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Nicht nachlassen

Bob – Juli 2334

Nirwana-Flusssystem

Ich ertappte mich dabei, wie ich mir erneut verstohlen ins Gesicht griff, und zwang mich dazu, den Arm wieder sinken zu lassen. Ich hatte mich ein weiteres Mal getarnt. Diesmal hatte ich einen willkürlich ausgewählten Passanten als Vorlage genommen. Um ein »Zwillingsproblem« zu vermeiden, war ich ein bisschen vom Original abgewichen. Falls ich meinem Vorbild begegnete, würde er mich vielleicht für einen verschollenen Bruder halten, mehr aber auch nicht.

Nachdem ich noch einmal gründlich in mich gegangen war, hatte ich Bender festgezurrt im Baumwipfel zurückgelassen. Kein Quinlaner würde derart hoch hinaufklettern, nicht mal dann, wenn man ihn mit einer Waffe bedrohte. Und die wilden Tiere waren in aller Regel klein und nicht besonders neugierig, wenn etwas nicht essbar roch. Wahrscheinlich war alles in Ordnung; dennoch hatte ich schreckliche Angst, dass Bender irgendetwas zustieß und ich ihn nicht wiederfinden würde.

Aber ich wollte nicht länger als Bob erkennbar sein, sondern mich als irgendein x-beliebiger Reisender ausgeben, und das würde am besten funktionieren, wenn man mich möglichst wenig mit Bender auf dem Rücken sah.

Und so würde Enoki Spaßvogel, ein Hansdampf in allen Gassen und Otter von Welt, auf einem hiesigen Luxusschiff eine Kreuzfahrt buchen. Oder prosaischer ausgedrückt: Ich würde versuchen, mir die Fahrt durch sieben Segmente zu erarbeiten. Das Gute war jedoch, dass ich mit Gepäck reisen konnte.

Ich schaute zu dem Schild hoch: Tonys Koffer-und-Kisten-Paradies. Na ja, nicht ganz, aber so ungefähr. Quinlaner legten zwar keinen Wert auf Samsonite-Koffer, aber manchmal benötigten sie massive Kisten, die man absperren konnte. Ein paar der angebotenen Stücke im Schaufenster ähnelten altmodischen Überseekoffern, nur ohne die Metallbänder. Die hätten mehr gekostet, als ich besaß. Doch Holz und Leder würden, wenn sie gut verarbeitet waren, meinen Zwecken genauso gut dienen.

Tony – der eigentlich Steve hieß – begrüßte mich überschwänglich, als ich den Laden betrat. Vermutlich liefen die Geschäfte gerade nicht sehr gut, und Steve war sterbenslangweilig. Das würde mir vielleicht nützen.

»Ich suche nach so einem« – ich deutete auf einen der Überseekoffer – »in ungefähr dieser Größe.« Ich breitete die Hände aus. Ich wollte ein Gepäckstück, das zu sperrig war, um es sich zu schnappen und damit davonzulaufen, aber klein genug, dass ich es tragen konnte. »Und mit einer Sicherheitsschlaufe wie die im Schaufenster.«

Steve richtete sich auf. »Mein Herr, alle unsere Koffer haben Sicherheitsschlaufen. Und Schlösser. Wir haben nur beste Ware im Angebot.«

Äh, das war zwar gut, andererseits klang es teuer. Doch in dieser Hinsicht konnte ich keine Kompromisse eingehen.

Steve ging in den hinteren Bereich des Ladens und kehrte nach wenigen Sekunden mit einem Koffer zurück, der perfekt war. Ich schaute ihn mir kurz an, wobei ich ihn auch öffnete, um sein Innenleben zu begutachten. Einen besseren würde ich nicht finden.

»Wie viel?«

»Acht Eisen- und vier Kupferstücke.«

Autsch. Ich machte keinen Hehl aus meiner Überraschung. »Das ist … äh …«

Ich sah Steve an, dass er sich ärgerte, weil er einen zu hohen Preis aufgerufen hatte. »Das ist natürlich nur der empfohlene Verkaufspreis. Aber weil heute nicht sehr viel los ist …«

Ich verstand den Hinweis. »Ich habe sieben Eisen- und sechs Kupferstücke.« Ich öffnete die Hand, um sie ihm zu zeigen. »Mehr besitze ich nicht. Und ich brauche diesen Koffer wirklich.«

Ein erleichterter Ausdruck huschte über Steves Gesicht, denn er jedoch rasch wieder unterdrückte. Offenbar machte er damit immer noch einen Gewinn. »Das ist akzeptabel.«

Ich reichte ihm das Geld und nahm den Koffer an mich. Zum Glück hatte er sich nicht stur gestellt. In dem Fall hätte ich, nur um sein Mienenspiel zu sehen, vielleicht die beiden fehlenden Eisenstücke hochgewürgt.

Der Koffer besaß ein gutes Schloss, das nicht aus Metall, sondern aus einem äußerst harten Holz bestand. Ein entschlossener Dieb hätte es vielleicht knacken können, aber mein Plan sah vor, Diebe gar nicht erst auf den Koffer aufmerksam zu machen. Zurück an meinem Baum beschmierte ich ihn zu diesem Zweck mit Dreck, damit er nicht wie neu glänzte. Nach ein paar Minuten sah er schmuddelig und abgetragen aus. Anschließend zupfte ich noch etwas trockenes Gras und polsterte damit das Innere aus.

