3
Den Bach runter
Bob – Juli 2334
Außerhalb von Drei Lagunen
»Es geht also um die Berge?«
»Das stimmt, Bob«, sagte Will. »Laut dem Prof sind sie nicht echt. Ich habe die Skippys darum gebeten, das Gebirge noch einmal genauer zu scannen, damit wir zumindest eine grobe Vorstellung von seinem Aufbau gewinnen können. In deiner näheren Umgebung gibt es keine Drohnen …«
»Ich weiß. Ich arbeite daran, aber das dauert seine Zeit.«
»Gut. Wie auch immer – wenn du so weit bist, können wir uns überlegen, wie wir dich da reinbekommen.«
»Wenn es überhaupt sinnvoll ist. Es sieht zwar so aus, als würden sich die Widerstandskämpfer in direkter Umgebung der Verwaltung aufhalten, aber ich bin skeptisch. Wieso glaubst du, dass sie dort sind?«
»Dinge wie die Stromversorgung und der gegebene Zugriff auf verschiedene andere Ressourcen. Außerdem haben sie offensichtlich Zugang zu den Einrichtungen der Verwaltung – sonst hätten sie Bender gar nicht stehlen können. Ich habe mit den Gamern darüber gesprochen, und sie glauben auch, dass sich die Widerstandskämpfer wahrscheinlich in unmittelbarer Nähe zu ihren Feinden verstecken.«
»Vielleicht wäre das in D&D der Fall. Ich weiß allerdings nicht, ob das auch für das richtige Leben gilt. Aber es ist wahrscheinlich ein guter Ausgangspunkt für meine Suche. Davor muss ich jedoch erstmal Haleps Ende finden.«
»Das stimmt. Und wenn die Stadt zu weit entfernt ist, solltest du mit der Einschienenbahn hinfahren. Halt mich auf dem Laufenden.« Will legte auf, und ich griff nach meinem Kaffee. Wahrscheinlich würde ich eine Menge Zeit in Real verbringen. Also musste ich mir meinen Schuss verpassen, solange es noch ging.
Ich setzte mich auf und betrachtete meine Umgebung. Alles sah noch so aus, wie ich es zurückgelassen hatte, und mein Manny besaß nach wie vor all seine Gliedmaßen. Hervorragend. Ich blickte auf und orientierte mich. Nachdem ich meinen kleinen Wächter eingesammelt hatte, ging ich zu dem schmalen Bach, den ich vor meiner Rückkehr nach Virt gemieden hatte. Unterwegs entdeckte ich, dass das Funkgerät verschwunden war. Dann hatten meine Verfolger es also gesehen. Was bedeutete, dass sie sorgfältig gesucht hatten. Tatsächlich waren sie vielleicht sogar immer noch dort draußen. Ich ließ mich auf alle viere fallen, was ich eigentlich schon von Anfang an hätte tun sollen. Die Quinlaner legten genau wie die Paven längere Strecken ungern im aufrechten Gang zurück.
Gelegentlich richtete ich mich auf und schaute mich so rasch wie möglich in sämtliche Richtungen um, doch ich sah niemanden. Schließlich gelangte ich zu dem Bach und ließ mich hineingleiten.
Es kostete mich so gut wie keine Kraft, stromabwärts zu schwimmen, und ich nutzte die Zeit, um mich zu entspannen. Nur gelegentlich musste ich kurz mit dem Schwanz schlagen oder minimal den Arm bewegen, um meinen Kurs zu korrigieren. Der Bach wurde nie zu flach oder zu eng, um darin zu schwimmen. Da die Umwelt künstlich geschaffen worden war, galt das vermutlich für alle Bäche in der Topopolis.
Selbstverständlich ging der Widerstand davon aus, dass ein Quinlaner dem Bach bis zum Fluss folgen würde. Daher hätte ich eigentlich nicht überrascht sein dürfen, als ich mit Karacho in ein Netz sauste, das sich quer über den Grund des Baches erstreckte. Es war auf clevere Weise so gespannt worden, dass es mich wie ein Würstchen einwickelte.
Im nächsten Moment spürte ich einen Ruck. Jemand zog das Netz an Land. Ich wehrte mich, aber die Seile waren selbst für einen Manny zu stabil.
