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Vorgesetzte
Bob – Juli 2334
Drei Lagunen
Die KMI meines Mannys wies mich auf eine außergewöhnliche Situation hin, und ich kehrte rasch in den Androiden zurück. Der Lärm vor meiner Tür deutete darauf hin, dass die Barrikade weggeräumt wurde. Ich wartete geduldig ab und wurde schließlich mit dem Anblick mehrerer Kurzschwertspitzen belohnt.
»Hallo«, sagte ich mit einem Lächeln. »Ja, ich hätte sehr gern ein Stück Kuchen.«
Offenbar hatte noch keiner von ihnen einen Kaffee genießen dürfen, denn sie reagierten auf meine Bemerkung auffallend humorlos. Einer von ihnen blinzelte ein paarmal, und Frieda bedeutete mir mit ihrem Schwert, dass ich aufstehen solle.
Als ich den Raum verließ, sah ich mich Popeye gegenüber. Er starrte mich an, blieb aber genauso stumm wie die übrigen. Da ich keine Gipsverbände oder x-förmig übereinander geklebte Pflaster an ihm sah, ging ich davon aus, dass ich ihm keine allzu schweren Verletzungen zugefügt hatte – wahrscheinlich nur ein paar Prellungen und ein angeknackstes Ego.
Draußen wartete eine Überraschung auf mich – neue, deutlich massivere Hand- und Fußschellen aus Metall. Und ein Polizist. Oder vielleicht auch jemand, der sich als Polizist verkleidet hatte, damit die Leute draußen im Freien sich nicht darüber wunderten, warum einer von uns in Ketten gelegt war.
Auf der Straße stand ein Wagen für uns bereit. Was eine kluge Entscheidung war, da sie mich an ihm festketten konnten. Der Fahrer drehte sich nicht um, während wir die Ladefläche bestiegen.«
»Ist das …?«
»Halt die Klappe.«
Das war deutlich gewesen. Während der Fahrt würde es also keine Erklärungen geben. Ich hoffte, dass sie nicht allzu lange dauerte.
Der Fahrer schien absichtlich die belebteren Straßen zu meiden. Ich versuchte, in diese Routenplanung eine Bedeutung hineinzulesen, musste mir aber eingestehen, dass sie unter allen Umständen vernünftig gewesen wäre. Nach wenigen Minuten hatten wir die Hafengegend verlassen und fuhren auf Straßen, die von immer mehr Pflanzen und immer weniger Gebäuden gesäumt waren. Verwundert stellte ich fest, dass der Widerstand offenbar in einem sehr wohlhabenden Stadtviertel residierte.
Wir hielten vor einem Haus, das sogar für diese Nachbarschaft auffallend nobel wirkte. Offensichtlich verfügten seine Bewohner über viel Geld. Ob es ihr eigenes war oder dem Widerstand gehörte, stand natürlich auf einem anderen Blatt.
Wir stiegen in umgekehrter Reihenfolge wieder vom Wagen runter. Anschließend ging der Polizist zusammen mit dem Fahrer davon. Also war er vermutlich ein echter Ordnungshüter.
Frieda schien sich ein wenig zu entspannen – wahrscheinlich, weil ich während der ganzen Fahrt keinen Ärger gemacht hatte. Sie zeigte auf das Haus. »Man hat uns gesagt, dass wir hier mit jemand Ranghöherem sprechen können.«
»Darauf freue ich mich schon.«
Sie grinste mich schief an. »Wenn uns deine Antworten nicht gefallen, kommst du hier vielleicht nicht lebend raus, Bob.«
»Es kann gut sein, dass ich die Antworten, die ihr hören wollt, nicht kenne. Ihr müsst euch endlich mit der Tatsache anfreunden, dass ich mit der hiesigen Politik nichts am Hut habe.«
»Wenn du die da drin überzeugen kannst, erlebst du vielleicht noch den nächsten Sonnenuntergang.«
Sie führte mich unter dem verächtlichen Blick einer quinlanischen Jeeves-Version durch die Vordertür. Er bedeutete uns, ihm zu folgen, und brachte uns in einen Raum mit deckenhohen Bücherregalen.
»Eine Bibliothek!«, rief ich aus, und Frieda sah mich fragend an.
