12

Haleps Ende

Bob – Juli 2334

Himmelsfluss

Der Boden vibrierte sanft, dann gingen zwei Türen auf.

»Der Zug nach Haleps Ende ist eingetroffen«, sagte die Stimme in meinem Ohr. »Er wird in hundertzwölf Sekunden abfahren.«

Ich trat durch den offenen Eingang in eine kurze Luftschleuse. Am anderen Ende befanden sich zwei weitere Türen, die sich zu etwas öffneten, das mein Zug zu sein schien. Zumindest hatte es die entsprechende röhrenartige Form. Ich sah keine Fenster, aber dafür mehrere bequem aussehende Sitzreihen. Ich schaute über die Schulter und erkannte, dass die Eingänge am Bahnsteig mit Türen im Zug verbunden waren, jeweils zwei pro Waggon. Wie in einer U-Bahn. Alles in allem wirkte es sehr zivilisiert. Ich warf einen Blick in den hinteren Bereich des Waggons, wo es eine Toilette und einen kleinen Kiosk gab. An den verschlossenen Fensterläden hing ein Schild: Die Snackbar ist bis auf Weiteres geschlossen.

Ich starrte es halb ungläubig, halb amüsiert an, als die Zugstimme sich erneut meldete. »Bitte nehmen Sie Platz. Die Türen schließen in elf Sekunden. Die Beschleunigungsphase wird dreihundertsechsunddreißig Sekunden dauern. Danach können sich die Passagiere wieder frei im Zug bewegen.«

Ich ging zum nächsten Sitzplatz und ließ mich darauf nieder. Er war bequem und bot Platz für einen quinlanischen Schwanz. In der Armlehne befanden sich Schalter, in die Kopfstütze waren Lautsprecher eingebaut. Quinlaner reisten offenbar stilvoll. Theoretisch mussten sie Strecken von bis zu einer halben Milliarde Meilen zurücklegen. Ich fragte mich, wie das funktionieren sollte.

»Entschuldigung, Zugstimme?«

»Wie kann ich behilflich sein?«

»Wie weit ist Haleps Ende entfernt?«

»Dreitausendachthundertvierzehn Meilen.«

»Nein …« Okay, zugegeben, ich hatte die Frage nicht korrekt formuliert. »Wie lange wird die Fahrt nach Haleps Ende dauern?«

»Ungefähr sechstausendzweihundertvierundvierzig Sekunden, einschließlich Beschleunigung und Bremsvorgang.«

Das bedeutete eine Geschwindigkeit von ungefähr zwei tausendzweihundert Meilen pro Stunde. In diesem Tempo würde eine Fahrt um die ganze Topopolis ein Leben lang dauern.

»Was ist die weiteste Distanz, die man zurücklegen kann?«

»Der Rand des sichtbaren Universums ist ungefähr 45,7 Milliarden Lichtjahre entfernt.«

Seufz . »Was ist die weiteste Distanz, die man in Himmelsfluss mit der Eisenbahn zurücklegen kann?«

»Das ist die Fahrt nach Grendel. Diese Stadt liegt von hier aus gesehen genau auf der anderen Seite von Himmelsfluss, in ungefähr vierhundertneunundneunzig Millionen siebenhundertzwanzigtausend Meilen Entfernung.«

»Wie lange würde die Fahrt in diesem Zug dauern?«

»Die würde man mit diesem Zug nicht machen.«

Grrrr . »Mit was würde ich diese Fahrt machen können?«

»Du würdest einen Expresszug mit Abteilen und Schlafplätzen nehmen.«

»Und wie lange würde die Fahrt damit dauern?«

»Ungefähr zwölf Tage.«

»Fährt der Expresszug so viel schneller?«

»Expresszüge fahren auf den Hochgeschwindigkeitsschienen und erreichen ein maximales Tempo von fünfhundertsiebenundzwanzig Meilen pro Sekunde.«

Ich rechnete schnell nach und erkannte, dass diese Geschwindigkeit dazu führen würde, dass der Zug mit einer Pseudogravitation von einem quinlanischen Standard-G um die Topopolis herumfahren würde. Gleichzeitig würde er sich in Korkenzieherform entgegen der Drehrichtung des Habitats bewegen, was die spiralförmige Schienenstrecke erklärte, von der Professor Gilligan gesprochen hatte.

Im Moment unternahm ich jedoch nur eine Regionalfahrt und würde mit viel geringerer Geschwindigkeit unterwegs sein. Damit hatte ich ein paar Stunden Freizeit vor mir. »In welcher Richtung liegt Haleps Ende?«

»Vor uns.«

Ich verbiss mir einen Kraftausdruck. »In welcher Richtung liegt Haleps Ende von Garacks Rücken aus gesehen?«

»Sonnenwärts.«

Darüber musste ich einen Moment lang nachdenken und die Übersetzungsspezifikationen checken. Sonnenwärts bezeichnete die Richtung, in der sich die künstliche Sonne bewegte, unserem eigenen Bezugssystem nach also nach Westen.

»Kannst du mir etwas über Haleps Ende und sein Umland erzählen?«

»Dazu habe ich keine Einzelheiten. An der Haltestelle gibt es einen Kiosk, an dem man derlei Informationen bekommt.«

Mm-hmm. Nur dass der wahrscheinlich geschlossen war. Bis auf Weiteres. Vermutlich verfügte die Zugstimme nur über Informationen, die mit Zügen und Zugfahrplänen zu tun hatten. Und wenn ich noch mehr eigenartige Fragen stellte, würde ich mich vielleicht noch verdächtig machen.

»Kannst du mir Bescheid geben, wenn wir kurz vor dem Ziel sind?«

»Ich werde dich zweihundertvierundzwanzig Sekunden vor dem Abbremsen wecken. Ist dir das recht?«

»Äh, ja. Vielen Dank.«

In der Zwischenzeit würde ich den Manny auf Stand-by schalten und ein »Nickerchen« machen, um etwas Arbeit zu erledigen.

»Sie haben wirklich an alles gedacht, nicht wahr?«, fragte Will. »Steven hat mich auf die spiralförmige Streckenführung der Schnellbahn hingewiesen. Er hat mir sogar erklärt, wieso sie so konstruiert ist. Sie neutralisiert die Rotation der Megastruktur, während der Zug sie durchfährt. Und die Geschwindigkeit des Zuges entlang des langen Radius ist so kalibriert, dass sie die künstliche Schwerkraft der Hüllenrotation ersetzt. Cool.«

Ich grinste über Wills Antwort. Solch eine Reaktion hätte ich eigentlich eher von Bill erwartet. Aber ein Bob ist und bleibt nun mal ein Bob. »Ja, ich werde also bald in Haleps Ende sein und mich dann zum nächsten Gebirge begeben. Wenn die Abschnitte einigermaßen einheitlich konstruiert sind, und bislang spricht nichts dagegen, müsste der Eingang eigentlich relativ leicht zu finden sein.«

»Die Frage ist nur, ob Nataschas Zugangskarte auch in viertausend Meilen Entfernung funktioniert.«

»Und ob ich es riskiere, einen Alarm auszulösen.«

Wir wurden von der Zugstimme unterbrochen, die durch meinen Manny-Link in die VR übertragen wurde. »Wir erreichen bald deine Haltestelle.«

Will stemmte sich vom Sitzsack hoch. »Zeit, vor den Vorhang zu treten.« Er winkte mir zu und verschwand.

Ich versetzte mich in den Manny und tat, als würde ich blinzelnd erwachen. »Vielen Dank. Befindet sich sonst noch jemand in diesem Zug?«

»Derzeit nicht.«

»Was macht der Zug, wenn keine Passagiere zu befördern sind?«

»Dann bleibt er an der Haltestelle stehen, bis ihn jemand ruft.«

Interessant. Wenn in Haleps Ende niemand einen Zug benötigte, würde vielleicht ein Fluchtfahrzeug auf mich warten.

Mein Gedankengang wurde unterbrochen, als mein Sitz zu rotieren begann. Ich schaute mich um und sah, dass sich die anderen Sitze ebenfalls herumdrehten. Damit war meine unausgesprochene Frage beantwortet, wie die Passagiere des Zuges das Abbremsmanöver erlebten.

Der Zug hielt an, und die Türen öffneten sich zischend. Die Zugstimme sagte: »Ich wünsche dir, dass du mit dem Segen der Mutter reist.«

Da ich nicht wusste, wie ich darauf antworten sollte, bedankte ich mich nur und stieg aus.

Diese Station sah exakt genauso aus wie die letzte. Daher hatte ich fast das Gefühl, mich in einer rückwärts abgespielten Videoaufnahme zu befinden, als ich sie verließ. Nur die Kunstwerke waren wie erwartet andere. Was mich wieder ins Grübeln brachte: Eine Milliarde Meilen Topopolis bedeutete hundert Millionen Transitstationen – nein, Moment, vierhundert Millionen, wenn es für jedes Flusssystem eine eigene Zugstrecke gab. Also produzierten die Quinlaner entweder unfassbar viel Kunst, oder sie kopierten sie immer wieder. Einen Moment lang fragte ich mich, ob es irgendwo eine Kunstfabrik gab, in der Quinlaner am Fließband Statuen und Bilder herstellten.