Als ich mit den Vorbereitungen fertig war, erklomm ich den Baum und holte Bender herunter. Ich zog die Matrix aus dem vielgescholtenen Rucksack und legte sie vorsichtig in den Koffer, wobei ich darauf achtete, dass die wichtigen Bauteile so fest eingepackt waren, dass sie sich nicht bewegten.

Zum Abschluss spuckte ich meine letzte verbliebene Spinne aus und legte sie zu der Matrix in den Koffer. Sie war meine Versicherungspolice, denn sie würde das Schloss von innen manipulieren, damit es schwerer zu öffnen war. Und falls es dennoch einem Dieb gelang, es aufzubrechen, würde sie ihm den Plasmaschneider durchs Gesicht ziehen.

Der Rucksack sah nicht gut aus. Der Würfel hatte ihn gedehnt, und ich war mir nicht sicher, ob er sich wieder zu seiner alten Form zusammenziehen würde. Wenn nicht, würde ich damit sogar ohne Matrix auffallen, doch kei nen Rucksack zu tragen wäre noch verdächtiger. Seufzend schüttelte ich ihn ein paarmal und streifte ihn dann über.

Jetzt musste ich mich nur noch um eine Sache kümmern.

»Hast du eine Sekunde, Hugh?«

»Klar, was gibt’s?«

»Ich werde mich als Deckarbeiter bewerben. Muss ich dazu irgendwas wissen? Gibt es so etwas wie eine Zunft oder Gewerkschaft?«

»Nein, nicht im herkömmlichen Sinne. Es gibt zwar eine Zunft, aber die schlichtet nur und verhandelt die Bezahlung. Wenn du auf einem Schiff arbeitest, wirst du dort automatisch Mitglied.«

»Gibt es denn keine Schwierigkeiten wegen der Arbeitsbedingungen?«

»Wir sprechen von Quinlanern, Bob. Sie können in der Wildnis überleben. Wenn irgendwer anfinge, die Deckarbeiter zu schlagen, würden sie alle sofort wegschwimmen. Oder dem Übeltäter auf der Stelle den Bauch aufschlitzen. Du weißt doch, wie sie sind.«

»Mmm. Guter Punkt. Sie sind streitlustig, nicht unbedingt sesshaft und können überall etwas zum Fressen und einen Schlafplatz finden.«

»Mhm-hmm. Unter diesen Umständen ist es wirklich schwer, jemanden auszubeuten.«

»Wie hoch ist die Bezahlung?«

»Ein halbes Eisenstück pro Tag. Wenn dir jemand weniger bietet, knurrst du ihn an und gehst weiter.«

»Verstanden. Danke.«

Das war besser gelaufen als erwartet. Da Hugh auf Anhieb einen Job bekommen hatte, rechnete ich zwar nicht mit Problemen, aber jeder Bob wusste, dass Murphy ein Mistkerl war.

Als ich, den Koffer über die Schulter geschlungen, den Fluss erreichte, ging ich zum Hafen. Dort waren drei Boote festgebunden, doch nur auf einem von ihnen war etwas los. Mehrere Paletten wurden abgeladen, und an Land stand Fracht, die nur darauf wartete, wieder an Bord geschafft zu werden. Dieses Boot kam mir am aussichtsreichsten vor, zumal die anderen beiden verwaist zu sein schienen.

Stirnrunzelnd betrachtete ich Letztere. Da sie einige Paletten und Ballen geladen hatten, erschien es mir besonders merkwürdig, dass sich niemand auf ihnen befand. Auf dem dritten wimmelte es dagegen nur so vor Deckarbeitern, die von einer Aufgabe zur nächsten hasteten. Als ich mich unter ihnen umsah, bemerkte ich, dass sie nicht die üblichen Rucksäcke trugen. Allerdings hatte eine von ihnen, die herumstand und fast genauso viele B eleidigungen wie Befehle rief, eine Weste mit Taschen an.

Sie sprach mich an. Offensichtlich war mir anzusehen, was ich dachte. »Ein Teil der Lieferung verspätet sich. Wir hatten Glück. Wir waren als Erste hier und haben den Frachtauftrag für alles bekommen, was bereits da war. Suchst du Arbeit?«

»Ja, das stimmt. Stellst du Leute ein?«

Sie deutete zu den Kisten auf dem Steg. »Dieser Fehg wird sich nicht selbst aufladen. Obwohl die Faulenzer, denen ich ohne jeden Grund Lohn zahle, es zu hoffen scheinen.«

Die Quinlaner, die das Boot entluden, reagierten mit halbherzigen Beleidigungen, und einer von ihnen machte eine Geste, die dem hochgereckten Mittelfinger entsprach. Das alles schien jedoch nicht böse gemeint zu sein.

»Du musst es nur sagen, und ich packe mit an.«

»Na, dann mach dich an die Arbeit.«

Das war einfacher gewesen, als ich erwartet hatte. Ich musste nicht extra fragen, wohin sie wollten. Abgesehen von ausschließlich regional verkehrenden Booten fuhren alle stromabwärts, was in diesem Flussabschnitt nach Osten und damit in Richtung Garacks Rücken bedeutete. »Kann ich meinen Koffer abstellen?«

Sie zeigte auf eine Ecke des Bootes, in Gedanken bereits beim nächsten Problem. Ich setzte den Koffer ab und nach kurzem Überlegen auch den Rucksack.

