einen legitimen Grund hatten, sich bei den Stegen aufzuhalten – vor allem die Polizisten. Um selbst nicht aufzufallen, schlug er vor, sich mit Garfield abzuwechseln.

Ich entschied mich schließlich für ein unscheinbares Pub, das ein paar Straßen vom Hafen entfernt war. Ich nahm auf seiner Terrasse Platz. Auf der Speisekarte stand erstaunlicherweise nicht nur Fisch, sondern auch ein Tier namens Haunid , bei dem es sich um eine kleinere und mutmaßlich zartere Variante des allgegenwärtigen Zugtieres handelte. Ich merkte, dass es mir hier gefiel …

»Hat bei unserer Ankunft irgendwer aufgepasst, wie diese Stadt heißt?«

»Erster Halt«, erwiderte Garfield. »Kein Scheiß. Die Quinlaner mögen vielleicht kreative Künstlerseelen haben, aber bei ihren Städtenamen macht sich das nicht bemerkbar.«

»Nun, Erster Halt mag zwar kein toller Name sein, aber darüber sehe ich gerne hinweg, denn es gibt hier … Steaks!

»Was? Wo?«

Ich beschrieb ihnen den Weg zum Pub und genoss weiter mein Essen. Ein paar Minuten später trafen die anderen ein und bestellten ähnliche Gerichte, die die Quinlaner als Landfleisch bezeichneten. Ich merkte, dass Garfield gar nicht aufhören konnte zu grinsen, und erkundigte mich, was ihn so amüsierte.

»Mir ist eine neue Ähnlichkeit zwischen Quinlanern und Menschen aufgefallen«, erwiderte er. »Ich habe eine Frau mit ihrem, äh, Haustier spazieren gehen sehen. Es war eine Art kleiner Hund. Die arme Kreatur hatte einen Trichter aus Wachspapier um …« Garfield bewegte die Hände um seinen Kopf.

»Er hat einen Leckschutz getragen?«

Garfield grinste. »Ja, bei dem Anblick bekam ich richtig Heimweh.«

»Ich habe eine Bibliothek entdeckt«, sagte Bridget. »Dort werde ich mich heute Nachmittag aufhalten.«

»Wir anderen unternehmen eine Kneipentour«, sagte ich. »Und hören uns weiter um.«

»Drei Kneipentouren, würde ich vorschlagen. Wir sollten uns auf jeden Fall aufteilen.«

»Dafür ist es ein bisschen zu spät, Bill.« Ich deutete auf den Tisch, an dem wir vier gemeinsam saßen.

Bill zuckte hilflos die Achseln. »Das war das Steak. Wir konnten seinem Lockruf nicht widerstehen.«

Ich grinste und tunkte den letzten Rest meiner Soße mit einem Stück Brot auf.

Als sich der Tag dem Ende zuneigte, trafen wir uns in unserem Zimmer, wobei wir darauf achteten, das Hotel nur einzeln zu betreten.

»Hat irgendwer irgendwas gefunden?«, begann ich das Gespräch.

Bill und Gar schüttelten den Kopf und bestätigten damit, was ich befürchtet hatte. Die Kneipentour war ein Reinfall gewesen. »Ich habe mehr über das Alltagsleben der Quinlaner herausgefunden, als ich je wissen wollte, aber die Skeve-Sache war wohl ein Glückstreffer.«

»Vielleicht ist diese Stadt auch einfach nur zu unbedeutend für eine Widerstandsfiliale«, sagte Garfield.