Ich ging wieder zu der Seitentür, die nur mit einem einfachen Riegel verschlossen war, und trat ins Freie hinaus.

Genauer gesagt, in den Regen. Es war ein mildes Nieseln. Seit unserer Ankunft in der Topopolis hatten wir noch keinen einzigen Wolkenbruch erlebt. Vermutlich, weil ein starker Regenguss zu viel Erosion und damit einen erhöhten Aufwand für das Wartungspersonal verursacht hätte. Außerdem war es natürlich zu erwarten, dass in einer künstlichen Umwelt vornehmlich milde Wetterbedingungen herrschten.

Dennoch wurde ich nass, was einem Quinlaner nichts ausgemacht hätte, mein in einem menschlichen Körper großgewordenes Gehirn jedoch gehörig nervte. Und ich würde in diesem Chaos keinen Bach riechen können. Laut vor mich hin murrend marschierte ich auf die nicht weit entfernte Stadt zu.

Ich fand es bemerkenswert, dass sich alle Transitstationen außerhalb von Städten befanden. Und es war ja nicht so, dass die Städte oder die Stationen versetzt worden wären. Die Städte waren an den günstigsten Uferabschnitten errichtet worden, sie befanden sich also zweifellos genau an der richtigen Stelle. Die Stationen dagegen … nun, wie sollte man die versetzen können?

Vielleicht war das eine quinlanische Eigenart. Sie konnten den Menschen nicht in jeder Hinsicht ähneln. Möglicherweise wollten sie keine Transitstationen direkt vor der Nase haben. Das war eine der Fragen, von denen wir immer mehr anhäuften und auf die wir eines Tages eventuell eine Antwort erhalten würden. Vielleicht aber auch nicht.

Es war schon sehr spät, und allmählich wurde es dunkel. Vermutlich drohte mir von den hiesigen Wildtieren keine Gefahr, aber ich würde aufhören müssen, mich zu bewegen, wenn ich nicht ihre Aufmerksamkeit erregen wollte. Ein Bett in der Stadt schien mir dafür am besten geeignet zu sein. Ich ließ mich auf alle viere fallen und legte einen ordentlichen Zahn zu.

Es war gar nicht so einfach, ein Zimmer zu bekommen. Allmählich verstand ich, wieso Bridget uns als Sabbat hatte ausgeben wollen. Diese vierköpfigen Reisegruppen waren überall anzutreffen, und es gab einen ganzen Wirtschaftszweig, der sich ausschließlich auf diese Kundengruppe spezialisiert hatte. Für einzelne Reisende galt das jedoch nicht. Erst beim dritten Hotel hatte ich Erfolg.

Ich hatte mein Gesicht erneut leicht verändert, da es mir lieber war, nicht ständig mit dem gleichen herumzulaufen.

Am nächsten Tag stand ich früh auf. Anstatt mich mit dem Frühstück und dem dazugehörigen Bier (bäh!) aufzuhalten, begab ich mich direkt zum Fluss. Die Berge waren nur wenige Meilen entfernt. Im Wasser würde ich sie wesentlich schneller erreichen als zu Fuß.

Ich beschloss, etwas weiter zu schwimmen als nötig und mich dem Eingang von hinten zu nähern, um möglichen Überwachungskameras aus dem Weg zu gehen. Ich ging nach wie vor davon aus, dass das Habitat mit ganz normalen zivilen Sicherheitsvorrichtungen, aber keinen militärischen Verteidigungsanlagen ausgestattet war. Meiner Einschätzung nach würde es nur am Weg zum Tor Kameras geben.

Wenn ich mit meinen Vermutungen nicht komplett danebenlag, war der Eingang nicht vor der Bevölkerung versteckt, sondern nur kaschiert worden, um die Illusion einer vollkommen natürlichen Umgebung nicht zu zerstören. Außerdem würden die Erbauer darauf geachtet haben, dass das Personal ihn mühelos erreichen konnte. Demzufolge würde er sich so dicht wie möglich am Fluss und in einer Erhöhung befinden, die genügend Platz für einen unterirdischen Wartungskomplex bot – da die Quinlaner nun mal Quinlaner waren.

Natürlich würde er auf die eine oder andere Weise gesichert sein, sodass ich nicht einfach hingehen und die Klinke drücken konnte. Aber genau für solche Zwecke hatte ich schließlich die Roamer dabei.

Ich schwamm so lange stromaufwärts, bis ich zu der Stelle gelangte, wo das fruchtbare Land endete und der Pseudo-Fels begann. Aus der Nähe erkannte ich, dass die Berge eindeutig nicht aus natürlichem Gestein bestanden. Tatsächlich hatte das Material ungefähr die Konsistenz von vulkanischem Bimsstein. Vermutlich war es sehr leicht, um in der rotierenden Hülle keine Unwucht zu erzeugen. Seine Oberfläche war so gefärbt, dass sie sich aus einiger Entfernung betrachtet in die Landschaft einpasste.

Als Nächstes hangelte ich mich stromabwärts am Ufer entlang und inspizierte den Felsen, auf der Suche nach … irgendwas. Und siehe da! Schließlich fand ich etwas.

Bimsstein ist hart, aber leicht, weil er hauptsächlich aus Luftblasen besteht. Und er verwittert. Ich weiß nicht, seit wie vielen Generationen die Quinlaner diesen speziellen Pfad zum Fluss schon benutzt hatten, aber es waren genug gewesen, um ihn sichtlich auszutreten. Grinsend hievte ich mich aus dem Wasser. Damit war ich am Ziel.

Oder zumindest so gut wie. Schließlich war es durchaus möglich, dass der Widerstand den Eingang überwachte. Vielleicht hatten sie jemanden für diese Aufgabe abgestellt. Oder sie benutzen elektronische Sensoren. Wobei Letzteres möglicherweise die Aufmerksamkeit der Verwaltung erregen würde. Ich tippte also eher auf eine Low-Tech-Lösung.

Mir wurde bewusst, dass sich mein innerer Vizzini wieder einmal im Kreis drehte. »Unvorstellbar«, lispelte ich und entschied mich dazu, kühn zu sein.

Ich spuckte all meine Spinnen aus und befahl ihnen, die Umgebung abzusuchen, während ich selbst den Pfad entlangging. Eine Minute später stand ich vor einer glatten Wand. Nirgends waren Kameras zu sehen. Ich dachte an die Minen von Moria und flüsterte grinsend: »Freund.« Natürlich passierte nichts. Tolkien hatte hier keine Macht.

Roamer dagegen schon. Ich befahl den Spinnen, den Felsen unter die Lupe zu nehmen, und schickte auch noch meine Flöhe los. Ich war sicher, dass sie alles aufspüren würden, was es zu entdecken gab, und nutzte die Wartezeit für ein Sonnenbad.

Es war später Nachmittag. Die Gipfel blockierten das Sonnenlicht und sorgten für eine frühe Dämmerung im Vorgebirge, als einer meiner Flöhe einen Fund meldete. Ein kleiner Konstruktionsfehler hatte eine Stressfraktur in der Bimssteinschicht verursacht, die an dieser Stelle nur ungefähr einen Zoll dick war. Der Floh hatte in der darunterliegenden Struktur einen Lüftungsschacht ausgemacht und bat mich um Erlaubnis, ihn aufzuschneiden.

Ich gestattete es ihm und schickte weitere Flöhe zur Unterstützung.

An Sicherheitstüren gibt es, unabhängig davon, wie viel Elektronik in ihnen verbaut ist, immer irgendwo einen Riegel, der von einem Magnet oder Motor bewegt wird. Betrieben wird dieser Mechanismus mit Strom, der an- und abgeschaltet werden kann. Die Roamer sind so konstruiert, dass sie, wenn nötig, als elektrische Leiter fungieren können. Das ist sehr hilfreich, wenn man Schaltkreise testen und reparieren muss. Und auch beim Spionieren.

Meine Roamer entdeckten außerdem einen Sensor, der Meldung machen würde, wenn die Tür geöffnet oder geschlossen wurde. Einer meiner Flöhe zerstörte ihn, indem er einfach das dafür nötige Bauteil festschweißte.

Die Tür öffnete sich.

Allerdings gingen ohne das Sensorfeedback die Lichter nicht an, sodass ich in einen schummrigen Korridor schaute, in dem es stockfinster sein würde, sobald die Tür wieder zuging. Dass ich auch im Infrarotbereich sehen konnte, half zwar ein wenig, dennoch würde ich langsam gehen müssen.

Sobald ich mich in Bewegung setzte, gingen die Lichter dann doch noch an. Es gab also Bewegungsmelder. Hoffentlich waren sie nur dazu da, die Beleuchtung zu steuern. Seufzend akzeptierte ich, dass ich nicht alles planen konnte. Also würde meine Strategie wie üblich zu einem Gutteil aus Improvisation bestehen.

Ich befahl meinen Spinnen, an den Wänden und der Decke des Korridors vorauszugehen und mich vor Sprengfallen, Kameras, Stolperdrähten, Säuregruben, Horden von Kobolden und/oder Orks sowie allem anderen zu warnen, das nicht zu einem gemütlichen Teekränzchen gehörte.