Als Deckarbeiter auf einem quinlanischen Boot brauchte man nicht viel Grips, nur einen kräftigen Rücken. Man hob hier eine Kiste hoch und stellte sie dort ab, und das wieder und wieder. Mein Manny war zwar viel stärker als ein echter Quinlaner und wurde nicht müde, aber er konnte heißlaufen. Daher wollte ich es nicht übertreiben. Allerdings war ich offenkundig nicht allein mit diesem Problem. Auch die restliche Mannschaft sprang in regelmäßigen Abständen ins Wasser, um sich abzukühlen.

Die Arbeiten wurden größtenteils schweigend erledigt. Niemand schützte Schwäche vor. Wir wollten alle nur fertig werden.

Als die letzten Kisten verladen war, setzten wir uns auf die Reling und schauten zu, wie die Quinlanerin mit der Weste, offenkundig die Kapitänin, mit dem Hafenmeister über den Papierkram diskutierte.

»Willkommen auf der Hurrikan «, sagte einer der Deckarbeiter. »Ich bin Oric. Das ist Ted, und die da drüben heißt Frieda.«

Überrascht schaute ich Frieda an. Nein, ganz eindeutig nicht dieselbe Person. Sie hatte nur den gleichen quinlanischen Namen, den die Übersetzungssoftware entsprechend wiedergab.

»Enoki« erwiderte ich. »Enoki Spaßvogel.«

Oric schaute mich verblüfft an. »Du hast einen Familiennamen? Wieso bist du dann Deckarbeiter?«

»Wir sind eine alte Familie«, erklärte ich ihm. »Aber wir waren nie reich. Meine Mutter sagte immer zu mir: Wir haben uns diesen Namen redlich verdient, und du wirst ihn verdammt noch mal tragen. Ja, Mom.«

Die anderen lachten, aber ich war mir nicht sicher, ob ich mir mit meiner Namenswahl einen Gefallen getan hatte. Ich hatte vergessen, dass Familiennamen bei den Quinlanern fast so etwas wie Adelstitel waren. Hatte ich mich damit zur Zielscheibe gemacht? Nun, jetzt gab es jedenfalls kein Zurück mehr.

»Wir haben auch einen zahlenden Passagier an Bord«, sagte Ted. »Er ist gerade shoppen. Kapitänin Lisa hat ihm gesagt, dass wir nur bis zum Mittag auf ihn warten werden. Er reizt es ganz schön aus.«

»Er hat auch einen Nachnamen«, fügte Frieda hinzu. »Das betont er immer wieder. Ich war schon ein paarmal kurz davor, ihm die Gurgel durchzuschneiden, aber die Kapitänin sagt, dass wir die zahlenden Passagiere höflich behandeln müssen.« Sie schnitt eine Grimasse.

Schließlich war Kapitänin Lisa damit fertig, auf den Hafenmeister einzureden, und die beiden unterschrieben die Dokumente. Dann marschierte sie die Rampe herauf und schaute sich um. »Ist Seine Hoheit immer noch nicht hier? Na gut. Er hat im Voraus bezahlt. Lasst uns durchstarten, Leute. Wir müssen vor Einbruch der Dunkelheit in Melonenfeld sein.«

Wir sprangen auf und begannen, die Leinen zu lösen und die Rampen einzuziehen. Es war nicht sonderlich kompliziert, aber ich achtete darauf, die Kommandos der anderen klaglos und exakt umzusetzen. Als wir gerade das Boot vom Steg abstoßen und die Segel setzen wollten, kam schnaufend ein massiger Quinlaner angelaufen. Er rief etwas und wedelte mit einem Arm. Mit dem anderen hielt er einen Koffer, der wie meiner aussah – allerdings viel neuer.

Quinlaner waren von Haus aus beleibt. In dieser Hinsicht ähnelten sie eher Bibern als Ottern. Doch dieser war besonders fett und seinem Keuchen nach zu urteilen auch schlecht in Form.

Die Kapitänin grummelte leise vor sich hin, bedeutete uns jedoch, eine der Rampen wieder auszufahren. Der Neuankömmling stellte sein Gepäck ab und stapfte, imme r noch japsend, zu uns herauf. Als er an der Kapitän vorbeiging, sagte er: »Irgendwer soll meinen Koffer holen.«

Die Kapitän schaute ihm säuerlich hinterher, ehe sie mich nach unten winkte.

Am liebsten hätte ich den Koffer wie zufällig ins Wasser fallen lassen, aber für solche Spielchen war ich nicht in der richtigen Position. Also brachte ich ihn stattdessen an Bord und stellte ihn zu den anderen Gepäckstücken, unter denen sich auch mein eigener Koffer befand. Währenddessen erteilte ich meiner Übersetzungssoftware genaue Anweisungen, wie sie seinen Namen wiedergeben sollte.

»Wer ist das?«, fragte ich Ted.

»Otto Ochsenfrosch. Seine Familie ist groß im Weingeschäft. Soweit ich es feststellen kann, ist er allerdings nur ein verwöhnter Schnösel.«

Bei dem Getränk, von dem Ted sprach, handelte es sich streng genommen natürlich nicht um Wein, doch es wurde aus irgendeiner fermentierten hiesigen Frucht hergestellt, und der Handel mit Alkohol war meistens profitabel. Mit rotznäsigen Angebern, die glaubten, sie selbst wären etwas Besonderes, weil ihre Eltern Erfolg hatten, kannte ich mich aus. Und so beschlich mich der Verdacht, dass diese Reise vielleicht doch schwieriger werden würde, als ich geglaubt hatte.