»Du und deine Freunde habt eindeutig ein Faible für Bücher. Ich bin schon gespannt, ob ich heute noch den Grund dafür erfahren werde.«
»Wirst du denn dabei sein?«
»Das hoffe ich. Wir haben es allmählich satt, im Dunkeln zu tappen.« Sie deutete auf einen Stuhl, und ich nahm darauf Platz. Erneut wurde ich daran festgekettet. Hoffentlich würden Friedas Handlanger nicht merken, dass sich meine Flöhe ein weiteres Mal an den Fesseln zu schaffen gemacht hatten.
Am anderen Ende der Bibliothek ging eine Tür auf, und eine Quinlanerin trat ein, ihrer aufwendigen Frisur und dem vielen Schmuck nach zu urteilen die Eigentümerin des Hauses. Sie streifte mich mit einem abschätzigen Blick und winkte gebieterisch jemandem hinter ihr.
Zwei weitere Quinlaner kamen herein. Sie trugen ein Gerät, das wie ein antikes Motorola-Funkgerät aussah – die Wohnzimmerversion mit hölzernem Gehäuse und großen Knöpfen. Die Situation wurde immer eigenartiger. Für eine Spezies, die angeblich noch nicht mal über Dampfkraft verfügte, besaßen sie erstaunlich viele technische Geräte. Offenbar war die Verwaltung doch nicht so einflussreich, wie sie glaubte.
Sie stellten das Funkgerät vor mich hin, und einer der beiden begann, an den Knöpfen zu drehen. Ein paar Sekunden später drang eine quinlanische Stimme aus dem Lautsprecher: »Ich bin bereit.«
Frieda trat vor. Sie wirkte merkwürdig nervös. »Madame ko Hoina, das hier ist der unbekannte Agent. Wir haben ihn unter großen Gefahren gefangen genommen und wollen wie besprochen …«
Frieda verstummte, als die »Kaiserin«, wie ich die herrische Frau in Gedanken nannte, kaum merklich mit der Hand wedelte.
»Ihr werdet für das Risiko und« – sie sah Popeye an – »die erlittenen Schmerzen großzügig entschädigt werden. Aber unsere Organisation kann nur weiterbestehen, wenn wir die nötige Verschwiegenheit bewahren.« Sie nickte Jeeves zu. »Dieser Mann hier wird euch bezahlen und sich auch gern um euer leibliches Wohl kümmern, wenn ihr von der Anreise erschöpft sein solltet.« Es war deutlich zu erkennen, dass das Thema damit für sie erledigt war und Frieda und ihre Leute nun gehen sollten.
Frieda runzelte die Stirn und setzte zu einer Erwiderung an, doch jemand aus ihrer Truppe legte ihr die Hand auf den Arm. Also nickte sie nur knapp – obwohl die geblähten Nüstern und verengten Augen der Kaiserin ahnen ließen, dass eine Verbeugung angebracht gewesen wäre – und verschwand gemeinsam mit ihren Leuten hinter Jeeves aus dem Zimmer.
Die Kaiserin musterte mich ein weiteres Mal von Kopf bis Fuß. Ihr Blick hätte die meisten Leute eingeschüchtert, doch sie hatte es mit einem Computer zu tun. Der Android zeigte nur die Regungen, die ich zuließ, und im Moment pokerte ich.
Als sie merkte, dass sie auf diesem Weg nicht weiterkam, wandte sie sich zum Motorola-Funkgerät um. »Dies ist eine der vier Personen, die sich mit uns eine interessante Jagd durch mehrere Städte geliefert haben. Der hier hat einen unserer Agenten mit einer Hand hochgehoben und gegen eine Wand geschleudert.«
»Danke, Natascha«, sagte der Motorola.
Ich musste ein Kichern unterdrücken. Das Übersetzungsprogramm wies jedem neuen quinlanischen Eigennamen einen zufällig ausgewählten menschlichen zu, doch in diesem Fall passte er wie die Faust aufs Auge. Sie sah tatsächlich wie eine Natascha aus.
»Wie heißt du?«, fragte Motorola.
»Bob«, erwiderte ich.
»Hallo, Bob, ich bin Motorola.« Erneut musste ich mir ein Glucksen verkneifen. Natürlich konnte ich wie jetzt gerade die zufällig getroffene Auswahl auch durch etwas anderes ersetzen. Die Einheimischen würden in jedem Fall immer nur den quinlanischen Namen hören.