Der Korridor führte zu mehreren Aufzügen. Natürlich tat er das. Denn nichts ist so »unauffällig«, wie mit einem Fahrstuhl in ein Geheimversteck hinunterzufahren. Ping. Vierter Stock: Böse Genies, ihre Handlanger, Laserwaffen und U-Boot-Anlegestellen. Achten Sie bitte darauf, wohin Sie treten.

Andererseits war dies kein Geheimversteck aus einem James-Bond-Film. Ich rechnete mit niedrig schwelligen Sicherheitsmaßnahmen – Zugangskarten und Sensoren anstelle von Wächtern mit Gewehren. Dieses Gebäude war vermutlich gemäß den quinlanischen Bauvorschriften errichtet worden. In dem Behördenbau, in dem Bridget und ich auf Quin gewesen waren, hatte es eine Fluchttreppe gegeben. Hier drin sicher auch.

Ah, da war sie ja. Allerdings zugesperrt. Ich wollte sie nicht aufbrechen und hätte es vielleicht auch gar nicht geschafft. Sie wirkte ein bisschen massiver als die Seiteneingänge der Transitstationen und war vermutlich alarmgesichert. Die Flöhe schlüpften hinein. Ein paar Sekunden später hatten sie den Alarmsensor blockiert, und die Tür sprang auf. Ich zog sie hinter mir zu und wies die Flöhe an, den Verriegelungsmechanismus zu deaktivieren.

Die Fluchttreppe war, wie ich es von der Erde kannte, dauerhaft beleuchtet. Die zahlreichen Parallelen zwischen den beiden komplett unverwandten Zivilisationen waren wirklich erstaunlich.

Einen Moment lang überlegte ich, wie gut es wäre, wenn wir noch ein paar weitere technisierte Gesellschaften entdecken und miteinander vergleichen könnten. Ein interessanter Gedanke, aber im Moment sollte ich mich wohl besser darauf konzentrieren, einen Weg in den Unterschlupf der Bösewichte zu finden.

Ich nahm mir einen Augenblick Zeit, um einen Bericht an meine Mitstreiter zu schicken, damit Hugh den Eingang leichter finden würde, wenn er selbst in die Nähe der Berge gelangte.

Anschließend ging ich ein Stockwerk nach unten und schickte einen Floh als Späher unter der Treppenhaustür hindurch. Niemand da. Hervorragend. Ich öffnete die Tür so leise wie möglich, streckte den Kopf hindurch und schaute mich erneut kurz um, ehe ich hinaustrat.

Ab hier hatte Schleichen keinen Sinn mehr. Nichts war bei einem Einbruch verdächtiger als Verstohlenheit. Nein, ich gehörte hierher. Oder besser noch: Mir gehörte dieser Ort. Ich stellte mich aufrecht hin, streckte die Brust raus und ging mit energischen Schritten den Korridor entlang. Meine Spinnen und Flöhe sprangen eilig an Bord.

Das Gebäude fühlte sich bewohnt an. Die Luft war nicht muffig, nirgends lag Staub, sämtliche Lichter funktionierten, und alles war da, wo es hingehörte. Natürlich konnten dafür auch automatische Systeme verantwortlich sein. Wenn es so war, stünde ich wieder am Anfang.

Dummerweise war die ganze Einrichtung wahrscheinlich sehr groß, da in ihr zahlreiche Pflege- und Instandhaltungsarbeiten ausgeführt wurden. Und der Widerstand besetzte vermutlich nur einen winzigen Bereich des Gebäudes.

Vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise verzettelte ich mich wieder in einem Vizzini-Gedankengang, aber die Säuberungspatrouillen im Weltraum bewiesen, dass die Quinlaner sich mit Automation auskannten. Gut möglich also, dass auch die Wartungsarbeiten in Himmelsfluss vorrangig automatisch abliefen. Andernfalls hätte die Verwaltung zu viele Leute in den inneren Zirkel aufnehmen müssen, und ich konnte mir einfach keinen Bund aus Hunderttausenden oder vielleicht sogar mehreren Millionen Hausmeistern und Klempnern vorstellen, die über Generationen hinweg im Verborgenen agierten. Nein, wahrscheinlich enthielt das Gebäude größtenteils Lagerräume und Wartungssysteme und nur wenige auf das quinlanische Aufsichtspersonal zugeschnittene Bereiche in der Nähe der Aufzüge. Zumindest wäre es in einem vergleichbaren menschlichen Gebäude so gewesen, und ich war mir mittlerweile ziemlich sicher, dass die Quinlaner und die Menschen organisatorische Probleme auf sehr ähnliche Weise lösten.

Ich horchte in mich hinein, doch Vizzini schien mir nicht widersprechen zu wollen. Gut.

Wie sich herausstellte, waren meine neurotischen Selbstgespräche manchmal tatsächlich zu etwas gut. Denn während ich reglos dastand und auf ein Gegenargument wartete, vernahm ich plötzlich ein Geräusch. Es war ganz leise, und ich konnte nicht sagen, was es verursacht hatte – nicht einmal, als ich die Aufnahme noch einmal abspielte.

Entweder hatte es gar nichts zu bedeuten, oder es kamen Leute. Ich tippte auf Letzteres.

Die Flöhe und Spinnen waren stark beansprucht, und mir war klar, dass ein paar von ihnen gewartet werden mussten. Wenn es hart auf hart kam, würde ich vielleicht alle Mann an Deck brauchen. Daher schluckte ich sämtliche Spinnen, bis auf eine, die immer noch in guter Verfassung war. Ich wies sie an, vorauszugehen und um die Ecken zu spähen. Ich hörte auch weiterhin Geräusche, die mehr und mehr wie quinlanische Stimmen klangen, je näher ich ihrer Quelle kam.

»Hey, Bob, hast du mal einen Moment?«

Ich fuhr fast aus dem Fell. Wenn es so etwas wie einen kybernetischen Herzinfarkt gab, dann erlitt ich gerade einen.

»Im Moment nicht, Bill. Ich schleiche gerade in Dr. Evils Versteck.«

»Ah, okay. Ruf mich zurück, wenn du Zeit hast.«

»Mach ich.«

Ich unterbrach die Verbindung, fasste mir ein sprichwörtliches Herz und folgte weiter der Spinne. An der nächsten Ecke wurden die Stimmen mit einem Mal wesentlich deutlicher, und ich hörte Stuhlbeine, die über den Boden schabten sowie Gegenstände, die aneinanderschlugen. Wahrscheinlich war ich sehr dicht an ihnen dran. Ich wollte mich nicht auf sie stürzen und alle erstechen. Je nachdem, wie viele es waren, wäre ich dazu vielleicht auch gar nicht in der Lage …

»Hallo, Bob. Wo steckst du gerade?«

Un-fucking-fassbar. Ich war seit dreihundert Jahren tot und erhielt immer noch Anrufe. Ich atmete tief durch und erwiderte: »Hey, Hugh, ich bin gerade ein bisschen beschäftigt. Kann ich dich zurückrufen?«

»Na klar.«

Ich legte – erneut – auf und suchte nach einem Bitte-nicht-stören- Schalter. Natürlich fand ich einen. Kein Bob hätte ein Kommunikationssystem ohne eine solche Einstellung konstruiert. Ich wunderte mich, dass sie mir bislang noch nicht aufgefallen war.

Die Spinne krabbelte um die letzte Ecke und spähte durch die Tür. Im Videofeed sah ich vier Quinlaner um einen Tisch sitzen. Sie hielten Stifte und Papier und lasen beziehungsweise schrieben etwas. Der Anblick wirkte fast heimelig. Ich wunderte mich über diese Lowtechmethode, aber vielleicht misstrauten sie der Sicherheit von elektronischen Systemen. Mir war nicht klar, wie weit der Arm der Verwaltung reichte.

Ihre Unterhaltung verlief gemächlich und wurde immer wieder von längeren Pausen unterbrochen. Die vier wirkten nicht deprimiert, nur konzentriert. Sie sprachen vor allem über Segmentnummern, Mitgliederzahlen und -aktivitäten. Nachdem ich ihnen eine Weile lang zugehört hatte, beschloss ich, mir ein Versteck zu suchen. Ich hielt es zwar für eine gute Idee, sie zu observieren, doch damit wäre es schnell vorbei, wenn einer von ihnen herauskam und mich hier stehen sah.

Ich schickte eine runderneute Spinne los, die meine aktuelle Kundschafterin ablöste, und begann dann, so leise wie möglich, nach einem Versteck zu suchen.

Ich begab mich in ein Büro gleich um die Ecke und rollte mich unter dem Schreibtisch zusammen. Das war zwar nicht sehr einfallsreich, aber hier würden sie mich nur entdecken, wenn sie gezielt nach mir suchten, und ich hatte nicht vor, sie auf mich aufmerksam zu machen. Da ich ein Android war, konnte ich ohne Probleme reglos verharren. Ich musste weder essen noch aufs Klo und auch keine steifen Muskeln fürchten.