Da unser nerviger Passagier nun sicher an Bord war, legten wir ab. Ted und Frieda hissten das Segel, und wir wogten majestätisch aus dem Hafen. Die Hurrikan war im Grunde genommen ein Frachtkahn und pflügte entsprechend langsam durch die Wellen. Ich begann mich zu fragen, ob wir es bis zum Ende des Segments schaffen würden. Dabei fiel mir ein …

»Hey, Oric. Überquert die Hurrikan die Segmentgrenze?«

»Wenn wir genug Fracht haben, damit es sich lohnt. Ansonsten wechseln wir zum Arkadien über und kehren wieder zum anderen Ende des Segments zurück. Lisas Schiff gehört nicht zu den großen, die auf einer festgelegten Route unterwegs sind. Die Galway verlässt zum Beispiel nie diesen Abschnitt, sondern fährt immer nur im Kreis die Flüsse rauf und runter. Das ist gar kein schlechtes Leben. Wenn du ins nächste Segment willst, kannst du in Hoher Gipfel aussteigen. Normalerweise kommt dort spätestens alle zwei Tage ein Boot durch. Die Hamilton überquert zum Beispiel die Segmentgrenzen – ich glaube, manchmal durchfahren sie sogar drei oder vier Abschnitte. Je nachdem, was sie geladen haben.«

»Haben die Abschnitte hier Namen?«

Oric schüttelte den Kopf. »Das bringt Unglück. Wenn man seinem Abschnitt einen Namen gibt, fängt man an, sich damit zu identifizieren, fast so, als wäre er eine Nation. Früher oder später spricht man dann über Grenzen und Armeen, und schon wird man zur Strafe verstreut.«

Frieda, die mit den Segeln fertig war, kehrte zu uns zurück. »Es ist keine Strafe, sondern …«

»Ja, Frieda, ich weiß, wie du darüber denkst, aber es steht uns nicht zu, den Willen der Verwaltung infrage zu stellen.«

»Ich stelle die Verwaltung nicht infrage, Oric, ich spreche nur darüber, was sie antreibt. Und das macht durchaus einen Unterschied. Strafen eskalieren, Hilfestellungen nicht.«

Mittschiffs ertönte ein Schnauben. »Ihr Landeier und eure Legenden über Götter und Dämonen. Ich lach mich tot.«

Frieda sah Otto durchdringend an, was seinen hochmütigen Gesichtsausdruck kein bisschen ins Wanken brachte. »Legenden? Hast du sie nicht mehr alle? Die Verwaltung ist genauso real wie das Wetter. Oder hältst du den Regen etwa auch für einen Mythos?«

»Natürlich ist sie real. Sie lässt das Gras wachsen. Hebt die kleinen Vögel in die Luft und sorgt dafür, dass am Morgen die Sonne aufgeht.«

Ich starrte ihn ungläubig an. Anscheinend glaubte dieser Witzbold tatsächlich, Himmelsfluss wäre eine natürliche Welt. Als ich den Mund öffnete, um ihn auf seinen Fehler hinzuweisen, wurde mir die Ironie der Situation bewusst. Wollte ich allen Ernstes einem Atheisten erklären, dass Gott tatsächlich existierte? Ich unterdrückte wieder mal den Drang, mir mit der flachen Hand an die Stirn zu schlagen, und überließ den Einheimischen das Feld.

Oric und Frieda bildeten eine Allianz gegen Ottos amüsierte Uneinsichtigkeit. Er war ein klassisches Beispiel für den Dunning-Kruger-Effekt – so stur und selbstsicher in seiner Ignoranz, dass er gar nicht merkte, wie viel er nicht wusste. Ich blendete ihre Diskussion aus und beobachtete die vorüberziehende Küste. Die Tage im Fluss mit meinen Freunden waren sehr schön gewesen, aber das Matrosenleben hatte auch einiges für sich.

Schließlich uferte die Debatte derartig aus, dass die Kapitänin auf die Streithähne aufmerksam wurde. »Es reicht!«, rief sie. »Die Decks müssen geschrubbt werden, die Bilge ist nicht ausgepumpt, und die Fracht ist auch noch nicht zugedeckt. Außerdem hat noch keiner den Spinnaker gehisst. Macht euch nützlich!«

Schlagartig herrschte Ruhe. Was Otto, seiner zufriedenen Miene nach zu urteilen, als Sieg für sich verbuchte.

Während der nächsten Tage passierte nicht viel. Wir gerieten in einen kurzen Schauer, über den sich Otto lauthals beschwerte. Ich verstand nicht, wieso ein Geschöpf, das für ein Leben im Wasser geschaffen war, den Regen so sehr hasste. Andererseits hatte ich als ein Kind einen Hund gehabt, der mit Begeisterung in sämtlichen Tümpeln und Bächen in unserer Nachbarschaft geschwommen war, sich aber jedes Mal totgestellt hatte, wenn wir ihn baden wollten. Aus dem war ich auch nie schlau geworden.

Ich ging Otto weiterhin aus dem Weg. Er schien seine ganze Aufmerksamkeit auf die anderen drei zu richten. Oric und Frieda ignorierten ihre kleinen dogmatischen Differenzen und verbündeten sich gegen den Ungläubigen.

Darüber würde ich mit Bridget sprechen müssen. Anscheinend rankte sich um die Verwaltung eine regelrechte Religion mit einander widersprechenden Glaubenslehren. Auf der anderen Seite stand eine Art Atheismus, der nicht auf wissenschaftlichen Überzeugungen, sond ern auf schlichter Verweigerungshaltung basierte. Ich fragte mich, wie Otto sich den Weltraum vorstellte, war aber nicht neugierig genug, dass ich deswegen ein Gespräch mit ihm anfangen wollte.

