26

Die Spannungen nehmen zu

Bill – Juli 2334

Virt

Wir ließen die Mannys ein »Nickerchen« machen, damit wir nach Virt zurückkehren und ein paar Dinge erledigen konnten. Die KMI würde mir Bescheid geben, wenn irgendetwas meine Aufmerksamkeit erforderte. In der Zwischenzeit hatte sich einiges angesammelt, um das ich mich dringend kümmern musste.

Ich ging die Liste durch. Das Datenfenster zeigte, wann und wo jemand versucht hatte, sich in SCUT -Relaisstationen und autonome Fabriken einzuloggen. Dabei war jedes Mal die allgemeine ID verwendet worden, mit der wir uns früher, als die Bobs noch eine homogene Gruppe gewesen waren, in alle Geräte eingewählt hatten.

Garfield las über meine Schulter mit. »Mathematisch betrachtet besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass es auch jemand anders als die Sternenflotte gewesen sein könnte.«

»Rein mathematisch gesehen besteht auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass du von einem Moment auf den anderen in Flammen aufgehst«, erwiderte ich und drehte mich zu ihm um. »Aber ich würde nicht darauf wetten, dass das wirklich passiert.«

»Na ja, wir sind in Virt, aber ich verstehe, worauf du hinauswillst.« Garfield ging zu seinem La-Z-Boy hinüber, hob Spike hoch und nahm mit der Katze auf dem Schoß Platz. »Also heckt die Sternenflotte irgendeinen Plan aus, und zwar vermutlich keinen guten. Gibt es irgendwas, das wir dagegen unternehmen können?«

»Das ist bereits erledigt, Gar. Ich habe jeden einzelnen Ausrüstungsgegenstand im Bobiversum angesteuert, die Login-Daten überprüft und dann verändert. Anschließend habe ich den mutmaßlichen Eigentümern dieser Geräte verschlüsselte E-Mails geschickt, mit der Anweisung, die Logins sofort noch einmal zu verändern. Und niemandem die Zugangsdaten zu verraten.«

»Bill, was ist, wenn die Sternenflotte die Situation eskalieren lässt?«

»Inwiefern eskalieren? Meinst du, wenn sie eine Kriegsflotte entsenden?«

»Ähm. Na ja, wenn sie das täten, könnten wir uns nicht dagegen verteidigen. Sie wissen genau, wie wir die Flotte der Anderen entdeckt haben …«

»Und sie würden diesen Fehler nicht wiederholen. Aber sie werden keine Flotte entsenden. Wohin sollten sie sie schicken? Hierher? Nach Eta Leporis? Oder Omicron2 Eridani? Selbst wenn sie zu Gewalt greifen wollten, geht es hier nicht um Landgewinn oder gegen einen Feind, der sich in seiner Stellung eingegraben hat, sondern um politische Ansichten. Und die Vertreter beider Seiten sind weit im Raum verstreut.«

»Ja, das ist mir klar, aber ich habe bei dieser Sache ein schlechtes Gefühl. Sie werden nicht einfach die Hände in den Schoß legen, sondern nach einer Möglichkeit suchen, ihren Standpunkt durchzudrücken.«

»Und wie …?«

Garfield seufzte. »Ich würde mich viel besser fühlen, wenn mir wenigstens ein halbwegs plausibles Szenario einfiele. Doch abgesehen von der vagen Überzeugung, dass sie irgendetwas tun werden, bin ich völlig blank.«

Ich warf einen letzten Blick auf das Datenfenster und schloss es dann. »Ich habe mit ein paar meiner biologischen Regierungskontakte gesprochen«, sagte ich und drehte mich wieder zu Garfield um. »Sie sagen, dass sie mit ihren Vorgesetzten darüber reden werden. Aber ich glaube nicht, dass mich irgendwer von ihnen ernstnimmt. Schließlich ist das erstmal nur ein VR -Problem. Und das Schwierige an VR -Problemen ist, dass man nicht gleich erkennen kann, wie sie sich auf die reale Welt auswirken.«

Garfield grinste. »Wenn du in Virt stirbst, stirbst du auch in Real.«

»So ein Quatsch.« Ich lachte. »Die Gamer kommen andauernd um, manchmal auch mehrfach hintereinander während einer einzigen Spielsitzung.«

»Du hast sie besucht, nicht wahr?«

»Ja, Gar. Um mit ihnen über das Himmelsfluss-Projekt zu verhandeln. Sie haben mich bei einem ihrer LARP s mitmachen lassen. Ich muss echt sagen, die machen keine halben Sachen.« Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Volle VR , komplette Bewaffnung und Panzerung, totaler Gefechtsrealismus. Sie haben ihre Schmerzwahrnehmung genau wie wir bei unseren Mannys nach oben hin limitiert, aber sie lassen sich bedenkenlos erstechen, mit Speeren durchbohren, aufschlitzen, verbrennen, in die Luft sprengen, desintegrieren, mit Feuerkugeln beschießen, durch Stromschläge töten, auffressen und überhaupt alles antun, was die Macher von D&D und deren geistige Erben an Schrecklichem ersonnen haben.«

Garfield grinste. »Ich kann verstehen, was sie daran fasziniert.«

»Sicher. Und in dem Bob oder den Bobs, aus denen die Gamer entstanden sind, wurde diese Faszination zu einer Besessenheit.« Ich schwieg einen Moment lang. »Die Sache ist die – und das ist der Grund, warum ich die Gamers überhaupt erwähne –, dass sie genau wie die Sternenflotte den Kontakt zu den Bios abbrechen möchten. Allerdings nicht aus moralischen Gründen. Die Gamers betrachten die Bios einfach nur als eine unnötige Ablenkung.«

»Wie die Skippys.«

»Ja, das bereitet mir ein bisschen Sorgen. Sind wir mit unserer Meinung vielleicht irgendwann in der Minderheit?«

»Vielleicht sollten wir uns weniger angreifbar machen«, erwiderte Garfield, »und die Versammlungs-VR und die Back-up-Station umziehen.«

»Das ist auch bereits erledigt, Gar. Ultima Thule befindet sich inzwischen derart weit weg von Epsilon Eridani, dass die Suche danach mehrere Jahrhunderte dauern würde. Mir ist irgendwann aufgefallen, dass ich die Position der Station zwar nicht publik gemacht, mich aber seit ihrem Bau mehrfach geklont habe. Und ein paar meiner Klone haben sich ebenfalls geklont. Also gibt es einige Bobs, die wissen, wo sie ist – beziehungsweise war.«

Garfield ließ den Kopf hängen. »Ich hasse das.«

»Ich auch, mein Freund. Anscheinend ist eine Utopie etwas sehr Zerbrechliches.«

Garfield nickte düster und verschwand.

Als er weg war, nahm ich mir seufzend den nächsten Punkt auf meiner To-do-Liste vor.