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Ein zweiter Besuch
Will – Juli 2334
Virt, vulkanische Nachleben-Arkologie
Auf mein Klopfen hin öffnete Professor Steven Gilligan sofort die Tür. Er strahlte mich an. »Komm herein, Will. Schön, dich zu sehen.«
Ich erwiderte sein Lächeln und trat ein. Mein Blick wurde vom Fenster angezogen, das anstelle des Bishop-Rings vom letzten Mal nun eine Topopolis zeigte. Wie bei den meisten grafischen Darstellungen dieser Art stimmten die Größenverhältnisse nicht. Hätte man die Megastruktur maßstabsgetreu in ihrer gesamten Breite abbilden wollen, wäre der Zylinder zu dünn gewesen, um ihn mit bloßem Auge zu erfassen.
Ich deutete mit dem Kopf darauf. »Neues Projekt?«
»Sozusagen. Ich verbringe zwar mehr Zeit damit, die Daten von der Expedition zu begutachten, als am Design zu arbeiten, aber dabei lerne ich eine Menge. Ich werde meine Vorlesungen entsprechend anpassen müssen.« Steven zeigte auf die Couch. Während ich es mir darauf bequem machte, nahm er selbst auf dem Sessel Platz.
»Das ist einer der Gründe, weswegen ich hier bin«, erwiderte ich. »Obwohl jetzt, da Bob auf sich allein gestellt ist, ein paar andere Dinge dringender sind.«
Steven nickte. »Zweifellos. Im Moment beherrscht das Bobiversum in der VFV sämtliche Nachrichten. Es hat sogar die Bedrohung durch die Paven aus den Schlagzeilen verdrängt. Und mittlerweile werden auch die Nicht-Bob-Replikanten in den Sog der Ereignisse hineingezogen. Ich musste meine Vorlesungsreihe unterbrechen.«
»Das tut mir leid. Aber Bill ist dran, und wir sind ziemlich sicher, dass wir die Lage schon bald wieder in den Griff bekommen. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass danach wieder alles beim Alten sein wird.«
»Ich auch nicht. Ich glaube, das ist eins dieser Ereignisse, die eine Gesellschaft von Grund auf verändern.« Steven beugte sich vor und aktivierte ein Hologramm. »Aber lassen Sie uns über etwas Erfreulicheres sprechen. Ich analysiere alle hereinkommenden Scans. Übrigens vielen Dank, dass Sie mich in den Verteiler aufgenommen haben.« Er deutete auf eine bestimmte Stelle. »Das hier ist interessant: An jeder Segmentgrenze ist um den zentralen Zylinder herum eine Art Dichtring angebracht, der etwa ein Drittel des Radius ausfüllt. Offenbar verbindet sich der im Gebirge verborgene Diaphragma-Mechanismus fugenlos mit diesem Ring, sodass das Segmentende komplett verschlossen ist. Wahrscheinlich war diese Vorrichtung während der Bauzeit sehr nützlich und könnte jetzt im Katastrophenfall einen Abschnitt komplett versiegeln.«
»Das ist wirklich interessant, nützt uns im Moment aber nichts, oder?«
»Hmm, ein bisschen vielleicht schon. Sie dient auch als Lichtschutzwand, die dafür sorgt, dass die Sonne aus dem nächsten Segment nicht herüberscheint. Die aneinander angrenzenden Abschnitte wechseln sich in ihren Tag- und Nachtzyklen ab, sodass jeweils immer nur die Hälfte der Topopolis beleuchtet ist.«
»Ich weiß nicht, was uns das bringen soll, Steven … Es tut mir leid, dass ich ihnen so rüde ins Wort falle, aber ich bin wegen eines bestimmten Problems hier.«
Steven zeigte mir mit einem Lächeln, dass er nicht gekränkt war. »Okay, aber das interessiert Sie vielleicht: Der Ring ist ziemlich breit und enthält einige Infrastruktureinrichtungen.«
»Sie meinen, so etwas wie die Infrastruktur unter den Bergen?«
»Exakt. Ich nehme allerdings an, dass sie vor allem auf den Zentralzylinder zugeschnitten sind, also zum Beispiel seine Stromversorgung und die holografischen Projektionen steuern.«
»Und wie kommt man dort hinein?«
»Durch die Streben, die vom Zentralzylinder bis zum Grenzgebirge verlaufen.«