Ich konnte meine Flöhe nicht verwenden, da sie von der Strömung fortgerissen worden wären. Selbst mein Spinnenroamer würde sich vielleicht nicht festhalten können. Doch der bildete in dieser Situation meine einzige Chance. Ich spuckte ihn aus, und er begann sofort, das Netz zu zerschneiden. Wobei er sich auf die Seile konzentrierte, an denen ich zum Ufer gezogen wurde, da sie unter Spannung standen.
Ich hätte es beinahe geschafft. Immerhin bekam ich ein Bein teilweise und einen Arm komplett frei. Ich hätte gern die Betäubungspistole gezückt, doch die steckte im Haupt fach meines Rucksacks. Das hatte ich nicht gut geplant.
Die Widerstandskämpfer schienen beschlossen zu haben, keine weiteren Risiken mit mir einzugehen. Noch ehe ich ganz aus dem Wasser war, watete einer der wartenden Quinlaner auf mich zu, zog sein Schwert und stieß es mir ins Bein.
Der Schrei, den ich ausstieß, war kein gespielter. Es gelang mir zwar noch, meine Sinneswahrnehmungen zu reduzieren, doch ein Stich mit einer Klinge ist ein massiver Angriff auf die persönliche Autonomie und hat immer auch eine starke psychische Komponente. Seit meinem Tod hatte ich nicht mehr solche Angst verspürt.
»Das wird dich vielleicht ein bisschen bremsen«, knurrte der Quinlaner. Ich merkte, dass es Popeye war, frisch genesen und vermutlich wild auf Rache. Er hob das Schwert erneut, doch eine Stimme, die ich als Friedas erkannte, blaffte einen Befehl. Popeye ließ widerwillig das Schwert sinken und beugte sich vor. »Gib mir einen Vorwand, und ich bringe es zu Ende.«
Dann beging er einen Fehler. Schon wieder. Der Typ war anscheinend nicht lernfähig.
Popeye hielt mir die Schwertspitze vor die Nase und öffnete den Mund, um mich weiter zu verhöhnen. Genau in diesem Moment zerschnitt mein Roamer das letzte Seil um einen meiner Arme. Mit der Geschwindigkeit eines Androiden packte ich das Schwert am Griff und rammte ihm den Knauf unters Kinn. Während er heulend umkippte, warf ich das Schwert mit dem Knauf voran dem zweiten Schergen ins Gesicht.
Eins musste man Frieda lassen: Sie hatte Mut. Ohne zu zögern zückte sie ihr Schwert und kam auf mich zu. Ich war immer noch zu sehr gefesselt, um davonzulaufen, und ich hatte keine Waffen griffbereit – mein Messer und die Pistole hätte ich auf keinen Fall rechtzeitig aus dem Rucksack ziehen können. Also tat ich das Nächstbeste. Ich hob Popeye in die Höhe und stieß ihn gegen sie. Die beiden fielen ächzend zu Boden. Das verschaffte mir genug Zeit, um mich vom Netz zu befreien und ins Wasser zu springen.
Beziehungsweise rückwärts hineinzustolpern. In all de r Aufregung hatte ich erstaunlicherweise die Stichwunde vergessen. Die Reparatursysteme hatten sie bereits fast versiegelt, aber ich verlor immer noch Flüssigkeit, äh, Blut. Jedenfalls konnte ich das Bein nicht verwenden, solange die Reparaturarbeiten nicht komplett abgeschlossen waren. Ich rechnete mir aus, dass ich mit diesem Handicap nicht viel schneller als ein biologischer Quinlaner sein würde.
Ich tauchte unter und begann zu schwimmen, wobei ich hauptsächlich meinen Schwanz einsetzte. Wenn stromabwärts abermals jemand mit einem Netz auf mich wartete, würde ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erneut gefangen werden und das Gleiche durchmachen wie gerade eben.
Was sollte ich also tun? Das Wasser verlassen? Damit würde vermutlich nur ein längeres Katz- und-Maus-Spiel beginnen, bei dem ich immer wieder zum Fluss floh und sie mich einzufangen versuchten.