Wir legten in einer Stadt an, die laut Ted Beetlejuice hieß. Nein, ich mache keine Witze und hatte auch nicht am Übersetzungsprogramm herumgefummelt. Es stellte sich heraus, dass in der Stadt ein Schnaps hergestellt wurde, der aus den Ausscheidungen irgendeines Insekts bestand. Zuerst einmal: Igitt! Zweitens fragte ich mich erneut, ob sich bei der Namensvergabe irgendwer einen Spaß erlaubt hatte – entweder die Skippys oder die Software selbst. Ich beschloss, den Stadtnamen unverändert zu lassen und ihn auch dem Getränk zuzuweisen.

Beetlejuice war die letzte Stadt am Nirwana vor dem Grenzgebirge. Die Kapitänin wollte im Lauf der nächsten zwei Tage entscheiden, ob wir weiter flussabwärts fahren oder den Zubringer zum Parallelfluss nehmen und zurückkehren würden. Viel würde davon abhängen, welche Fracht wir bekamen und wo diese am meisten einbrachte.

Es spielte auch eine Rolle, ob zahlende Passagiere zustiegen, die der Kapitänin Geld gaben, um zu einem bestimmten Ziel gebracht zu werden. Ich fragte mich, wohin Otto wollte. Wenn wir nicht in seiner Richtung unterwegs waren, mussten wir uns in Beetlejuice von ihm verabschieden. Ich versuchte, bei dieser Vorstellung eine Träne zu vergießen. Vergeblich.

Während wir uns dem Hafen näherten, sah ich, dass dort einiges los war, das nichts mit dem normalen Frachtbetrieb zu tun zu haben schien. Vier oder fünf Frachtschiffe waren am Steg vertäut. Ihre Besatzungen stritten sich laut mit offiziell aussehenden Personen, die Schärpen und Schwerter trugen.

Mir wurde flau im Magen. Ich konnte mir zwar kaum vorstellen, dass dieser Trubel irgendetwas mit mir zu tun hatte, doch mittlerweile wurde ich sofort nervös wie ein zweitklassiger Dieb, wenn ich Polizisten sah.

Kapitänin Lisa flitzte an Deck herum und rief uns Befehle zu, während wir die Hurrikan in eine enge Lücke am Steg zu manövrieren versuchten. Gleichzeitig brüllte sie ein paar Hafenarbeiter an, was die allgemeine Laune weiter steigerte. Doch schließlich war auch unser Schiff eingeparkt und ordentlich vertäut.

Ted und ich fuhren die Landeplanke aus. Noch ehe sie richtig auf dem Steg lag, marschierte schon eine Delegation Polizisten zu uns herüber. Kapitänin Lisa stellte sich ihnen in den Weg.

»Wir suchen nach einem flüchtigen Verbrecher, der möglicherweise flussabwärts reist«, sagte der vorderste Wachtmeister, »und müssen deshalb euer Schiff inspizieren.«

»Was, unsere gesamte Fracht? Willst du mich etwa auf den Arm nehmen? Hast du eine Ahnung, wie lange das dauern wird?«

Der Wachtmeister schüttelte den Kopf. »Nein, nein, wir halten nach einer ganz bestimmten Person Ausschau, die etwas in ihrem Rucksack transportiert, das wie eine Begräbniskiste aussieht.«

Oh, oh. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass es in einer eine Milliarde Meilen langen Megastruktur zwei Flüchtlinge gab, auf die diese Beschreibung zutraf? Vermutlich ziemlich gering. Ich spannte mich an und begann, nach Fluchtwegen zu suchen. Doch dann fiel mir wieder ein, dass ich gar nicht mehr wie Bob aussah und gegenwärtig auch keinen Rucksack trug.

»Wir müssen auch die persönlichen Gepäckstücke untersuchen.«

Oh, Mist.

»Das werdet ihr auf keinen Fall tun!« Otto marschierte mit vorgereckter Brust auf die Polizisten zu.

Der Polizist starrte ihn an und legte die Hand auf seinen Schwertknauf. »Und wer bist du?«

»Ich heiße Otto Ochsenfrosch. Du hast doch sicher schon von der Familie Ochsenfrosch gehört und unseren Wein bei vielen Gelegenheiten getrunken. Wir können sehr ungemütlich werden, wenn unser Name verunglimpft wird.«

Der Polizist wirkte verblüfft. Zu Auseinandersetzungen mit mächtigen Familien fühlte er sich zweifellos nicht befugt. Schließlich erwiderte er: »Ja, mein Herr, ich verstehe. Du bist natürlich über jeden Verdacht erhaben. Wo befindet sich dein Gepäck?«

Otto deutete vage auf den Kofferstapel. »Sieh zu, dass es nicht angerührt wird.«

Als ich in die von Otto gewiesene Richtung blickte, kam mir eine Idee. So beiläufig wie möglich ging ich zu der Plane, die unsere Koffer sowie ein paar andere kleine Gegenstände bedeckte, und löste die Verschnürung. Während ich die Plane zusammenraffte, wischte ich verstohlen mein Gepäckstück ab. Danach sah es zwar immer noch abgenutzter als Ottos Koffer aus, aber nicht sehr.

Den Polizisten schien meine Kooperationsbereitschaft zu gefallen. Sie kamen herüber und begannen, den Haufen zu inspizieren.