»Ich habe ein paar historische Hintergrundinformationen gefunden«, sagte Bridget. »Sozusagen. Das Ganze ist schwer mythologisiert. Laut ihrer Entstehungsgeschichte haben die Quinlaner ursprünglich in einem Land namens Quin gelebt, wo es zwar keine Grenzen, aber dafür nur begrenzten Raum gab. Sie vermehrten sich zu stark und fingen an, um das Land zu kämpfen. Daher hat ANEC – der wohl so etwas wie ein Gott ist – die Welt in einen Ort mit Grenzen, aber dafür unendlich viel Platz verwandelt, um die Auseinandersetzungen zu beenden. Doch die Quinlaner konnten nicht mehr mit dem Kämpfen aufhören. Also hat er ihnen die Waffen und das Wissen genommen und sie verstreut.«

»Schön«, sagte Bill. »Begrenzt, aber unendlich klingt nach einer Kugel. Auf eine Topopolis trifft diese Beschreibung nicht zu, aber vermutlich haben die Quinlaner sie bislang noch nicht komplett erkundet.«

Ich schüttelte den Kopf. »Davon ist bei einer Länge von einer Milliarde Meilen auszugehen.«

»Sehr interessant«, sagte Garfield. »Aber es erklärt nicht, weshalb die Einwohner technologisch derart rückständig sind. Glaubst du, das war ein freiwilliger Verzicht? Oder eher eine Friss-oder-stirb-Entscheidung?«

Bridget dachte kurz nach und zuckte die Achseln. »Das weiß ich noch nicht. Ich muss noch mehr Zeit in Bibliotheken verbringen. Mit den Leuten zu sprechen funktioniert generell zwar ganz gut, aber irgendwann werden sie misstrauisch, wenn man zu viele weithin bekannte Tatsachen nicht kennt.«

»War das bei dir so?«

Sie nickte. »Natürlich konnte ich sie nicht offen danach fragen, aber sie halten mich wahrscheinlich entweder für ein Mitglied der Verwaltung, das ihren Wissensstand checken will, oder eine Spionin der Regierung, die ihre Loyalität auf den Prüfstand stellt.«

»Vielleicht auch beides«, entgegnete ich. »Wir wissen ja noch gar nicht, inwieweit die Verwaltung die Regierungsgeschäfte leitet.«

Bridget nickte. »Das ist mir auch schon aufgefallen. Bisher weiß ich vieles noch nicht, aber ich bin mir sicher, dass die Quinlaner bereits seit Hunderten von Jahren so leben. Die Verwaltung hält die Ordnung aufrecht, indem sie alle verstreut , die gegen die Regeln verstoßen, weil sie zum Beispiel die technologischen Beschränkungen zu umgehen versuchen. Doch ansonsten hält sie sich scheinbar aus allem raus.«

»Dass ein Widerstand existiert, deutet darauf hin, dass die Verwaltung sich zumindest ein Stück weit einmischt.« Ich tippte mir nachdenklich ans Kinn. »Was ist mit den Leuten, die für sie arbeiten? Kennt man die? Haben sie Büros?«

»Dazu muss ich sagen, dass ich die meisten Informationen zwischen den Zeilen herausgelesen habe. Also solltet ihr alles, was ich euch erzähle, mit Vorsicht genießen. Aber nein, sie gehören nicht zur offiziellen Hierarchie und werden allgemein als Crew bezeichnet. Es ist nicht klar, ob sie ein Teil der Bevölkerung sind oder außerhalb der Gesellschaft leben. Wahrscheinlich trifft beides zu: Es gibt angeheuerte Schläger für die Arbeit vor Ort und eine Vollzeitcrew, die andernorts untergebracht ist.«

»Wow, das ist eine ziemlich gute Analyse, Bridget«, sagte Bill. »Dann haben wir es einschließlich der Gruppe, die Skeve erledigen wollte, also mit drei Fraktionen zu tun: die Verwaltung mitsamt ihrer Crew, der Widerstand und Einheimische, die sich weder auf die eine noch die andere Seite schlagen wollen. Vor diesem Hintergrund ergeben die Ereignisse in Galen deutlich mehr Sinn.«

Am nächsten Morgen diskutierten wir über unser weiteres Vorgehen. Wie sich herausstellte, gab es in der Stadt nur die eine Bibliothek. Bridget war darüber zwar enttäuscht, aber eigentlich hatten wir damit gerechnet. Erster Halt war nicht klein, jedoch allem Anschein nach ziemlich provinziell. Bridget wollte natürlich umgehend weiterziehen.

