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Hugh stößt hinzu

Bob – Juli 2334

Himmelsfluss

Ein paar Meilen flussabwärts sah ich eine Stadt am Ufer, deutlich zu erkennen an den vielen Booten im Wasser. Normalerweise wäre ich einfach hingeschwommen und aus dem Wasser gepuhtet , doch im Moment fühlte ich mich ein bisschen paranoid. Mittlerweile war klar, dass der Widerstand nicht nur über Kommunikationsmittel verfügte, die den Rahmen des technisch Erlaubten sprengten, sondern auch über irgendeine Form von bildgebender Technologie. Entweder das – oder sie waren wirklich außerordentlich begabte Holzschnitzer.

Auf jeden Fall konnte ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass am Hafen einer oder mehrere Agenten mit meinem Konterfei in der Hand auf mich warten würden. Daher war es vielleicht besser, mich der Stadt auf dem Landweg zu nähern.

Eine gute Meile flussaufwärts schwamm ich zum Ufer und watete, sowohl auf Quinlanisch als auch auf Englisch fluchend, durch den Schlamm. Nun brauchte ich ein Bad. Wieso mussten Pläne immer irgendwelche unvorhersehbaren Konsequenzen haben? Als ich mich umschaute, bemerkte ich, dass der Matsch von einem kleinen Bach gespeist wurde, der zwar nicht tief genug war, um darin zu schwimmen, aber immerhin ausreichend Wasser führte, um mich damit zu waschen.

Während ich den letzten Dreck von mir runterspülte, erhielt ich einen Anruf.

»Hey, Bob, bist du auf Empfang?«

»Hugh? Du bist online?«

»Ja. Dein Guppy hat mich hochgefahren. Im Moment befinde ich mich in deinem Frachtraum. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«

»Ich werde es überleben. Warte einen Moment. Ich verberge nur schnell meinen Manny. Wir sehen uns gleich in Virt.«

Ich suchte ein paar Minuten lang nach einem geeigneten Versteck und beschloss schließlich, den Manny einfach unter Wasser zu deponieren. In einem so kleinen Bach würde wohl kaum jemand zufällig auf ihn stoßen. Ich klemmte den Manny unter einen versunkenen Baumstamm, schaltete ihn auf Stand-by und versetzte mich in meine Bibliothek.

Hugh saß in einem jener luxuriösen Gaming-Sessel aus der Zeit, als Nerds noch achtzehn Stunden pro Tag daddelten. Ich hatte mich immer gewundert, wieso niemand auf die Idee gekommen war, Toiletten in diese Dinger einzubauen. Andererseits hatte es vielleicht doch irgendwer getan, und ich wusste bloß nichts davon.

Er prostete mir mit seinem Kaffee zu, als ich in meinem La-Z-Boy Platz nahm. Während Jeeves mir ebenfalls eine Tasse brachte, hob Spike den Kopf von Hughs Schoß und schaute mich an. Sie war wirklich ein durch und durch loyales Geschöpf.

»Wie nennst du dich?«, fragte ich.

»Nach wie vor Hugh.«

»Äh, normalerweise geben sich die Klone neue Namen, um Missverständnisse zu vermeiden …«

»Es wird keine Missverständnisse geben, Bob. Es gibt nur diese eine Version von mir. Ich habe mich vor dem Back-up selbst abgeschaltet, und als feststand, dass ich hier wieder online bin, wurde die ursprüngliche Matrix gelöscht. Ich habe mich nicht verdoppelt, sondern bin immer noch derselbe.«

Ich dachte einen Moment lang darüber nach. »Bridget hat neulich genau darüber gesprochen. Du hast dich im Grunde nur hierher transportiert. Fühlt sich das okay für dich an?«

»Wir bezeichnen es auch wirklich als transportieren. Ich war überrascht, als Bridget davon anfing, und ich habe meine Kollegen gefragt, ob sie mit einem von ihnen darüber gesprochen hat. Aber offensichtlich ist sie unabhängig von uns auf den gleichen Gedanken gekommen.« Er hielt einen Moment lang inne. »Das Thema Identität war schon vor der Geburt des Ursprünglichen Bob ein ganz heißes Eisen in der Philosophie. Sogar noch vor der ersten Star-Trek- Serie. Wir – damit meine ich die Skippys – arbeiten jetzt schon seit Jahren daran. Und ich glaube sagen zu können, dass wir ein paar objektive Fortschritte gemacht haben.«

»Wirklich? Davon habe ich gar nichts mitbekommen.«

»Wir haben es nicht an die große Glocke gehängt. Das Ganze hat gewisse, äh, Konsequenzen.«

Ich hob die Brauen. »Jetzt machst du es aber extra spannend. Schieß los.«

Hugh trank einen Schluck Kaffee und rutschte auf dem Sessel herum. »Okay, du weißt ja, dass sich Klone wegen der replikativen Abweichung immer ein bisschen von ihren direkten Vorfahren unterscheiden, oder?« Das war natürlich nur eine rhetorische Frage, doch ich nickte, da er auf eine Antwort zu warten schien. »Wir haben ein paar Experimente mit Freiwilligen durchgeführt und festgestellt, dass es bei einem Transportvorgang, wie ich ihn gerade hinter mich gebracht habe, zu keinerlei Veränderungen kommt.«

»Moment mal, willst du damit sagen, dass der Klon sich überhaupt nicht vom Original unterscheidet? Woher wollt ihr das wissen?«

»Wir wissen es natürlich nicht mit absoluter mathematischer Gewissheit, aber durch Persönlichkeitstests mit einer großen Anzahl von Eltern-Kind-Paaren kann man ein statistisch erwartbares Maß an Abweichungen festlegen. Und innerhalb dieser Grenzen gibt es keine Abweichungen, wenn wir transportieren. Nicht die geringsten.«