»Das hier ist Herrn Ochsenfroschs Gepäck«, sagte ich und zeigte auf die beiden Koffer. »Der Rest ist nur Fracht.«

Einer der beiden Polizisten nickte mir zu. Während der andere anfing, aufs Geratewohl Kisten zu öffnen, fragte er: »Wie viele Personen befinden sich an Bord?«

Ich deutete nacheinander auf meine Mitreisenden. »Kapitänin Lisa, Ted, Frieda, Oric, ich selbst und Herr Ochsenfrosch. Wir sind alle an Deck.«

»Keiner von ihnen entspricht der Beschreibung«, sagte der andere Polizist und zeigte auf die Kisten. »Und das hier ist nur Gerümpel.«

»Ich bin mir sicher, dass die Kapitänin das anders sieht«, erwiderte ich mit einem angedeuteten Lächeln.

Der Polizist schnaubte und ging zur Landeplanke zurück. Der andere sah den leitenden Wachtmeister an und schüttelte den Kopf.

Nach einer abschließenden Diskussion mit Kapitänin Lisa marschierten sie von Bord.

Ich stieß den Atem aus und breitete wieder die Plane über den Haufen. Nachdem ich die letzte Schleife festgezurrt hatte, richtete ich mich auf und sah, dass Otto mich mit gerunzelter Stirn beobachtete. Ich zog noch einmal an der Plane und machte mich so lässig wie möglich an meine nächste Aufgabe.

Da mir jegliche Form von Aufmerksamkeit sehr ungelegen kam, würde ich Seine Wichtigkeit gut im Auge behalten müssen.

Schließlich stellte sich heraus, dass wir in den nächsten Abschnitt weiterfahren würden. Zwei Passagiere stiegen zu, die dorthin wollten, und die Kapitänin schloss einen Subunternehmervertrag für eine Lieferung nach Obsthügel ab, das gleich hinter den Bergen lag. Solche Aufträge waren zwar nicht so einträglich wie Frachtlieferungen auf eigene Rechnung, aber dafür vollkommen gefahrlos. Die zahlenden Passagiere waren dabei nur ein Bonus.

Bei den beiden handelte es sich um eine betagte Quinlanerin und ihre Enkeltochter, die zu ihrer Familie heimkehrten. Theresa war viel zu alt, um aus eigener Kraft längere Strecken zurückzulegen. Daher war Belinda mehrere hundert Meilen flussaufwärts geschwommen, um sie nach Hause zu holen.

Da die Quinlaner ihren Senioren mit großem Respekt begegneten, erhob die Kapitänin keine Einwände, als wir Theresa ein gemütliches Plätzchen in der Sonne zuwiesen. Nicht einmal Otto schien etwas dagegen zu haben.

Belinda, die ganz vernarrt in ihre Großmutter zu sein schien, machte keinen sehr gesprächigen Eindruck. Sie war zwar freundlich, kommunizierte aber fast ausschließlich mit Gesten und Grunzlauten. Und wenn sie gelegentlich doch ganze Sätze formulieren musste, schien sie beinahe außer Übung zu sein. Ich erinnerte mich an Bridgets Theorie über das Wegzüchten von Intelligenz und fragte mich, ob Belinda möglicherweise ein Beispiel für diese Entwicklung war. Aber vielleicht redete sie auch einfach nicht gerne.

Sobald die beiden gut untergebracht waren, fingen wir an, hektisch herumzurennen, wie wir es jedes Mal taten, wenn wir aus einem Hafen ausliefen. Da die Fracht, die wir in Beetlejuice an Bord genommen hatten (größtenteils handelte es sich um den einheimischen Insektenschnaps), die Hurrikan stärker als sonst schlingern ließ, bemühten wir uns um eine möglichst konservative und stabile Trimmung.

Sobald sich das Boot in gehörigem Abstand vom Ufer befand, machten wir Mittagspause. Ich sprang mit den anderen Besatzungsmitgliedern ins Wasser und jagte ein paar saftige Fische. Lecker. Da wir so dicht aufeinander hockten, musste ich mich leider dabei sehen lassen, wie ich schlief und aß. Und so ernährte ich mich von früh bis spät von Fisch … Ich nahm mir vor, nie wieder einen anzurühren, sobald ich Bender gerettet hatte.

Für die Kapitänin und die Passagiere holten wir ebenfalls welche an Bord. Ich setzte mich zu Theresa und Belinda und ignorierte Otto, der die Fische verschlang, als hätte er seit Wochen nichts mehr zu essen bekommen. Die Paven hätten seine Tischmanieren gutgeheißen. Meine Mutter eher nicht.

Belinda entfernte schweigend die weniger schmackhaften Körperteile der Fische mit einem kleinen, aber zweifellos teuren Messer, und reichte die verbliebenen Filetstücke ihrer Großmutter, die sie mit einem Lächeln entgegennahm.