Wir hörten uns um und erfuhren, dass die nächst größere Stadt Drei Lagunen hieß und am südlichen Nachbarstrom, der Utopie, lag – genauer gesagt, an der Einmündung eines Zuflusses, der vom Arkadien abging. Ich sprach mich sofort dafür aus, dort hinzugehen, da ich herausfinden wollte, wie genau die in unterschiedliche Richtungen fließenden Gewässer miteinander verbunden waren.

»Wir müssen wirklich damit aufhören, im Voraus für unsere Unterkünfte zu bezahlen«, jammerte Bill. »Zumindest so lange wir nicht wissen, wie lange wir an einem Ort bleiben. Ich schätze, dass wir bereits für einen Monat zu viel bezahlt haben.«

Garfield nickte zu ihm hinüber. »Der Buchhalter hat gesprochen.«

Bill bleckte die Zähne, erwiderte aber nichts.

Zur Abwechslung verließen wir diese Stadt gesittet und ohne Aufsehen zu erregen. Ich musste mir nicht einmal Witze über Leute anhören, die in Wagen schauten. Wir gingen zum Hafen, sprangen ins Wasser und schwammen, der Wegbeschreibung der Einheimischen folgend, zum Südufer des Flusses.

Als wir es fast erreicht hatten, bildeten wir ein quinlanisches Floss und ließen uns von der Strömung erfassen. Der Nebenfluss namens Gronk, der uns nach Süden zur Utopie bringen würde, war rund zwölf Meilen entfernt. Bis dahin würde ich die Sonne genießen und ein bisschen nachdenken.

Die anderen schienen es genauso zu sehen, da niemand von ihnen ein Gespräch begann. Stattdessen beugten wir alle die Köpfe zurück und arbeiteten an der Bräune unter unseren Schnäbeln.

Nachdem wir so eine Weile gemütlich dahingetrieben waren, sagte Bill: »Wir haben Gesellschaft.«

Drei Köpfe fuhren ruckartig herum, doch die »Gesellschaft«, von der er gesprochen hatte, war bloß ein von Hauns angetriebenes Flussschiff, das allmählich zu uns aufschloss. An ihrem Kurs und der moderaten Geschwindigkeit war deutlich zu erkennen, dass sie einfach nur zum gleichen Ziel unterwegs wie wir waren und uns nicht den Weg abzuschneiden versuchten.

Garfield funkte Bill böse an. »Das hättest du nicht so dramatisch formulieren müssen. Ich hatte fast einen Herzinfarkt.«

Bill erwiderte seinen Blick mit einem Ausdruck gekränkter Unschuld. »Was denn? Ich habe doch nur gesagt, dass wir Gesellschaft haben. Der Herzinfarkt ist allein deine Schuld. Du hast ein schlechtes Gewissen.«

Garfield machte »Pfft«, aber im Grunde hatte Bill recht. Und er würde auch nie zugeben, dass seine Bemerkung eine Reaktion auf Garfields Buchhalter -Kommentar gewesen war.

Als das Schiff näher kam, konnten wir es uns genau ansehen. Es war ein Schlepper mit wenig Platz für Passagiere. Die meisten Quinlaner an Bord eilten geschäftig hin und her, doch wir erblickten auch eine vierköpfige Gruppe, die einfach nur entspannt an Deck saß.

Ein Mitglied der Besatzung winkte uns zu. »Wenn ihr in den Gronk abbiegen wollt, nehmen wir euch für jeweils ein Kupferstück mit. Wir haben bereits ein paar Sabbatarier an Bord.« Er deutete auf die Vierergruppe.