Ich schickte alle Spinnen los, damit sie den Gebäudekomplex auskundschafteten. Das war nicht sonderlich riskant, da sie zwar relativ groß, aber wegen ihrer Tarnvorrichtung selbst aus der Nähe kaum auszumachen waren.

Einer der Quinlaner ging auf die Toilette, und ein anderer holte aus einem Kühlschrank etwas zu essen, ansonsten schienen sie ebenfalls an Ort und Stelle bleiben zu wollen. Ich fragte mich, ob die Mitglieder des Widerstands dazu berechtigt waren, sich in diesem Gebäude aufzuhalten oder nur wie Ratten in den Ecken hausten. Konnte die Verwaltung ihre Aktivitäten hier drin überwachen? Wenn ja, wieso hatte sie diesen Bereich dann nicht schon längst zurückerobert? Und falls nicht, weshalb wimmelte es hier dann nicht vor Widerstandskämpfern?

Eine der Spinnen trippelte in einen Schlafsaal. An den Wänden standen Stockbetten, von denen ein paar besetzt waren. Die Schlafenden mit eingerechnet zählte ich nun insgesamt zehn Quinlaner. Allerdings gab es achtzehn Schlafplätze.

Ich ließ die Spinne den Blick durch den Raum gleiten und dann wieder rückwärts hinausgehen.

Zwei Spinnen hatten eine große Tür aus Industriemetall entdeckt. Ich fragte mich, ob sie zu dem Bereich mit den automatischen Systemen und Instandhaltungsgeräten führte – sofern es hier so etwas tatsächlich gab. Ich hoffte, dass sie Bender nicht dort untergebracht hatten, da ich es für ziemlich gefährlich hielt, diese Tür aufzubrechen. Allerdings erschien es mir ziemlich unwahrscheinlich. Vermutlich konnte sich der Widerstand auf dieser Seite der Tür wesentlich freier bewegen.

Ich beschloss, ein paar Rückrufe zu tätigen. Die Spinnen würden autonom operieren und sich bei mir melden, wenn es ein Problem gab.

Als Erstes kontaktierte ich Bill.

»Hey, Bob. Was treibst du da Spektakuläres?«

»Ich bin, soweit ich es sagen kann, im Hauptquartier des Widerstands und schnüffle ein bisschen herum.«

»Hast du schon eine Spur von Bender gefunden?«

»Noch nicht. Ich glaube zwar nach wie vor, dass unsere Theorie stimmt, aber es kann natürlich auch sein, dass wir uns täuschen und er in Wahrheit ganz woanders steckt.«

»Vielleicht am anderen Ende des Abschnitts?«

»Ich glaube nicht. Haleps Ende befindet sich nur wenige Meilen entfernt, und laut Bender erwähnen seine Entführer diese Stadt ziemlich oft. Ich kann mir höchstens vorstellen, dass es in der Gegend noch ein weiteres Versteck gibt. Also, worüber wolltest du mit mir sprechen?«

»Ich wollte nur das Neueste aus unserem Krieg gegen die Sternenflotte berichten. Wir haben sie, was das Netzwerk anbelangt, in die Ecke getrieben. Der Großteil der gehackten Ausrüstung ist entweder gesäubert oder zerstört und wird ersetzt. Aber soll ich dir was Lustiges erzählen …?«

»Ja?«

»Ich habe mit einigen Sternenflottenmitgliedern gestritten und verhandelt. Sie wirkten über den hohen Grad der Infiltration genauso überrascht wie wir. Anscheinend haben sie selbst keine Ahnung, wer die Systeme gehackt hat.«

»Oh … verdammt, Bill. Ich frage mich, ob wir gerade wirklich sauber sind. Ich meine, die Skippys sind gut, aber das gilt auch für die Hacker. Was, wenn sie genauso viel Prozessorleistung oder sogar noch mehr zur Verfügung haben? Oder wenn es ein paar Skippys sind, die ein doppeltes Spiel treiben?« Während ich das sagte, wurde mir klar, dass ich die Skippys zwar noch nie bewusst verdächtigt, mich ihnen gegenüber aber durchaus argwöhnisch verhalten hatte. Oder wieso hätte ich die Drohnen damals sonst mit Überwachungsmonitoren ausstatten sollen?

»Daran habe ich schon gedacht. Ich habe eine archivierte Quelldatenversion meines Kommunikationssystems aus der Zeit vor den Skippys und der Sternenflotte ausgegraben, sie mit der aktuellen Ausgabe verglichen und neu kompiliert. Ich bin also nachweislich sauber. Und dein provisorisches Relais wurde nie gehackt. Unsere Unterhaltung sollte also abhörsicher sein.«

»Gut, du musst alle Bobs dazu bringen, dass sie ihre Systeme ebenfalls säubern und neue Verschlüsselungscodes generieren. Das wird eine Weile dauern.«

»Ich habe alles unter Kontrolle, Bob. Ich wollte dir nur persönlich Bescheid sagen.«

Wir unterhielten uns noch kurz über ein paar andere Dinge, dann kappte ich die Verbindung. Hughs Verhalten war von Anfang an ein wenig befremdlich gewesen, doch wenn die Skippys keine Hellseher waren, wusste ich nicht, wie sie irgendetwas von alldem hätten planen können. Außer wenn es bei alldem gar nicht um die Quinlaner ging. Aber was folgte daraus?

Natürlich war es gut möglich, dass die Skippys nichts mit der Sache zu tun hatten.

Ich beschloss, Hugh anzurufen und während des Gesprächs auf eventuelle Ungereimtheiten zu achten.

»Hugh hier.«

»Hey, Hugh, hier ist Bob. Endlich habe ich ein paar Millisekunden. Weswegen hast du vorhin angerufen?«

»Ach ja, wir haben heute in Ostspitze angelegt, und ich habe mich auszahlen lassen. Der Kapitän hat mir einen Bonus angeboten, wenn ich bleibe. Anscheinend bin ich ein guter Arbeiter …« Hugh unterdrückte ein Lachen. Ich konnte es nachvollziehen. Mit unserer für Bobs typischen Besessenheit und der Stärke und Ausdauer des Mannys hatte er die Kisten wahrscheinlich mit mathematischer Präzision gestapelt.

»Was ich eigentlich sagen wollte«, fuhr er fort, »ich habe deinen letzten Blogeintrag gelesen, und dabei ist mir eine Idee gekommen. Ich habe mich gefragt, ob es in den stromabwärts gelegenen Hängen der Berge ebenfalls einen Eingang gibt, damit das Wartungspersonal auf beiden Seiten hineinkommen kann. Es erschien mir vernünftig. Und ich hatte recht. Wie auch immer, ich bin jetzt drin, und bislang scheint niemand zu Hause zu sein.«

»Du hast überhaupt niemanden gesehen?«

»Genau. Ich glaube, die Verwaltung setzt vor allem auf Automation.«

»Hmm. Das ist wahrscheinlich die halbherzigste Autokratie, von der ich je gehört habe. Ich frage mich, gegen was sich der Widerstand eigentlich zur Wehr setzt. Haben sie je versucht, einfach eine Dampfmaschine zu bauen?«

»Das ist eine rhetorische Frage, stimmt’s? Du hast doch schon Quinlaner kennengelernt, die verstreut worden sind.«

»Ja, ja. Gib mir Bescheid, wenn du irgendwas entdeckst.«

»Mach ich, Boss. Over and out.«

Nun, das war nicht besonders merkwürdig gewesen. Vielleicht hatte er einen guten Tag. Oder er log mir dreist ins Gesicht. Großartig. Jetzt war ich also komplett paranoid. Ich würde mich an das halten müssen, was ich kontrollieren konnte, und durfte mir über den Rest keine Sorgen machen. Irgendwie.

Eine meiner Spinnen piepte mich an. Ich öffnete ihr Videofenster und zuckte zusammen. Auf einem Tisch lag, inmitten von einem Gewirr aus elektrischen Geräten, eine Version-2-Replikanten-Matrix. Da sie zudem auf einem Haltegestell für Version-2-Heaven-Sonde ruhte, war eine zufällige Ähnlichkeit ausgeschlossen. Zumal einige Bauteile auf Englisch beschriftet waren.

Bender.

Er wurde immer noch mit Strom versorgt. Ich war erleichtert, dass sie seine Kommunikationsverbindung nicht mit einer Abschaltung oder etwas noch Schlimmerem unterbrochen hatten.

Weitaus weniger gefiel mir, dass ich nirgends VR -Elektronik sehen konnte, denn das hieß, dass Bender seit mehr als hundertdreißig Jahren ohne eine pseudophysische Realität existieren musste. Ein Zustand, der weder Henry noch Medeiros besonders gut bekommen war. Andererseits hatte Bender während unseres Gesprächs ganz vernünftig gewirkt.

Also, wie sollte ich ihn dort herausbekommen? Mal sehen: Ich war im Fluss mehrere Meilen von Haleps Ende hergeschwommen. Diese ganze Strecke würde ich nun mit einer großen und unhandlichen Matrix an Land zurückkehren müssen. Anschließend würde ich mit dem Zug nach Garacks Rücken zurückfahren und hoffen müssen, dass ich dabei niemandem begegnete. Dort angekommen, musste ich mich abholen und aus der Topopolis hinausfliegen lassen, ohne dass mich die Wächter der Verwaltung in die Luft sprengten. Nicht zu vergessen, dass ich ihn erst einmal aus dem Versteck des Widerstands herausschmuggeln musste. Und bei alldem durfte ich mich weder von der Verwaltung noch von der Crew oder dem Widerstand erwischen lassen.