»Okay. Geht ihr mit allen Besuchern dieser Stadt so um?«
»Lass uns nicht um den heißen Brei herumreden, einverstanden? Ich habe alle Zeugenaussagen und Berichte gelesen. Du und deine Freunde verfügen über irgendein Wissen oder eine Technologie, die euch einen Vorteil verschafft. Anfangs waren wir sicher, dass ihr zur Crew gehört, und wollten euch erledigen, aber ihr seid immer wieder entkommen. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher.«
»Mit Crew meinst du die Quinlaner, die für die Verwaltung arbeiten, stimmt’s?«
»Richtig. Es ist wirklich kurios: Du weißt entweder noch weniger über die Welt als die meisten Quinlaner, oder ihr habt euch eine wirklich gute Tarngeschichte zurechtgelegt. Was von beidem stimmt?«
»Ersteres. Ehrlich gesagt habe ich die Möglichkeit erwogen, dass eure Gruppe zur Verwaltung gehört, aber das kann ich mir inzwischen kaum noch vorstellen.« Ich deutete auf das Funkgerät. »Das da schaut zum Beispiel gar nicht nach etwas aus, mit dem sich die Bosse von Himmelsfluss begnügen würden. Ich nehme an, die Typen mit den Pistolen haben zur Verwaltungscrew gehört – ihr habt euch nicht besonders gut mit ihnen vertragen.«
Motorola schwieg einen Moment lang, dann sagte es: »Interessant, dass du weißt, was für einem technischen Level dieses Gerät entspricht. Und dass du Pistolen erkennst. Selbst die meisten Widerstandskämpfer haben noch nie eine gesehen.«
Ups.
»Wir stehen vor einem faszinierenden Problem, Bob«, fuhr das Gerät fort. »Die anderen möchten die Unterhaltung beenden und dir stattdessen mit einem Messer die Haut abziehen, bis wir irgendwas Nützliches aus dir herausbekommen. Auch wenn Popeye es laut Friedas Bericht mit Gewalt nicht weit bei dir gebracht hat. Es gibt auch den Vorschlag, dich einfach zu töten. Fällt dir dazu irgendeine Alternative ein?«
Die Situation war durchaus amüsant. Motorola verhielt sich zwar sehr zivilisiert, doch der Subtext war eindeutig: Er war auf irgendwelche Informationen aus und wollte herausfinden, wie er am besten an sie rankommen konnte. Im Moment versuchte er es noch mit einem höflichen Gespräch, später vielleicht mit Schmerzen, Geschrei und Blut. Und zuletzt möglicherweise mit einer Thermitbombe. Die würde allerdings Nataschas Parkett versauen.
Nun, ich hatte nichts gegen eine Zusammenarbeit. Doch zuerst musste ich herausfinden, was sie brauchten und was ich dafür bekommen konnte. »Hör mal, Motorola, ich verstehe eure Lokalpolitik nicht gut genug, um zu wissen, was hier vor sich geht. Und ich habe auch keine Ahnung, was ihr als wertvolle Informationen beziehungsweise Güter betrachtet. Ich besitze Geld, aber ich bin sicher, dass jedes von Nataschas Gedecken mehr wert ist als alles, was ich in der Tasche habe.«
Natascha, die mittlerweile auf einem Sessel saß, schnaubte.