Bridget sah uns an. »Das kann nicht schaden. Vielleicht erfahren wir dabei irgendetwas. Und der Fluss soll tatsächlich ein bisschen wild sein.«

Wir lösten uns voneinander, tauchten kurz unter und puhteten an Bord. Der Deckarbeiter hielt mir eine Pfote hin, und ich ließ vier Münzen hineinfallen.

Wir gingen zu der anderen Gruppe hinüber, die ein bisschen zusammenrückte, um uns Platz zu machen.

»Wollt ihr nach Osten?«, fragte der Deckarbeiter, der mit uns kam.

»Nach Drei Lagunen«, erwiderte ich. »Weiter haben wir noch nicht geplant.« Ich deutete auf Bridget. »Sie will eine Bibliothek besuchen.«

»Ah, eine Sucherin.« Der Quinlaner machte eine Geste, die unsere Übersetzungssoftware als leicht abschätzig interpretierte. »Davon gibt es anscheinend von Jahr zu Jahr immer weniger. Die meisten jungen Leute sind offenbar damit zufrieden, sich einfach nur treiben zu lassen, bis sie einen Ort finden, an dem sie sich niederlassen können.«

»Ist das nicht der Sinn der Sache?«, fragte ein Mitglied der anderen Gruppe.

»Vielleicht. Aber wir waren mal mehr als das.« Der Deckarbeiter bedachte den anderen Quinlaner mit einem durchdringenden Blick und ging davon. Ich schaute zwischen den beiden hin und her.

Der sitzende Quinlaner grinste mich an. »Die Alten sehnen sich ständig nach den vergangenen Zeiten zurück, aber wir haben es doch gut. Wozu also jammern?«

»Du meinst auf Quin?«, fragte Bridget.

Er nickte. »Ich heiße übrigens Kar. Das hier sind Malin, Arik und Ti.«

Nachdem wir uns alle kurz zugewinkt hatten, hob Kar zu einem Vortrag an, den er vermutlich bereits häufiger gehalten hatte. »Ich habe ehrlich gesagt noch nie jemanden getroffen, der verstreut worden wäre. Wisst ihr, wieso? Weil die meisten Leute keine Idioten sind. Nach allem, was ich in der Schule gelernt habe, ist das hier das Paradies.«

»Oder ein Zoo«, warf Ti ein.

»Hier gibt es keine Gaffer, Ti. Da musst du dir wohl eine bessere Metapher einfallen lassen. Auf jeden Fall gibt es jede Menge Fische, das Wetter ist vorhersehbar, das Wasser sauber, und abgesehen von gelegentlichen Grenzstreitigkeiten führen wir keine Kriege. Ich könnte mir ein schlimmeres Schicksal vorstellen.«

Das klang nach einem alten Streit, und ich war gewillt, mich zurückzulehnen und ihn zu verfolgen. Bridget wollte dagegen nicht nur unbeteiligt zuhören. »Und was ist mit dem Widerstand?«

Kar lachte. Selbst Ti verdrehte auf quinlanische Art die Augen.

»Alte Säcke, die einen auf Krieger machen«, sagte Kar. »Es gibt nichts, wogegen man sich auflehnen müsste. Die Crew hält sich so weit im Hintergrund, dass sie kaum existent zu sein scheint. Und wenn man verstreut wird, wacht man meines Wissens einfach nur auf und ist woanders.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Und worum kämpfen sie überhaupt? Fische jagen, in der Sonne baden, schwimmen, bis man müde wird, und schlafen. Mehr braucht ein Quinlaner nicht.«

»Dieser Typ ist ein Hippie«, kommentierte Bill über das Interkom. An Kar gewandt sagte er: »Und was ist damit, eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen?«

»Klar, das auch. Aber brauchen wir dafür Städte?« Kar schaute sich unter seinen Zuhörern um. »Alles, was man in den Städten bekommt, gibt es auch umsonst, oder es ist Zeug, das einem die Städter aufschwatzen. Wir könnten alle Städte abschaffen, und niemand würde sie vermissen.«

»Dann würde es uns aber einigermaßen schwerfallen, mit Waren zu handeln.« Wir sahen auf. Der Deckarbeiter war zurückgekehrt.