»Okay … Dann gibt es also noch weitere Bereiche, die wir scannen müssen, und zusätzliche mögliche Verstecke für Benders Matrix. Das sind nicht gerade gute Neuigkeiten.«
»Ich habe etwas für Sie, das vielleicht ein wenig erfreulicher ist«, fuhr Steven fort. »Das Streckennetz der Vakuum-Einschienenbahn ist sehr ausgedehnt. Es gibt Expressröhren, die sich durch die gesamte Länge der Topopolis zu ziehen scheinen und auf mehreren Ebenen zu Haltestellen abzweigen. Interessanterweise winden sie sich um die Innenhülle, wahrscheinlich, um der Rotation entgegenzuwirken. Ich bin mir sicher, dass man das berechnen kann. Aber auf jeden Fall könnte man mit solch einem Zug überallhin gelangen.«
»Wenn Bob die richtige Stadt finden könnte, würde das sicher helfen.«
»Eine Milliarde Meilen, Will. Darüber muss es irgendeine Art Verzeichnis geben. Wahrscheinlich wird es von einem Computersystem gepflegt.«
»Aber wir wissen nicht mal, ob die Städte, die es heute gibt, alle bereits im ursprünglichen Plan angelegt gewesen waren.«
»Wenn die Crew in eine bestimmte Stadt muss, wird sie sicher zur Liste hinzugefügt. Selbst wenn nicht alle Städte im Verzeichnis stehen, wird es auf jeden Fall die wichtigen enthalten.«
Ich hob den Kopf. »Wahrscheinlich lohnt es sich gar nicht, eine Stadt zu überprüfen, die nicht drinsteht.«
»Davon ist auszugehen. Andersherum gilt das jedoch nicht unbedingt.«
»Verstehe. Dann wollen wir besser nicht zu viel spekulieren. Haben Sie sonst noch was für mich, Steven?«
»Ich glaube, ich habe die Zugänge zu den Verwaltungsbereichen unter den Bergen gefunden. Ich kann nicht viel erkennen, aber hier und hier ist auf jeden Fall etwas …«
Ich schaute eine Stelle, auf die er zeigte, genauer an und sah tatsächlich nur einen kurzen Fußmarsch vom Flussufer entfernt etwas, das ein Eingang sein musste. Wahrscheinlich war er als ein Stück Wildnis getarnt, nicht zuletzt, um die Tiere nicht zu erschrecken.
»Schön. Das gebe ich an Bob weiter. Es könnte sein, dass er sich den Verwaltungsbereich schon aus Prinzip ansehen will. Falls er hineinkommt.«
»Ich bin mir sicher, dass es irgendwelche Sicherheitsmaßnahmen gibt. Mir war übrigens bislang gar nicht klar, wie künstlich eine derartige Megastruktur-Umwelt wirklich ist. Allein schon die Wartung und Überwachung, um sicherzustellen, dass weder ein Ufer noch ein Flussbett bis zur Hülle abgetragen wird … Der dazu nötige Aufwand ist wirklich unvorstellbar. Die schiere Menge interagierender Faktoren, die miteinander integriert werden müssen …«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
Steven winkte ab. »Dass es so gut wie sicher ist, dass Ihre Freunde von Kameras erfasst worden sind, und zwar mehr als einmal. Andererseits kann nicht jeder Input mit der gleichen Priorität ausgewertet werden. Daher ist es gut möglich, dass sie nicht bemerkt worden sind. Noch nicht. Aber wenn die Verwaltung von Himmelsfluss die Expeditionsmitglieder identifiziert und gezielt nach ihnen sucht, wird es ziemlich schnell gehen. Sie können sich nicht vor den Kameras verstecken, nicht einmal dann, wenn sie querfeldein gehen.«
»Hmm.« Ich dachte einen Moment lang über seine Worte nach. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das gut oder schlecht ist.« Ich stand auf. »Danke, Steven. Ich werde alles, was Sie mir gesagt haben, an Bob weitergeben. Mal sehen, ob wir aus diesen Informationen einen Vorteil schlagen können.«
»Sehr gern, Will. Ohne meine Vorlesungen hänge ich ohnehin ein bisschen in der Luft. Ich hoffe, der Krieg im Bobiversum ist bald vorbei, denn ich würde mir Himmelsfluss gern ansehen.«
»Ich auch, Steven.«