Das reinste Kinderspiel.

Ich befahl der Spinne, sich im Raum umzusehen, und wies eine der anderen an, im Korridor Wache zu halten. Sobald ich sicher war, dass mich kein unvermittelt auftauchender Quinlaner überraschen konnte, schickte ich die Spinne zu der Matrix.

Es war das Gleiche wie mit dem Notausgang: Wie kompliziert die Elektronik auch sein mochte, irgendwo musste es eine Schnittstelle mit der physischen Welt geben. In diesem Fall war sie nötig, um Töne in Elektrizität beziehungsweise Elektrizität in Töne umzuwandeln. Einen Augenblick später fand ich die Kombination aus Mikro fon, Lautsprecher und Kamera, mit deren Hilfe Bender mit seiner Umwelt interagierte. Daneben stand ein weiteres Motorola-Funkgerät. Dieses Set-up war technisch vergleichsweise simpel, aber durchaus sinnvoll: Indem sie Bender wie eine lebende Person in das Funkgerät sprechen ließen, konnten sie alles überwachen, was er sagte und hörte.

Allerdings ermöglichte es mir auch, mich in Benders System einzuklinken, ohne ihn zu gefährden. Die Spinne überprüfte ein paar Minuten lang die Verkabelung und verband sich schließlich mit seiner Kommunikationsanlage.

»Bender?«

Nach einer kurzen Pause hörte ich: »Bob?«

»Wie ich leibe und lebe, mein Freund. Mehr oder weniger zumindest. Wie geht es dir?«

»Gerade jetzt verdammt gut. Wie kommt es, dass du mit mir sprechen kannst?«

Ich erklärte es ihm, und er lachte. »Hut ab, das ist wirklich eine äußerst komplizierte Rube-Goldberg-Maschine.«

»Sag, wie hältst du dich? Ich habe keine VR -Hardware gesehen …«

»Ja, ich weiß, worauf du hinauswillst. Ich verringere meine Wahrnehmungsrate so oft wie möglich auf das absolute Minimum. Für mich sind seit unserem letzten Gespräch erst ein paar Minuten vergangen. Und in der Zwischenzeit habe ich mich ein paarmal mit meinen Entführern unterhalten. Ich habe also noch keinen kompletten Lagerkoller. Allerdings hätte ich wirklich gern eine Tasse Kaffee.«

»Ist notiert. Ich überlege gerade, wie ich dich hier rausbekomme. Ich weiß nicht, ob dir klar ist, was ich mit ›hier‹ meine, aber ich stehe vor dem Problem, dass ich deine Matrix viertausend Meilen weit durch diese Megastruktur transportieren muss, und zwar größtenteils unter Wasser, ohne dass du dabei total verrostest oder dir einen Kurzschluss holst. Und natürlich wollen wir dabei weder von der Verwaltung noch vom Widerstand erwischt werden.«

»Du könntest ein Transportmittel verwenden.«

Ich lachte. »Genau das habe ich auf dem Herweg getan. Und ich hoffe auch, dass wir mit dem Zug nach Garacks Rücken zurückfahren können. Aber dafür muss ich dich erstmal bis zum Bahnhof schleppen.«

»Ich verstehe.«

»Ich habe eine Sicherheitskarte gestohlen, mit der man einen Zug rufen kann. Mir ist übrigens immer noch nicht klar, wie ein Mitglied des Widerstands an so eine Karte gekommen ist.«

»Was glaubst du, was ich den letzten hundert Jahren getan habe? Ich musste für den Widerstand elektrische Geräte checken, sie hacken und vor den Augen der Verwaltung verbergen. Unter anderem habe ich Widerstandskämpfer auf die Gehaltsliste der Crew gesetzt.«

»Da wir schon dabei sind: Mir sind die hiesigen politischen Verhältnisse immer noch ein bisschen unklar.«

»Okay, der Widerstand hat fast exakt gleichzeitig mit der Verwaltung den Betrieb aufgenommen. Ursprünglich bestand er aus Forschern, Ingenieuren und Technikern. Ihre Nachfahren führen den Kampf fort, doch im Lauf der Generationen sind viele Kenntnisse verlorengegangen. Ich helfe ihnen dabei, ihre Wissenslücken zu schließen. Ich glaube, die Verwaltung bekommt kaum etwas davon mit, dass sie unterwandert wird.«

»Was ist mit der echten Crew? Benutzen sie die Züge?«

»Hin und wieder. Die meisten Crewmitglieder bleiben vor Ort und werden nur eingesetzt, wenn ein Kontakt mit der Bevölkerung erforderlich ist. Sie wissen noch weniger als der Widerstand. Dafür werden sie besser bezahlt.« Bender gluckste. »Natürlich gibt es Leute, die beiden Gruppen angehören. Was die Verwaltung sicher ahnt. Deswegen geben sie den Crewmitgliedern so wenig Informationen wie möglich.«

»Werden die Verwaltungsposten vererbt? Wie lernt eine Verwaltergeneration die nächste an?«

Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen. »Verdammt, Bob, ich dachte, du wüsstest es. Die Verwaltung besteht nicht aus Quinlanern. Sie ist eine künstliche Intelligenz.«

»Was … zum …?« In letzter Zeit erhielt ich wirklich eine Menge metaphorische Schläge in die Magengrube. Nur mit Mühe hielt ich mich davon ab, aufzuspringen und laut zu fluchen. Mit einem Mal hatten die Skippys ein Motiv. »Warte mal, Bender, ich muss Bill anrufen. Bin gleich wieder da.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, verfasste ich einen Text. Es würde einfacher sein, wenn Bill diese Information verarbeitet hatte, ehe er mir antwortete.

Nachdem ich sie abgeschickt hatte, wandte ich mich wieder Bender zu. »Entschuldige bitte. Das war eine ziemlich wichtige Neuigkeit. Ich musste sie an Bill weitergeben.«

»Moment, wann wird er die Nachricht bekommen? Befindet er sich hier im System?«

Ich lachte. »Verzögerungslose überlichtschnelle Kommunikation, Kumpel. Das ist eins der vielen Dinge, an die du dich gewöhnen musst.«

»Wow. Das lässt das Universum sicher ganz schön zusammenschrumpfen.«

Bills Antwort kam herein. »Das erklärt einiges. Wir werden unsere Strategien entsprechend anpassen müssen.«

Hmm. Wahrscheinlich konnte ich Bender zu unserer Eintrittsstelle bringen, ohne Hugh einzubeziehen. Das war schon mal gut. Andererseits hatte Hugh … Oh, Mist.

»Guppy, hat Hugh in irgendeiner Weise mit der Ausrüstung interagiert?«

[Hugh hat Anweisungen zum Bau und Einsatz von Tarnkappendrohnen erteilt.]

»Kein weiteren Interaktionen?«

[Nein.]

Nun, das war gut. »Guppy, überwache alle Kommunikationsverbindungen mit Hugh. Sperre seinen Zugang zu meinen Systemen, vor allem den Roamern. Und lass dir all seine Befehle erst von mir bestätigen, bevor du sie befolgst.«

[Bestätigt.]

Wenn Hugh Guppy gehackt hatte, würde alles umsonst sein. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, wie er die Firmware hätte verändern können, ohne die Festplatte auszutauschen und das System komplett neu zu starten. Also würde ich fürs Erste so tun, als hätte ich alles im Griff, und bei nächstbester Gelegenheit die Software komplett durchchecken.

Außerdem durfte ich den Kontakt mit Hugh nicht komplett abbrechen. Er managte die Überwachungsdrohnen vor Ort und war der einzige andere Bob, der einen der quinlanischen Mannys steuern konnte. Ich würde lediglich darauf achten müssen, worum ich ihn bat.

»Bob? Bist du noch da?«

Oh. Offenbar hatte ich einen Moment zu lange geschwiegen. »Entschuldige, Bender. Ich habe gerade eine Antwort von Bill erhalten. Auf einmal ist alles komplizierter geworden. Aber das ist zumindest im Moment nicht dein Problem. Kennst du den Weg zum Bahnhof?«

»Nein. Tut mir leid. Aber ich weiß, dass es in diesem Gebäudekomplex einen gibt.«

Hier in dieser Einrichtung? Dann hätte ich also nicht erst nach Haleps Ende fahren müssen? Andererseits wusste ich gar nicht, welchen Zielbahnhof ich der Zugstimme stattdessen hätte nennen sollen.

So oder so würde ich auf keinen Fall Bender nehmen und ziellos durch die Gegend laufen. Also blieb mir gar nichts anderes übrig, als erst einmal die Spinnen die gesamte Anlage komplett kartieren zu lassen.

Nach sechs Stunden hatten sie immer noch nichts entdeckt, das auch nur im Entferntesten an eine Transitstation erinnerte.