»Du meinst die Produkte von flussaufwärts oder -abwärts, die sich nur minimal von unseren eigenen Erzeugnissen unterscheiden und die die Leute bloß wollen, weil andere ihnen einreden, dass sie sie unbedingt brauchen. Oder dass sie besser sind als das, was sie selbst haben.« Kar kam allmählich in Fahrt und schien sich argumentativ nach wie vor auf vertrautem Terrain zu bewegen. Ich beobachtete seine Freunde, während er und der Deckarbeiter miteinander debattierten. Seine Bemerkungen schienen sie weder zu überraschen noch zu besorgen. Wenn sie sich überhaupt interessiert zeigten, dann drückten ihre Mienen vor allem Zustimmung aus.

Die Diskussion fand ein jähes Ende, als jemand – wahrscheinlich der Kapitän – den Deckarbeiter darauf hinwies, dass er nicht fürs Herumstehen bezahlt werde. Als er zu seiner nächsten Verrichtung weiterzog, lehnte Kar sich zurück und genoss die Sonnenstrahlen.

»Das ist interessant«, sagte Bridget über das Interkom, als wir die Augen schlossen und taten, als würden wir dösen. »Und nicht völlig unerwartet. Zivilisatorischer und technologischer Fortschritt sind Methoden, mit denen man die Umwelt kontrolliert, um seine Überlebenschancen zu verbessern. Aber was ist, wenn man so gut an seine Umwelt angepasst ist, dass man gar keine Zivilisation braucht? Oder nicht mehr braucht?«

»Willst du damit sagen, dass Himmelsfluss zu idyllisch ist?«, fragte Bill.

»Ja. Die Quinlaner waren vermutlich gut an ihre Umwelt auf Quin angepasst. Die Umwelt hier wurde speziell nach ihren Vorlieben gestaltet und ist wahrscheinlich noch idealer für sie geeignet. Daher gibt es keinen Selektionsdruck mehr.«

»Und du glaubst, das ist Absicht?«

»Ich weiß es nicht, Bill, glaube es aber nicht. Das Problem ist: Wenn es so weitergeht, werden die Quinlaner ihr restliches Wissen, dann ihre Kultur und schließlich ihre Intelligenz verlieren.«

»Wie bitte?«, fragte ich entgeistert.

»Gehirne sind kostspielig, Bob. Das gilt für Quinlaner genauso wie für Menschen und Paven. Zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent aller Kalorien, die wir täglich aufnehmen, gehen für unsere Denkprozesse drauf. Jetzt stell dir vor, dass plötzlich ein Quinlaner mit einem kleineren Gehirn auftaucht, das vielleicht nur noch fünfzehn Prozent benötigt. Er könnte sich leichter ernähren und hätte dadurch einen klaren Selektionsvorteil. Wenn es keinen Grund mehr gibt, intelligente Quinlaner zu privilegieren, könnte dieser Zweig innerhalb weniger Generationen der vorherrschende sein, und irgendwann sind die Quinlaner nur noch Tiere.«

»Das kann die Verwaltung nicht wollen.«

»Da stimme ich dir zu. Deswegen glaube ich auch, dass es ein unbeabsichtigter Nebeneffekt der Topopolis sein könnte, der noch niemandem aufgefallen ist.«

»Verdammt.« Ich war hier, um Bender zu holen. Mehr wollte ich nicht. Aber konnte ich das einfach ignorieren? Würde ich erneut zum Baab werden?

In diesem Zusammenhang fiel mir wieder das alte Pacino-Filmzitat ein: Gerade als ich dachte, ich bin raus, ziehen sie mich wieder rein.