»Belinda redet nicht viel«, sagte Theresa zu mir. »Ich habe gesehen, dass du ein Gespräch mit ihr beginnen wolltest.« Sie strich ihrer Enkeltochter liebevoll über den Kopf. »Ich habe den Eindruck, dass die Kinder immer einsilbiger werden.«

»Eine Freundin von mir meint, dass Intelligenz in Himmelsfluss keine große Rolle spielt und sich von Generation zu Generation immer weiter zurückentwickelt.«

»Auf Betreiben der Verwaltung? Ich kenne die Theorie. Es ist zwar nicht auszuschließen, aber die Manipulationen müssten sehr subtil …«

»Ach, im Namen des Vaters, noch mehr rückständiger Aberglauben«, sagte Otto. »Bewahrt mich vor den Ungebildeten.«

Theresa bedachte ihn mit seinem nachsichtigen Blick. »Und was ist dein Bildungshintergrund, Herr Ochsenfrosch?«

»Ich habe an der Universität von Pfirsichland den Magister in Wirtschaftswissenschaften gemacht«, entgegnete er großspurig. Neugierig checkte ich die Übersetzung. Obwohl sie dicht am Original war, bezweifelte ich, dass ein quinlanischer Magister das Gleiche war wie ein menschlicher Universitätsabschluss.

»Und du hast in Pfirsichland Seminare besucht?«, fragte Theresa.

»Natürlich.«

»Ich habe in Pfirsichland gelehrt , Herr Ochsenfrosch. Sprich also nicht so abfällig mit mir. Ich halte mehrere Doktortitel, und zwar in Fächern, die relevanter sind als der Studiengang Geldzählen leicht gemacht für Leute, die mit einem silbernen Löffel im Mund geboren werden.«

Donnerwetter. Otto zuckte zurück, und seine Schnurrhaare sahen aus, als würden sie Funken sprühen. Obwohl ich ihn nicht ausstehen konnte, hielt ich es für besser, meine Freude über sein Unbehagen für mich zu behalten. Und so setzte ich eine steinerne Miene auf, während er sich steifbeinig erhob.

»Die waren sicher sehr nützlich, bevor du senil wurdest«, erwiderte er mit gebleckten Eckzähnen.

Belinda drehte sich fauchend zu ihm um und fuhr die Krallen aus. Erschrocken über ihre Reaktion tat Otto einen Satz nach hinten.

»Du bist ein kleiner Mann mit einer verschrumpelten Seele, Herr Ochsenfrosch«, sagte Theresa. »Es gibt keine größere Verschwendung als eine akademische Ausbildung für jemanden, der nichts damit anzufangen weiß. Es muss schlimm sein, niemals aus dem Schatten seines Vaters heraustreten zu können.«

Otto starrte sie einen Moment lang sprachlos an, dann ging er davon.

»Das ist ja richtig gut gelaufen«, sagte ich.

Theresa kicherte. »Und was ist mit dir, Herr Spaßvogel? Du hast auch einen Nachnamen. Wirst du ihm gerecht?«

»Nicht wirklich. Meine Familie hat ihn sich vor langer Zeit verdient. Inzwischen dient er nur noch dazu, mich vor Leuten wie Otto zu bewahren.«

»Glaubst du, wie Herr Ochsenfrosch es offensichtlich tut, dass diese Welt natürlich entstanden ist?«

»Natürlich nicht«, entgegnete ich. »Sie ist eine rotierende Struktur mit einem Radius von hundert Henn , zusammengesetzt aus zahlreichen Segmenten, die jeweils tausend Henn lang sind. Diese Größenverhältnisse sind eindeutig künstlich geschaffen. Das Experiment, mit dem man die Rotationsperiode bestimmt, haben wir im ersten Semester durchgeführt. Sie dreht sich exakt in der Geschwindigkeit, die man benötigt, um 0,86 G zu erzeugen.« Meine wissenschaftlichen Kenntnisse zur Schau zu stellen war zwar riskant, aber ich wollte mir Theresas Achtung verdienen. Nicht nur, weil sie überaus intelligent zu sein schien, sondern auch, weil ich etwas von ihr zu lernen hoffte. Vielleicht würde sie der erste wirklich nützliche Kontakt seit unserer Ankunft in Himmelsfluss sein.

Sie nickte bedächtig. »Ah. Bist du ein Ingenieur? Diesen Beruf stelle ich mir unbefriedigend vor. Zu wissen, dass so vieles, was du tun könntest, verboten ist.«

»Und was hast du gelehrt, Theresa?«

»Philosophie, Mathematik und Geschichte.« Sie lächelte traurig. »Letzteres ist besonders frustrierend. Ich habe zeit meines Lebens mitansehen müssen, wie die Leute die quinlanische Geschichte vergessen und sich stattdessen irgendwelche Mythen zusammenzimmern. Sie glauben, die Verwaltung wäre eine Art übernatürliche Gottheit.«

Bingo. Vielleicht würde ich nun endlich etwas über die Geschichte von Himmelsfluss erfahren. »Und was ist die Verwaltung deiner …«

Die Stimme der Kapitänin schnitt mir das Wort ab. »Also gut, ihr Faulpelze. Diese Wanne steuert sich nicht von selbst. Wollt ihr das ganze Durcheinander auf dem Deck etwa ewig liegen lassen? Bezahle ich euch dafür, dass ihr euch in der Sonne fläzt? Los, los!«

Ich seufzte. Damit war die zehnminütige Mittagspause zu Ende.

Am nächsten Tag sprachen wir über das Leben nach dem Tod. Es überraschte mich nicht, dass Orics und Friedas Ansichten zu diesem Thema eher mystisch geprägt waren. Theresa war zu freundlich, um sie zu verspotten, aber sie stellte ein paar Fragen, welche die beiden nur schwer beantworten konnten. Während Oric und Frieda gemeinsam um Argumente rangen, wandte sie sich an mich. »Warum so schweigsam, Enoki? Hast du nichts dazu zu sagen?«

Ich lachte leise. »Ich wüsste nicht, was. Zuerst müsste man definieren, was du unter einem Leben nach dem Tod verstehst.«

»Ist das nicht selbsterklärend?«

»Wenn du die übernatürliche Vorstellung meinst, natürlich schon. Aber wie wäre es mit einer, äh, wissenschaftlich fundierteren Version?« Ich setzte zu einer stark vereinfachten Erklärung der Replikation an. Als ich damit fertig war, schauten Oric und Frieda mich verdattert und entsetzt an.