»Hast du irgendwelche Ideen, Bender?«

»Tut mir leid, Bob, ich war offline, als sie mich hergeschafft haben. Sie kann beliebig viele Stockwerke tiefer …«

»Ach verdammt!«, unterbrach ihn. »Den Fahrstuhl habe ich ganz vergessen.«

»Du hast wahrscheinlich die Treppe genommen, oder? Andernfalls wärst du wohl kaum hier.«

Ich runzelte die Stirn. »Wieso nicht?«

»Die Fahrstühle sind mit Kameras ausgestattet. Die Wachmannschaft merkt also sofort, wenn jemand sie benutzt.«

»Können sie die Fahrstühle fernsteuern?«

»Nein, aber sie werden uns erwarten, sobald die Türen aufgehen.«

»Na toll. Dann müssen wir also für die komplette Strecke die Treppe nehmen. Das gefällt mir gar nicht, Bender. Ich werde mich währenddessen permanent nach unserer Fluchtroute umschauen müssen, und wir könnten gesehen werden.«

»Ich kann dir nicht weiterhelfen, Bob. Tut mir leid.«

»Okay. Hast du noch weitere Informationen über die Züge? Zum Beispiel, wie häufig sie verkehren und ob der Widerstand es mitbekommt, wenn wir einen rufen?«

Bender seufzte. »Tut mir leid, Bob. Darüber weiß ich nichts. Ich war, wie gesagt, offline.«

Ausgehend von meiner Theorie, dass die Quinlaner alles mehr oder weniger genauso konstruierten wie die Menschen, begab ich mich zuerst in das unterste Geschoss. Nein, Fehlanzeige. Wie sich herausstellte, liefen dort alle Rohr- und Stromleitungen zusammen.

Im nächsten Stockwerk landete ich dagegen einen Volltreffer. Ein einzelner langer und aseptischer Gang, wie ich ihn von der Transitstation in der Nähe von Haleps Ende kannte, führte zu einem Einstiegsbereich mit zehn Türen. Zwischen zwei der Türen war ein auffälliger Knopf angebracht. Er war offensichtlich provisorisch mit Kabeln verbunden worden, die aus einem Loch in der Wand ragten. Vermutlich hatte der Widerstand ihn dort montiert, um Leuten ohne Sicherheitskarte den Zutritt zum Zug zu ermöglichen. Wenn ich ihn jetzt drückte und Bender holen ging, würde bei meiner Rückkehr vermutlich ein Zug auf uns warten. Andererseits wusste ich nicht, ob die Leute oben etwas davon mitkriegen würden. Falls ja, würde ich nicht mal in Benders Nähe kommen.

Ich würde mich wohl oder übel auf mein Bauchgefühl verlassen müssen. Und das sagte mir, dass ich es im Moment nicht riskieren konnte, den Knopf zu drücken. Stattdessen würde ich das System erst testen, nachdem ich Bender geholt hatte.

Damit stellte sich die Frage, wie ich Benders Matrix unbemerkt hierherschaffen konnte.

Auf dem Weg zu ihm schaute ich mich erneut sorgfältig um, damit ich nicht irgendwelchen herumspazierenden Quinlanern in die Arme lief. Als ich mich davon überzeugt hatte, dass die Luft rein war, rief ich all meine Flöhe und Spinnen zurück, da ich nicht mehr zu den unter Wasser lagernden Mannys zurückkehren konnte, um meine Vorräte aufzustocken.

Anschließend setzte ich mich vor Bender hin. »Gute Nachrichten, mein Freund: Ich habe den Bahnhof gefunden. Aber damit sind wir leider immer noch nicht aus dem Schneider. Wir müssen nach wie vor mit Risiken rechnen.«

»Ich glaube, dass wir gar keine andere Wahl haben, Bob. Ehrlich gesagt glaube ich, dass ich wahnsinnig werde, wenn ich noch viel länger hier festsitze. Mit einer verringerten Wahrnehmungsrate kann ich diesen Prozess nur verlangsamen, aber nicht verhindern. Da gehe ich doch lieber bei einer dramatischen Verfolgungsjagd drauf.«

Ich lachte leise. »Okay. Dann werde ich dich deaktivieren und so schnell wie möglich zum Bahnhof runtertragen. Wie klingt das?«

»Was diesem Plan an Eleganz fehlt, macht er durch haufenweise ungerechtfertigten Optimismus wett. Lass es uns tun.«

Ich ging zur Matrix hinüber. Als ich einen Finger auf den Ausschaltknopf legte, zögerte ich. »Was ich dir noch sagen wollte, Bender … Selbst wenn das hier schiefgeht, bin ich froh, dass ich dich gefunden habe.«

»Ich auch, Kumpel. Wir sehen uns im nächsten Leben.«

Ich drückte den Knopf, und Bender schaltete sich ab. Anschließend öffnete ich die Halteschnallen und klemmte ihn mir unter den Arm.

Die Replikantenmatrix bestand zwar nicht aus freiliegenden Schaltkreisen – schon das erste Modell auf der Erde hatte in einer Art Gehäuse gesteckt, und selbst der Busanschluss war mit einem Schnappdeckel geschützt –, aber wie alle Festplatten aus den guten alten Tagen würde auch diese kaputtgehen, wenn man sie gegen Wände schlug oder fallen ließ. Ich durfte sie also nicht im Rucksack transportieren.

Die aktuelle Version war ein Würfel mit rund acht Zoll Kantenlänge. Nicht sehr klobig also, aber ziemlich schwer. Ein Quinlaner oder Mensch würde sie nur mit beiden Händen tragen können.

Von ungerechtfertigtem Optimismus erfüllt, verrückte ich den Würfel ein bisschen unter dem Arm, bog um eine Ecke und rannte … geradewegs auf einen Quinlaner zu.

Unglaublich. Dieser Knallkopf musste den Versammlungsraum direkt hinter der Spinne verlassen haben, die ich dort zur Überwachung postiert hatte. Wieso war er hier? Vielleicht wollte er mit Bender sprechen.

Wir starrten uns eine gefühlte Ewigkeit lang schockiert an. Dann wanderte sein Blick zu der Matrix unter meinem Arm, und ich schlug ihm mit der Faust in den Solarplexus.

Das wird allmählich zur Gewohnheit, dachte ich.

Der Quinlaner gab ein Uff von sich und sank, nach Atem ringend, zu Boden. Ich dankte dem Universum für die konvergente Physiologie: Wenigstens konnte er nach dem Hieb keinen Warnruf ausstoßen.

Ein Stück den Gang hinauf ertönte eine Stimme. »Matthew? Alles in Ordnung?«

Ach, verdammt noch mal. Ich würde nie … Betäubungspistole! Ich hatte eine Betäubungspistole. Ich zog sie aus dem Beutel seitlich an meinem Rucksack, richtete sie auf den zweiten Quinlaner, der gerade in Sicht kam, und streckte ihn nieder. Dann zielte ich auf mein erstes Opfer – in der Hoffnung, dass er aus dieser kurzen Distanz keinen ernsthaften Schaden nehmen würde – und schoss ihm in den Hintern. Erstaunlicherweise hatte er genügend Luft in den Lungen, um vor Schmerzen und wahrscheinlich auch aus Empörung laut aufzuschreien.

»Matthew? Jeff? Was …?«

Verdammt. Ich brachte sie immer mehr gegen mich auf. Zeit, mich auf die Socken zu machen. Zum Glück befanden sie sich nicht zwischen mir und der Treppe, doch um dort hinzugelangen, musste ich meine Deckung verlassen. Als ich um die nächste Ecke bog und den Gang entlanghastete, erklangen hinter mir Warnrufe. Tja, Bender, du wolltest eine Verfolgungsszene. Dein Wunsch sei dir erfüllt.

Ich stieß schwungvoll die Tür zum Treppenhaus auf und sprintete die Stufen hinab, wobei ich immer drei auf einmal nahm – was für einen Quinlaner eine ziemliche Leistung war. Meine Verfolger würden mir das nicht nachmachen können. Als ich zwei Stockwerke tiefer war, hörte ich sie über mir ins Treppenhaus stürmen. Ich rechnete kurz nach und kam zu dem Schluss, dass ich die Tür zur Station nicht schnell genug hinter mir schließen konnte, um sie abzuschütteln. Das bedeutete, dass es zu einem Wettlauf zum Bahnsteig kommen würde. Im direkten Vergleich war ich zwar schneller, aber dafür konnten sie auf allen vieren rennen, da sie keine Replikantenmatrix mit sich herumschleppen mussten. Im Rückblick wäre der Rucksack vielleicht doch gar nicht so schlecht gewesen.

Ich erreichte das Stockwerk, in dem sich die Station befand, stürmte durch die Treppenhaustür und holte den letzten Rest Energie aus meinen internen Systemen, um so schnell wie möglich zum Bahnsteig zu gelangen. Voraussichtlich würde ich ihn mit rund dreißig Sekunden Vorsprung erreichen. Ich konnte bloß hoffen, dass dort bereits ein Zug auf mich wartete.