Nein. Ob es mir gefiel oder nicht, ich würde weiterschwimmen müssen. Doch zuvor nutzte ich noch meinen Vorsprung, um kurz an Land zu gehen und mein Schwert aus dem Rucksack zu befreien. Wenn ich noch einmal ins Netz ging, wollte ich mich nicht einzig und allein auf meinen Roamer verlassen müssen. Und da ich schon dabei war, steckte ich auch noch meine Betäubungspistole in eine Seitentasche, die ebenfalls wasserdicht war und schnell geöffnet werden konnte.
Mein Roamer!
Ein kurzes Suchsignal bestätigte meinen schlimmen Verdacht: Ich hatte meine letzte verbliebene Spinne verloren. Wäre sie bei meinen Gegnern zurückgeblieben, hätte sie sich nach wie vor in Funkreichweite befinden müssen. Daher musste ich davon ausgehen, dass sie zerstört worden war.
Mist.
Damit verringerte sich meine Chance, aus einem Netz zu entkommen, erheblich. Ich musste also neu nachdenken. Mit der Beinwunde und ohne den Roamer war ich klar im Nachteil. Ich checkte die Reparatursysteme und erkannte, dass die Verletzung schwerwiegend war. Es würde rund eine Stunde dauern, bis ich mich bis zur vollen Funktionsfähigkeit erholt hatte. Und danach würde ich noch etwas essen und ein oder zwei Tage Geduld haben müssen, bis meine Flüssigkeitsvorräte wieder aufgefüllt waren.
Ich musste mich also auf eine lange fade Zeit am Grund des Baches einstellen. Ich suchte eine geschützte Stelle, an der ich mich eingrub und mit Geröll bedeckte. Ohne den Roamer konnte ich nicht überprüfen, ob ich ausreichend gut getarnt war, und musste es einfach darauf ankommen lassen.
Kurz überlegte ich, mich nach Virt zurückzuziehen, aber ich konnte den Manny nicht einfach zurücklassen. Wenn Frieda und die anderen beiden ihn fanden, musste ich auf der Stelle imstande sein, ihn zu verteidigen.
Um sicherzugehen, wartete ich fast zwei Stunden lang ab, was viel länger war, als selbst der athletischste Quinlaner die Luft anhalten konnte. Schließlich war ich davon überzeugt, dass mich niemand mehr in diesem Bereich suchte.
Allerdings rechnete ich weiterhin mit einem Netz, da es meinen Häschern keine große Mühe bereiten würde, eins quer durch den Bach zu spannen und mit einer Tasse Kaffee in der Hand abzuwarten, bis die Leinen zuckten.
Also würde ich doch laufen müssen.
Es gab keinen Ausweg, der nicht zeitaufwendig, mühsam und riskant war. Seufzend tauchte ich auf, blickte mich um und schlug mich in die Büsche.
Nachdem ich zwei Stunden lang, von Dornen zerstochen und von mehreren Tieren beschnüffelt, durch den Wald geschlichen war, entdeckte ich tatsächlich hinter einem Felsbrocken zwei Quinlaner, die es sich am Bach gemütlich gemacht hatten.
Die Frage lautete, ob sie irgendetwas mit sich führten, das mir von Nutzen war oder ich sie einfach umgehen sollte. Ich verdrehte die Augen. Es gab unzählige Filme, in denen der Held in solch einer Situation seine Verfolger durch einen verpfuschten Diebstahl auf sich aufmerksam machte und zu einer weiteren lustigen Verfolgungsjagd provozierte. Nein, vielen Dank.
Ich schaute mich einen Moment lang um und legte mir eine neue Route zurecht. Dann schlug ich mich erneut ins Gebüsch.
Nach einer langen und umständlichen Wanderung gelangte ich schließlich an den Fluss und schwamm hinaus zu der Stelle, wo die drei Mannys, an einem versunkenen Ast festgebunden, über dem Grund schwebten. Trotz aller Bemühungen der Wartungsroamer hatte sich irgendetwas auf den Mannys abgesetzt. War es Schimmel? Oder Seegras? Auf jeden Fall ähnelten sie unter dieser Schicht eher dem Ding aus dem Sumpf als Quinlanern. Hugh würde einen von ihnen säubern müssen, bevor er ihn aktivierte. Ich überprüfte ihre Bestückung und stellte fest, dass Garfield zum Glück alle Roamer zu ihnen hatte zurückschicken können. Ich befahl jeweils zwei Roamern von zwei der Mannys, das Transportmittel zu wechseln, und nahm die neuen Rekruten mit offenem Mund in Empfang.