»Das ist nicht das Gleiche«, rief Frieda aus. »Das wäre nur eine Kopie von dir.«

Theresa lachte. »Allen anderen wäre das wahrscheinlich egal. Wenn eine Kopie von mir gern mit meinen Enkeln Fangen spielen und von allen die Geburtstage im Kopf behalten würde, wie könnte man dann feststellen, dass sie nicht mein ursprüngliches Ich ist?«

»Aber das wäre sie nicht!«

»In der Informationstheorie gibt es ein Axiom, das besagt, dass keine Information zerstört werden kann«, sagte ich langsam. Ich wusste, dass ich mich damit ziemlich weit aus dem Fenster lehnte. Das war vielleicht mehr, als die Quinlaner noch an Wissen bewahrt hatten. »Und in der Philosophie spricht man vom ähnlichsten Fortsetzer, der nach Meinung vieler tatsächlich du wäre. Selbst wenn es eine Lücke gäbe.«

Theresa schaute mich eigenartig an. »Mir ist klar, was in diesem Zusammenhang mit der ähnlichste Fortsetzer gemeint ist, aber ich würde gerne mehr über dieses informationstheoretische Axiom erfahren.«

Die anderen stöhnten. Anscheinend war höhere Physik kein sehr beliebtes Gesprächsthema.

Ich befand mich gerade in meiner VR -Bibliothek und studierte ein paar Blaupausen von Himmelsfluss, die aus Scans der Skippys und Gamer erstellt worden waren, als die KMI meines Mannys mich alarmierte.

Wächterroamer meldet Störung.

Das bedeutete, dass sich irgendwer oder irgendwas an meinem Koffer zu schaffen machte. Ich kehrte sofort in meinen Manny zurück und stand leise auf. Es war mitten in der Nacht, und Ted hielt Wache. Das künstliche Sternenlicht genügte, um das Ufer sehen zu können, wenn wir ihm zu nahe kamen. Doch normalerweise hatten wir damit kein Problem, da die Strömung und der Wind das Boot in der Mitte des Flusses hielten. Ted würde uns aufwecken, falls wir schnell den Kurs anpassen mussten.

Am Bug und am Heck waren jeweils Laternen montiert. Ihr Licht reichte aus, um andere Boote auf unsere Position aufmerksam zu machen, war jedoch nicht so hell, dass es die Nachtsicht der Besatzung beeinträchtigt hätte. Für meine Manny-Augen spielte das ohnehin keine Rolle.

Jemand hatte die Plane zurückgezogen und beugte sich über die Koffer. Jemand mit einer – sagen wir mal – extra breiten Silhouette. Ich schlich mich von hinten an Otto ran und flüsterte: »Er ist verschlossen, Arschloch.«

Er zuckte zusammen und fuhr zu mir herum. »Offenbar sehr gut verschlossen. Besser als meiner. Und er scheint auch genauso hochwertig zu sein.«

Ha. Er hatte gerade offen zugegeben, dass er meinen Koffer aufzubrechen versuchte. Ich war auf die Pointe gespannt. »Hat diese Aktion einen tieferen Sinn, Otto? Oder bist du nur ein Dieb?«

Er feixte mich an. »Na ja, Enoki , als wir in Beetlejuice anlegten, habe ich dich zufällig beobachtet. Wie du sie daran gehindert hast, dein Gepäck zu inspizieren, war sehr beeindruckend.«

Ich runzelte die Stirn. »Warum? Sie haben doch keinen der beiden Koffer untersucht.«

»Aber ich habe ihnen befohlen, meinen in Ruhe zu lassen. Und du hast sie glauben lassen, ich hätte zwei Koffer.«

»Ich habe sie bloß abgedeckt. Die Polizisten sind davon ausgegangen, dass beide dir gehören. Hätte ich sie etwa darum bitten sollen, meinen Koffer zu öffnen? Das hast du doch auch nicht getan.«

»Sehr schlagfertig, Enoki. Weißt du was, wieso lässt du mich nicht einen Blick in deinen Koffer werfen, wenn du so unschuldig bist?«

»Du zuerst.«

»Mein Koffer«, brauste er auf, »ist über jeden Verdacht erhaben.«

»Genau wie meiner, Blödmann. Du wolltest mein Eigentum aufknacken. Das gibt mir das Recht, es zu verteidigen. Also hör mir gut zu.« Ich trat so dicht an ihn heran, dass unsere Schnäbel sich fast berührten. »Wenn ich dich noch einmal bei so etwas erwische, werde ich dir den Kopf abreißen und in den Hals scheißen. Haben wir uns verstanden?«

Otto trat zurück. Mit so viel Gewaltbereitschaft hatte er nicht gerechnet. »Ich werde der Kapitänin erzählen, dass du mich bedroht hast …«

»Und ich werde ihr erzählen, dass du ein Dieb bist. Wen von uns beiden wird sie dann wohl über Bord werfen?«

Er starrte mich ein paar Sekunden lang an. Dann drehte er sich um und stolzierte davon.

Doch ich wusste, dass diese Angelegenheit damit noch nicht ausgestanden war.