Hinter mir drangen laut rufend meine Verfolger aus dem Treppenhaus. Im nächsten Moment klackerte dicht neben mir ein Betäubungsflechette über den Boden. Ich befand mich natürlich außer Schussweite, aber es wunderte mich nicht, dass sie es dennoch versuchten. Ich hoffte nur, dass Benders Gehäuse den Flechettes standhalten würde, wenn es zu einer Schießerei kam. Bei diesem Gedanken fiel mir ein, dass ich gar nicht wusste, wie viel Schuss ich selbst noch im Magazin hatte.

Ich erreichte den Rufknopf und hämmerte hektisch darauf ein. Womit ich die Ankunft des Zuges vermutlich nur verzögerte, wenn er wie ein menschlicher Fahrstuhlrufknopf konstruiert war.

Durch den sterilen Korridor drang das Geräusch galoppierender Quinlaner an meine Ohren. Meine dreißig Sekunden waren fast aufgebraucht. Ich drehte mich und zog die Betäubungspistole. Als der vorderste Quinlaner in Reichweite war, schoss ich auf ihn. Er fiel mit einem Aufschrei hin und rutschte mit dem Gesicht nach unten noch ein paar Meter über den Boden. Die anderen blieben abrupt stehen und rannten wieder ein Stück zurück. Dann richteten sich zwei von ihnen auf die Hinterbeine auf und zückten ihre eigenen Pistolen.

Als ich mich gerade auf eine direkte Konfrontation gefasst machte, ertönte hinter mir ein Pling , gefolgt vom Geräusch aufgleitender Türen. Ich drehte mich um, sprang hindurch und suchte nach einem Knopf, einem Bedienfeld, irgendwas … Eine weibliche Stimme fragte: »Wohin möchtest du?«

Oh, toll. »Äh, nach Haleps Ende.«

Erneut machte es Pling , und die Fahrstuhltür glitt zu. Noch ehe sie ganz geschlossen war, flog ein Flechette durch den Spalt und traf mich am Arm.

»Au. Verdammter Mist.«

»Brauchst du ärztliche Hilfe?«

»Nein, lass uns einfach losfahren.«

»Setz dich bitte, die Beschleunigungsphase beginnt in acht Sekunden«, sagte der Zug.

Ich ließ mich auf den nächstgelegenen Sitz sinken, leg te mir Bender auf den Schoß und inspizierte die Wunde. Ein hübsches kleines Loch, ungefähr einen halben Zoll tief … Meine internen Systeme zerlegten das Flechette darin bereits und begannen mit den Reparaturarbeiten.

Im Zug gab es keine Fenster, vermutlich deshalb, weil der Anblick einer Röhre nicht sonderlich erhebend war. Aber es bedeutete auch, dass ich meine Verfolger nicht sehen konnte, während wir von der Station abfuhren. Ich nahm an, dass sie ebenfalls einen Zug riefen, aber würden sie in der Lage sein, diesem zu folgen? Konnten sie die Zugstimme dazu auffordern, sie am selben Bahnsteig rauszulassen wie mich?

»Zugstimme, kann ich darum bitten, zur selben Haltestelle gebracht zu werden wie der Zug vor uns?«

»Vor uns befindet sich kein Zug.«

Ich musterte kurz die Decke. »Können Passagiere eines Zuges hinter uns darum bitten, an derselben Haltestelle rausgelassen zu werden wie ich, ohne den Namen dieser Haltestelle explizit zu nennen?«

»Ja.«

»Scheiße.«

»Dieses Kommando habe ich nicht verstanden.«

»Macht nichts. Vielen Dank. Wie lange nach uns wird der nächste Zug eintreffen?«

»Zwischen der Abfahrt des einen Zuges und der Ankunft des nächsten ist ein zeitlicher Abstand von hundertzwölf Sekunden vorgeschrieben.«

»Danke dir. Ich habe keine Fragen mehr.«

Dann hatte ich also etwas weniger als zwei Minuten, um mich aus dem Staub zu machen oder irgendwas anderes zu tun, das mir zwischenzeitlich vielleicht noch einfallen würde.

In meiner Panik hatte ich darum gebeten, nach Haleps Ende gebracht zu werden, eigentlich wollte ich jedoch nach Garacks Rücken. Aber wenn ich diesen Zielort angab, würde dann dort ein Empfangskomitee auf mich warten? Wir hatten mehr als einmal erlebt, wie effizient und weitreichend das Kommunikationssystem des Widerstands arbeitete. Konnte ich sie reinlegen?

»Zugstimme, ist es möglich, kurz vor der Ankunft den Zielort zu ändern?«

»Ja, aber je nach Verkehr kann es nötig sein, dass wir erst am ursprünglichen Zielort anhalten müssen.«

»Können wir weiterfahren, ohne die Türen zu öffnen?«

»Nicht, wenn Passagiere am Bahnsteig warten.«

»Warten dort Passagiere?«

»Ja.«

Oh, oh.

Das würden entweder Mitglieder der Crew oder, wahrscheinlicher, des Widerstands sein. Keine der beiden Gruppen würde mich mit offenen Armen willkommen heißen. Na ja, eigentlich schon, aber nicht, um mich zu umarmen.

Ich würde ordentlich auf die Tube drücken müssen, was bedeutete, dass Benders Platz ab jetzt der Rucksack war. Ich hoffte nur, dass a) die Matrix hineinpasste und ich ihn b) so eng zurren konnte, dass Bender keinen Schaden nahm.

Nachdem ich eine Minute lang fieberhaft am Rucksack herumgenestelt hatte, fand ich schließlich heraus, wie ich Bender hineinschieben und die Haltegurte straffziehen konnte. Doch das war nur möglich, wenn ich den Rucksack größtenteils ausleerte – einerseits, um Platz zu schaffen, andererseits, damit nichts darin gegen die Matrix schlug. Also würde ich mich von der Flechette-Pistole, den zusätzlichen Messern und dem Geld verabschieden müssen …

Zum Glück dachte ich noch rechtzeitig daran, ein paar Münzen zu verschlucken. Mein künstlicher Magen konnte deaktiviert werden, sodass sie intakt blieben. Allerdings wollte ich mir auf keinen Fall so viele einverleiben, dass ich beim Gehen klimpern würde.

Als der Zug zu bremsen begann, schaute ich mich hektisch um. »Zugstimme, welche Türen werden den beiden Enden des Bahnsteigs am nächsten sein?«

»Die dritte Tür zu deiner Linken und die sechste zu deiner Rechten.«

Ich rannte nach links, ließ mich auf alle viere fallen und kauerte mich nieder wie ein Sprinter in den Startblöcken. Ich hoffte, dass ich es ins Vestibül schaffen würde, bevor alle mein Ende des Bahnsteigs erreichten.

Der Zug kam sanft zum Stehen, und die Türen glitten zischend auf. Ich spurtete, so schnell ich konnte, los und erhöhte meine Wahrnehmungsrate ein wenig, um die Lage vor Ort besser beurteilen zu können. Dabei erkannte ich sofort, dass vor der Tür vier Quinlaner mit einem Netz standen. Ich änderte meinen Kurs minimal, sodass ich direkt auf einen der vier zustürmte. Als er zu Boden ging, sprang ich von seiner Stirn ab und galoppierte den Korridor entlang. Ich blickte zurück, wobei ich nicht den Kopf, sondern nur die Augen verdrehte, und erkannte, dass vor allen zehn Türen Quinlaner standen. Woher waren all diese Leute bloß so kurzfristig gekommen?

Doch das war eine Frage, über die ich irgendwann mal bei einer Tasse Kaffee und mit Spikes Schnurren im Ohr würde nachdenken können. Im Moment musste ich Fersengeld geben. Ich stieß die Tür zur Fluchttreppe auf und flog fast die Stufen hinauf. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht überwacht …

Ehe ich reagieren konnte, trafen mich zwei Flechettes. Verdammt. Die Augen der beiden Schützen wurden immer größer, als sie erkannten, dass ich viel zu schnell herangeeilt kam und auch nicht langsamer wurde. Mittlerweile hatte ich das Umrenn-Manöver so weit perfektioniert, dass ich dabei nicht mal mehr aus dem Tritt kam. Im Vorbeilaufen sah ich, dass einem der beiden eine Sicherheitskarte vom Rucksack baumelte. Ich zog daran und riss die Befestigungsschnur mit meinem Schwung problemlos durch.

Gut möglich, dass er den Verlust bemerken und melden würde, aber dieser Diebstahl war ohnehin nur ein Ablenkungsmanöver. Ich besaß nach wie vor Nataschas Karte, und die hatten sie wahrscheinlich immer noch nicht mit mir in Verbindung gebracht.

Oben angekommen blieb ich stehen und verwandelte mein Gesicht in das des Karteninhabers – so gut, wie es mir innerhalb weniger Sekunden und ohne ein Selfie möglich war. Anschließend stieß ich die Tür auf. Auf der anderen Seite hielten drei mit Pistolen bewaffnete Quinlaner Wache.

Einer von ihnen sprach mich an. »Rick. Was ist los?«

Ich beugte mich vor, stützte die Hände auf den Oberschenkeln ab und tat, als schnappte ich keuchend nach Luft. »Ich hab ihn erwischt.« Keuch, keuch. »Brauche Hilfe.« Keuch, keuch. »Zu stark.« Mit gesenktem Kopf, damit sie mein Gesicht nicht richtig sehen konnten, deutete ich auf die Treppe.