Jetzt brauchte ich nur noch Geld. Wir alle hatten zahlreiche Münzen dabei und bei unseren diversen Begegnungen mit Quinlanern mehrere Messer an uns gebracht. Da sie aus Metall bestanden, waren sie ungefähr so viel wert wie das Jahreseinkommen eines durchschnittlichen Quinlaners. Insgesamt hatten wir sieben. Ich nahm drei davon sowie ein Drittel unserer Bargeldbestände.
In deutlich besserer Stimmung als zuvor stieß ich mich wieder von der Gruppe ab und schwamm stromabwärts. Nach den jüngsten Ereignissen konnte ich auf keinen Fall in Drei Lagunen bleiben. Ich nahm mir vor, rund eine halbe Stunde lang zu tauchen und dann in aller Ruhe nach weiteren Städten Ausschau zu halten.
Da ich mich nun im Utopie-Flusssystem befand, würde ich wieder in das Segment zurückkehren, in dem sich Garacks Rücken befand. Das kam mir zwar wie ein Rückschritt vor, doch da wir uns auf dem Herweg nicht nach Städtenamen erkundigt hatten, konnte es gut sein, dass wir unwissentlich an Haleps Ende vorbeigeschwommen waren.
Ich fühlte mich einsam und fragte mich, ob die quinlanische Verhaltenssoftware ein Bedürfnis nach Gesellschaft in mir weckte. Schließlich blieb ich normalerweise sehr gern allein.
Vielleicht hatte ich aber auch nur gerade die Nase voll von Alleingängen. Nach meiner langen Reise nach Eta Leporis und den vielen überraschenden Veränderungen, die sich während meiner Abwesenheit ereignet hatten, fühlte ich mich weiter entfernt von den anderen, als mir lieb war. Als hätte ich ihre Gesellschaft nicht aktiv gemieden, sondern wäre zurückgeblieben, während sie sich weiterentwickelten. Die typisch menschliche Inkonsequenz. Ich wollte zwar ein Paria sein, aber nur zu meinen eigenen Bedingungen. Das zeigte mal wieder, was für eine gereifte Persönlichkeit ich war.
Die Sonne schien warm, und das Wasser war ruhig. Ich schaukelte auf kleinen gleichmäßigen Wellen, die eher an einen See als einen Fluss erinnerten. Quinlaner trieben wie Korken oder besser gesagt wie Otter an der Wasseroberfläche, was sich ein bisschen anfühlte, als läge ich auf einer Luftmatratze. Ich tauchte eine Pfote ins Wasser und paddelte in einem Halbkreis herum, bis ich Richtung Osten schaute.
Anfangs hatten wir nicht weiter darauf geachtet, dass die Gebirge an den Segmentgrenzen ungefähr fünfhundertsechzig Meilen auseinanderlagen, doch nun wussten wir, dass es die Strecke war, die die künstliche Sonne im Lauf eines »Tages« zurücklegte. Die Berge und der Ring, von dem Will mir erzählt hatte, blockierten den Blick auf die Sonne im Nachbarsegment. Außerdem waren in den kreisförmigen Gebirgen dünne Speichen verankert, die bis zum Zentralzylinder führten. Sie enthielten zweifellos Stromleitungen und Wartungsröhren, vielleicht sogar Fahrstühle.
Von außen sahen die Berge ziemlich beeindruckend aus. Wahrscheinlich waren sie absichtlich so gestaltet worden, um Kletterer zu entmutigen. Wobei Quinlaner ohnehin keine geborenen Bergsteiger waren.
Schon bald würde mich der Fluss durch die Schlucht zwischen den Segmenten tragen. Danach würde ich nach der nächsten Stadt suchen und schon bald wieder in den Salzminen schuften müssen.