»Wir haben deinen Rucksack bereits untersucht«, erwiderte Motorola. »Es befindet sich nichts darin, was uns interessiert. Außer vielleicht das Langmesser, das von einem unserer Agenten zu stammen scheint. Apropos: Du und deine Mitstreiter scheinen wahre Topathleten zu sein.«
»Die Gerüchte sind zweifellos stark übertrieben. Außerdem darfst du nicht vergessen, dass wir von Fremden mit scharfen Klingen verfolgt wurden. Und Angst verleiht bekanntermaßen Flügel.«
»Flügel?«
Ich dachte einen Moment lang nach. Das Sprachprogramm hatte die Redewendung wörtlich wiedergeben. Die Quinlaner wussten zwar, was Flügel sind, da es in ihrer Umwelt vogelartige Tiere gab, doch ihre Redensarten drehten sich im Allgemeinen vor allem ums Schwimmen. Anscheinend rächte es sich jetzt, dass wir die Übersetzungssoftware vor Beginn der Mission nicht komplett fertiggestellt hatten. Im Grunde war es keine große Sache, doch ich wollte Motorola nicht noch misstrauischer machen. Mit irgendwelchen Erklärungen hätte ich mich nur noch tiefer in Widersprüche verstrickt. Also beschloss ich, einfach über seine Frage hinwegzugehen. »Wenn du mir sagst, worum es euch geht, kann ich dir vielleicht irgendwas Nützliches geben.«
Natascha rutschte auf ihrem Sessel herum und sah mich an. Bislang hatte sie sich aus dem Gespräch rausgehalten, doch nun schien ich irgendeine rote Linie überschritten zu haben. »Du scheinst zu vergessen, wer hier wen verhört. In diesem Szenario stellen wir die Fragen, und du antwortest.«
»Dann fragt«, entgegnete ich. »Bisher führt das bloß zu nichts. Ich will durchaus kooperieren, aber dafür muss ich wissen, wonach ihr sucht.«
»Wir wollen wissen, für wen du arbeitest, wem deine Loyalität gilt, was für Ziele du verfolgst und welche Mittel dir zur Verfügung stehen. Ist das klar genug?«
Ich schaute zu Motorola hinüber, der während dieses Wortwechsels keinen Mucks von sich gegeben hatte. »Okay. Ich arbeite für niemanden, meine Loyalität gilt meinen Freunden, ich verfolge das Ziel, einen weiteren meiner Freunde zu finden, und alles, was ich besitze, steckt in meinem Rucksack.«
Natascha betrachtete mich mehrere Sekunden lang schweigend. Dann nahm sie eine kleine Glocke und klingelte. Als Jeeves eintrat, sagte sie: »Bring Philip herein.« Jeeves verbeugte sich und ging hinaus.
Natascha drehte sich wieder zu mir um. »Philip kennt sich hervorragend mit scharfen Gegenständen aus. Er wird deinem Gedächtnis sicher auf die Sprünge helfen.«
»Natascha, das ist nicht …«
»Genug, Motorola. Du brauchst zu lange, und deine spezielle Expertise scheint uns in dieser Situation keinen Deut weiterzubringen. Ich finde, wir versuchen es jetzt mal auf meine Weise. Vielleicht ist unser Freund später für deine Fragen zugänglicher.«
Das Funkgerät antwortete nicht. Ich zog unauffällig an meinen Schellen und stellte fest, dass sie erfreulich locker saßen.
Kurz darauf kam ein Quinlaner mit einem aufgerollten Lederbündel herein. Er nahm Platz und entrollte es neben meinem Rucksack auf dem Couchtisch. Anschließend lächelte er mich an. Zweifellos wollte er damit irgendeine Reaktion provozieren.
Er hatte die merkwürdigste Ansammlung von Messern dabei, die ich je gesehen hatte. Gerade, gebogene, spiralförmige … ein paar von ihnen schien er nur für den Showeffekt mitgebracht zu haben. Das da konnte zum Beispiel unmöglich einem echten Zweck dienen.
Ich lächelte ihn unschuldig an. »Meine Besteckschublade ist zwar ganz gut bestückt, aber das lange, verdrehte da gefällt mir. Wie viel willst du dafür haben?«
Philips Lächeln geriet ins Wanken, und er konnte sich gerade noch beherrschen, nicht zu Natascha hinüberzublicken. Stattdessen nahm er das fragliche Instrument und hielt es in die Höhe, immer noch entschlossen, mit seiner Vorstellung weiterzumachen. »Damit entfernt man die Schwimmhäute an den Armen. Soll ich es dir zeigen?«
Ich schaute ihm geradewegs in die Augen. »Sobald ich das Gefühl verspüren sollte, in echter Gefahr zu sein, wird dieser Raum und alle, die sich darin befinden, zu Kleinholz verarbeitet. Es ist eine Art Versicherungspolice – ein Totmannschalter. In solchen Dingen sind wir sehr vorsichtig.«
Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen. Dann sagte Motorola: »Und wir mögen keine Explosionen.«
Ich blickte entgeistert das Funkgerät an. Die Übersetzungssoftware hatte diesen klassischen Bob-Satz perfekt hinbekommen. Wie zum …?
Moment mal. Dieser Satz war gar nicht übersetzt, sondern auf Englisch gesagt worden! Aber warum sollte ein Quinlaner oder sonst irgendein Bewohner von Himmelsfluss Englisch sprechen können? Außer …
»Bender?«
Einen Moment lang herrschte Schweigen.
»Bob?«