Anscheinend waren meine schauspielerischen Fähigkeiten ausreichend, da die drei, ohne mich weiter zu beachten, sofort zur Tür eilten. Sobald sie außer Sicht waren, trat ich durch den Wartungseingang und verschwand im Unterholz.

Die gute Nachricht war, dass ich meine Verfolger abgehängt hatte, die schlechte, dass ich nun in der Gegend um Haleps Ende gestrandet war. Sie würden die Bahnhöfe sicher noch eine ganze Weile überwachen. Natürlich konnten sie nicht alle vierhundert Millionen im Auge behalten, aber das mussten sie auch gar nicht. Ohne den Zug war ich auf die Ziele beschränkt, die ich zu Fuß oder schwimmend erreichen konnte. Beziehungsweise nur zu Fuß, da Benders Matrix nicht nass werden durfte. Die Nähte des Rucksacks dehnten sich bedenklich unter dem Gewicht des Würfels. Falls eine platzte, wäre es das.

Es gab in Himmelsfluss zwar keine Passagierschifffahrt im engeren Sinne, aber es war möglich, eine Passage auf einem Boot zu buchen. Man bezahlte für einen Platz an Deck eines Frachtkahns und jagte selbst Fische, wenn man Hunger hatte. Allerdings würde früher oder später irgendwer bemerken, dass ich nicht ins Wasser ging, und anfangen, Fragen zu stellen.

Außerdem lief wahrscheinlich bereits eine Fahndung nach einem Quinlaner mit einem großen unförmigen Rucksack.

Ich musste damit aufhören, einfach nur zu reagieren, und einen Plan entwickeln. Als ich eine Wiese mit hohem Gras entdeckte, ging ich ein paar Schritte hinein und drückte mit dem Hintern einige Halme platt, bis ich ein gemütliches Nest geschaffen hatte, das niemand im Vorbeigehen bemerken würde. Dann tätigte ich einen Anruf.

»Hey, Hugh.«

»Hi, Bob. Was gibt’s?«

»Im Moment ist bei mir einiges los. Sag mal, könntest du das Gebiet um Haleps Ende scannen?«

»Na klar. Wo ist Haleps Ende?«

»In der Nähe meiner derzeitigen Position.«

»Gut, und wo bist du?«

»Ich bin in der Nähe von …« Grrr . »Ach egal, darüber habe ich wohl nicht richtig nachgedacht.«

»Tut mir leid, Bob. Wir haben immer noch nicht genügend Drohnen in der Luft, um alles abzudecken.«

»Verstehe. Trotzdem vielen Dank.«

Dieser Fauxpas war mir etwas peinlich. Vermutlich litt ich immer noch unter leichter Panik. Ich musste langsamer machen und mich sammeln.

Ich schaute in den falschen blauen Himmel hinauf, über den echte Wolken und hin und wieder auch Vogelschwärme zogen. Wie ich so im Gras lag, hätte ich mir leicht einbilden können, ich verbrächte einen Sommertag in Minnesota. Nur die großen Berge und die Streben, die den Zentralzylinder stützten, störten diese Illusion.

Die Streben …

Wills Professor hatte gesagt, dass sie Aufzüge zum Zentralzylinder enthielten. Von jedem der vier Flusssysteme stieg eine auf. Ich musste zu einem der anderen Flüsse gelangen. So weit würde der Widerstand seinen Suchradius auf keinen Fall ausdehnen können.

Aber konnte ich das überhaupt? Würde mir Nataschas Karte Zugang zu den Aufzügen verschaffen?

Bender hatte erzählt, dass er während der vergangenen hundert Jahre im Auftrag des Widerstands Zugangssysteme gehackt hatte. Wieso sollte er sich dabei nur auf Züge und Instandhaltungseinrichtungen beschränkt haben?

Entweder machte ich das, oder ich versteckte mich in dieser Gegend, bis sie aufgaben. Alternativ könnte ich versuchen, auf dem Landweg irgendwohin zu gelangen. Oder ich riskierte doch eine Bootsfahrt.

Ach, egal. Ich war gerade erst in die unterirdische Instandhaltungseinrichtung eingedrungen und wieder daraus entkommen. Sicher rechneten sie nicht damit, dass ich gleich wieder dorthin zurückkehren würde. Ich schickte eine kurze E-Mail an Will, in der ich ihn nach der genauen Position und den Zugangsmöglichkeiten zu den Aufzugsschächten fragte. Dann begab ich mich zu den Bergen zurück.

Wenigstens kannte ich den Weg.

Ich starrte durch die Büsche den einzelnen Wächter an, der vor dem Eingang der Instandhaltungseinrichtung stand, und versuchte, ihm mit meinem Laserblick das Gehirn zu verbrennen. Leider verfügte ich über keinen Laserblick. Der Wächter stand ganz entspannt da, ahnungslos, wie knapp er dem Tod entronnen war.

Ich konnte ihn angreifen und umhauen, aber würde er lange genug bewusstlos bleiben, damit ich es hinein und bis zum Aufzug schaffte? Und was war mit Überwachungskameras? Beim letzten Mal hatte ich um den Eingang herum keine gesehen, aber jetzt würden sie in voller Alarmbereitschaft sein und nur dann einen einzelnen Wachmann zurücklassen, wenn dieser zusätzlich beobachtet wurde.

Komm schon, Bob, denk nach. Was würde James Bond in so einer Situation tun?

Ich konnte einen Tunnel zum Korridor graben, aber das würde ewig dauern und wahrscheinlich auffallen. Ich konnte den Wächter töten … nein, eigentlich nicht. Ihn bewusstlos zu schlagen, bot sich nicht an. Ein Bestechungsversuch war wahrscheinlich zwecklos. Zumal ich nichts besaß, was ich ihm hätte geben können. Sollte ich einen Stein werfen und abwarten, bis er sich der Aufprallstelle näherte, um dem Geräusch auf den Grund zu gehen? Nein, das war viel zu abgeschmackt. Vermutlich würde er sich sofort in die Gegenrichtung umdrehen und mit einem Angriff rechnen.

In diesem Moment traf eine Datei von Will ein. Ich öffnete sie in meinem Head-up-Display und betrachtete die Bilder. Es waren SUDDAR -Scans von einer Segmentgrenze. Sie zeigten den Bereich am Fuß der Strebe und waren mit handschriftlichen Notizen versehen, die nicht von einem Bob stammten, sondern wahrscheinlich vom Professor. Das Wichtigste war jedoch, dass sie derart detailliert waren, dass ich den Eingang zum Transportsystem in der Strebe ausmachen konnte. Jetzt musste ich nur noch hoffen, dass ich ihn benutzen konnte. Und dass alle Anlagen an den Segmentgrenzen identisch konstruiert waren.

Da ich im Moment hier festsaß, spuckte ich die Spinnen aus, um sie nach Kameras suchen zu lassen. Außerdem wollte ich in der Lage sein, sofort aufzubrechen, wenn sich die Chance dazu ergab. Und so spuckte ich auch noch die Flöhe aus und wies sie an, erneut den Türmechanismus zu manipulieren. Gleichzeitig bewegte ich mich, ohne meine Deckung zu verlassen, so dicht wie möglich an die Tür heran.

Einen Moment später hatte ich die Kamera entdeckt. Sie war im Blattwerk versteckt und auf den Rücken des Wächters gerichtet. Er diente also vor allem als Köder. Sie rechneten also damit, dass er attackiert werden würde. Ziemlich gerissen.

Mir fiel auf, dass der Wächter immer unruhiger wurde. Er schaute sich um, lief ein bisschen auf und ab und kratzte sich ein paarmal. Da ich nichts getan hatte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, war ich nicht sicher, was … oh. Hydraulischer Druck hatte zu einem Entleerungsbedürfnis geführt. Ha. Der Wächter schlenderte ins Gebüsch und drehte dem Eingang den Rücken zu. Ich befahl den Flöhen, die Tür zu entriegeln, und schlüpfte so geräuschlos wie möglich hindurch. Zwei meiner Spinnen huschten hinter mir herein, doch die meisten von ihnen blieben draußen, zusammen mit dem Großteil meiner Flöhe. Ich überlegte, ob ich darauf warten sollte, dass sie sich einen Weg hineingruben. Doch währenddessen würde die Schicht dieses Wächters enden und seine Ablösung vielleicht den Korridor betreten. Das wäre sicher nicht gut.

Nein. Ich musste sie zurücklassen und hoffen, dass ich es nicht bereuen würde.

Diese Phase des Einbruchs war dank der bereits aufgehebelten Treppenhaustür mittlerweile fast schon Routine. Ich stieg in das nächste Stockwerk hinunter, wo sich laut Wills Plänen der Zugang zum Aufzug befand. Falls es dort Sicherheitskameras gab, würde ich einfach hoffen müssen, dass ich Natascha nach wie vor genügend ähnelte, um sie hereinzulegen.

Und dann würde ich herausfinden, ob Bender ein guter Hacker war.