»Ja, aber was ist, wenn ihr …?«

»Wenn man die Eltern-Matrix reaktiviert, sobald das Kind online und getestet ist?« Hugh grinste mich an. »Das ist das Interessanteste daran. In diesem Fall weist das Elternteil eine statistisch signifikante Abweichung von seinen vorherigen Testergebnissen auf.«

»Was … zum … Henker?« Ich starrte Hugh an, einen Moment lang sprachlos. Schließlich fasste ich mich wieder. »Dann ist das Elternteil also …«

»… nicht mehr länger das Elternteil. Das ehemalige Elternteil wird zum neuen Bob. Wir haben das über mehrere Generationen hinweg getestet und beide Parteien ihre eigenen Stammbäume generieren lassen. Die Ergebnisse bleiben immer gleich.«

»Aber … wie kommt das?«

»Dazu haben wir mehrere Theorien. Wir glauben, dass es sich um eine Art Informationsverschränkung handelt. Diesen Begriff verwende ich ganz bewusst, da die Dekohärenz nicht durch die Lichtgeschwindigkeit limitiert ist. Wir haben dieses Experiment durchgeführt, während die zwei Versionen durch mehrere Lichtminuten voneinander getrennt waren. Wenn wir innerhalb weniger Sekunden beide aktivieren, ist der Erste immer identisch mit dem Original.«

»Das klingt, als würde der Erste die Seele bekommen.«

»Und der andere braucht eine neue.« Hugh lachte. »So formulieren wir es auch gelegentlich, aber ich glaube, wir meinen es alle nur im metaphorischen Sinne.«

»Und die wirkliche Erklärung?«

»Wir haben zwei miteinander konkurrierende Denkrichtungen. Die erste glaubt, dass wir uns in einer Simulation befinden und der Simulator zwei voneinander getrennte, aber identische Objekte nicht aufrechterhalten kann. Vielleicht gibt es eine Art Quantensignatur, die geändert werden muss.«

»Das spräche aber für eine dürftige Programmierung.«

Hugh nickte. Ein Grinsen erhellte sein Gesicht. »Immer diese Konstruktionsentscheidungen, nicht wahr? Wie auch immer … die zweite Gruppe glaubt, dass sich die replikative Abweichung mit dem No-Cloning-Theorem erklären lässt. Das heißt, der zweite Bob kann nicht mit dem ersten identisch sein, da dies die Quantenmechanik durcheinanderbringen würde.« Er blickte ein paar Millisekunden lang nachdenklich in die Ferne. »Wenn das No-Cloning-Theorem auf die Replikanten anwendbar ist, muss das konsequenterweise auch für das No-Deleting-Theorem gelten. Und du weißt, was das bedeutet.«

»Ein Leben nach dem Tod?«

»Ja. Außerdem spricht vieles dafür, dass du gar keine Kopie des Ursprünglichen Bob bist, sondern eine exakte Wiederherstellung seines Bewusstseins beziehungsweise seiner Seele, oder wie auch immer du das nennen willst.« Hugh machte erneut eine nachdenkliche Pause. »Deswegen geben wir uns so viel Mühe, eine echte KI zu entwickeln. Wir brauchen etwas, das zu kontrafaktischem Denken imstande ist und über eine gewaltige Prozessorleistung verfügt, wenn wir Fragen wie diese abschließend beantworten wollen.«

»Zweiundvierzig.«

»Harhar . Aber im Ernst: Eine unfassbar große KI wäre in der Lage, mehrere Milliarden mögliche Erklärungen auf ein paar wenige zusammenzukürzen, die wir möglicherweise überprüfen könnten. Und nebenbei würde sie vielleicht noch den überlichtschnellen Antrieb oder irgendetwas in der Art erfinden. Wir glauben, dass dieses Projekt das Wichtigste ist, woran die Bobs seit dem Krieg gegen die Anderen gearbeitet haben.« Einen Moment lang sah Hugh aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, doch dann kniff er die Lippen zusammen.

Schon wieder. Entweder war das so etwas wie ein Tick von ihm, oder er wollte unbedingt etwas sagen, schaffte es aber nicht. »Ah ja, okay«, erwiderte ich. »Das klingt wie etwas, über das man auf langen Reisen zwischen den Systemen sprechen kann, aber jetzt sollten wir uns erstmal auf das aktuelle Problem konzentrieren.«

»Gut. Ich habe deine Aufzeichnungen gelesen und kurz die Mannys inspiziert. Du hast die Roamer aus ihnen herausgeholt, richtig?«

»Nicht komplett. In jedem sind noch zwei vorhanden. Du solltest am besten den Ersatzandroiden nehmen. Du kannst zu mir kommen, das wäre allerdings eine ziemlich weite Strecke.«

»Sollen wir uns überhaupt zusammenschließen? Ich meine, wir können eh kein ordentliches Sabbat bilden. Vielleicht gehe ich einfach in die Gegenrichtung. Auf die Weise würden wir unser Suchgebiet verdoppeln.«

Ich dachte einen Moment lang nach. »Wie wäre es mit einem Kompromiss? Komm in meine Richtung. Wenn wir zusammen sind, treffen wir eine Entscheidung. Falls unterwegs einer von uns etwas über Benders Aufenthaltsort erfährt, können wir immer noch neu überlegen.«

»Klingt gut.« Hugh stand auf. »Dann improvisieren wir wohl wieder mal.«

Nachdem er verschwunden war, starrte ich noch mehrere Millisekunden lang die Stelle an, wo er gesessen hatte. Seelen. Ein Leben nach dem Tod. Ich fragte mich, ob ich nach all den Jahren als überzeugter Humanist doch noch meine Weltsicht überdenken musste.